1-2023
1-2022
1-2021
1-2020
2-2019
1-2019
1-2017
1-2016
2-2015
1-2015
2-2014
1-2014
1-2013
1-2012
1-2011
3-2010
2-2010
1-2010
2-2009
1-2009
2-2008
1-2008
1-2007


Sie befinden sich hier: Ausgaben » 1-2018 » fg-1-2018_04

 

Der wiederkehrende Abschied von der Machbarkeit

Annette Tretzel
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 23 (2018), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Die existenzielle Krise des unerfüllten Kinderwunsches wird vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Ideologie der medizinischen Machbarkeit und einer zunehmenden Zuschreibung von individueller Selbstverantwortung beleuchtet. Dadurch werden Gefühle individuellen Versagens bei den Betroffenen verstärkt.

Schüsselwörter: Unerfüllter Kinderwunsch, Reproduktionsmedizin, Selbstverantwortung, medizinische Machbarkeit, späte Mutterschaft, psychosoziale Beratung

Summary

The recurring farewell from feasibility
The sustained crisis of infertility is analysed in the context of societal ideology of medical-technical feasibility and an increasing attribution of individual responsibility. Thus, individual feelings of failure are reinforced.

Keywords: infertility, reproductive medicine, personal responsibility, medical-technical feasibility, late motherhood, counselling

 

1. Wenn das Gewünschte (noch) nicht ist: Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch

Als das Paar K. den Beratungsraum betritt, wird mir als Beraterin schnell deutlich, dass beide sehr belastet sind. Ihre Gesichter sind ernst. Die Frau ist 39 und der Mann ist 40 Jahre alt. Sie sind seit 8 Jahren ein Paar. Beide schildern - was sie schon als Grund für ihre Anmeldung angegeben hatten - dass es sie sehr belaste, dass sich ihr Wunsch nach einem eigenen Kind seit 3 Jahren nicht erfüllt habe. Nun sei sie Ende Dreißig und die Panik würde immer mehr zunehmen, dass es gar nicht mehr klappen könnte. Beide wünschen sich eine eigene Familie und für die Frau sei es immer außer Frage gewesen, dass Kinder zu ihrem Leben dazugehören würden. Nach einer längeren Ausbildung der Frau und einigen Jahren beruflicher Tätigkeit, um den Anschluss ans Berufsleben zu sichern, habe das Paar sich entschlossen, die Verhütung wegzulassen, um Kinder zu bekommen. Es sei ein großer Schock gewesen festzustellen, dass sie nicht einfach schwanger würde, wie andere Freundinnen und Frauen in ihrem Umfeld. Es gäbe nicht mal eine eindeutige medizinische Diagnose, die erklärt hätte, warum es bisher nicht geklappt habe.

2. Lösungsangebote der Medizin

Die Frau erzählt, dass ihre Gynäkologin sie schon nach einem Jahr zur weiteren Abklärung in ein reproduktionsmedizinisches Zentrum geschickt hätte, wohin sie jedoch zunächst nicht gegangen sei. Sie wollten sich nicht gleich in eine "solche Maschinerie begeben und verunsichert werden". Sie war überzeugt: "Wenn man entspannt damit umgeht, dann klappt das auch". Schließlich seien sie beide nie ernsthaft krank gewesen, ihre Periode kam auch immer ganz regelmäßig und die Gynäkologin hätte bisher keine Probleme festgestellt. Nach einem weiteren Jahr hätten sie sich dann doch in ein derartiges Zentrum begeben und es wären diverse Untersuchungen gemacht worden. Ein eindeutiger Grund für die bisher ausbleibende Schwangerschaft wäre jedoch nicht gefunden worden: Das Spermiogramm sei minimal eingeschränkt und die Hormonwerte der Frau nicht ganz optimal, weswegen sie jetzt zusätzlich Hormone einnehmen würde. Dies seien jedoch alles keine plausiblen Gründe, die das bisherige Ausbleiben der Schwangerschaft erklären würden.

3. Individuelle Wertvorstellungen und ihre Veränderung

In weiterer Folge wären ihnen 3 Inseminationen1 empfohlen worden, die sie schließlich auch durchführen ließen. Doch auch diese hätten nicht zur gewünschten Schwangerschaft geführt. Nun habe der Reproduktionsmediziner ihnen dringend geraten, weitere Schritte zu unternehmen und nicht mehr so lange zu warten. Denn schließlich sei die Frau schon Ende dreißig und die Fruchtbarkeit würde kontinuierlich abnehmen. Dem Paar sei eine ISCI2 empfohlen worden. Früher hätten sie immer gesagt, dass sie derartige invasive Methoden nie machen würden. Das sei doch ein Eingriff in die Natur. Bei einem befreundeten Paar hätten sie das gar nicht gut geheißen und nun wären sie selber an dem Punkt, es zu tun.

4. Lösungsangebote und ihr Scheitern

An diesem Punkt ihres Berichts bricht die Frau in Tränen aus und schildert ihre seit 3 Jahren zunehmend verzweifelte Situation. Sie beschreibt eine Achterbahn der Gefühle zwischen Hoffen, Bangen und dann der monatlichen Enttäuschung, die insbesondere sie als zunehmend lähmend erlebe. Aber auch ihr Mann bestätigt, dass ihnen beiden die Freude an Dingen, die früher schön waren, immer mehr verloren gehen würden. Im familiären Umfeld und bei Freunden würden sie sich nicht wahrgenommen und verstanden fühlen. Auf Familienfesten gehe es immer nur um den Nachwuchs und Fragen wie "wann ist es endlich bei euch soweit?" würde das Paar aus dem Weg zu gehen versuchen. Mit der Folge, dass sie sich immer mehr zurückziehen würden. Es sei unerträglich, sich dieser gefühlten Kränkung und der Scham auch noch im Zusammensein mit anderen auszusetzen. Vielmehr würden sie ihre Bekannten und z.T. auch ihre Freunde als wenig verständnisvoll, ja z.T. rücksichtslos erleben. Aus Angst vor gutgemeinten Ratschlägen würden sie über ihre Verzweiflung gar nicht mehr sprechen. Beide äußerten, dass ihnen jegliche Perspektive fehle, ihre Lebensplanung scheine ihnen wie zusammengebrochen, sollte sich der Kinderwunsch nicht erfüllen.

5. Individuelle Krise ohne soziales Mitgefühl

Die Erfahrung aus der Beratungsarbeit zeigt - wie es auch in der Literatur immer wieder beschrieben wird (vgl. u.a. Wallraff et. al., 2015; Weidinger-von der Recke, 2015; Wischmann & Stammer, 2016) - dass die Nichterfüllung dieses existentiellen Wunsches viele Menschen in eine massive Krise stürzt. Es kommt oft zu einem tiefen Gefühl der Leere und Verzweiflung, zu psychovegetativen Erschöpfungszuständen und depressiven Verstimmungen, Zustände, die diese Menschen vorher nicht an sich kannten. Viele kinderlose Menschen erleben sich als vom Leben oder vom eigenen Körper betrogen und immer wieder taucht die Frage auf: "Warum gerade ich?" Gleichzeitig stoßen Betroffene in dieser Situation oft auf wenig Verständnis in ihrem sozialen Umfeld. Eine Einfühlung fällt Nicht-Betroffenen oft schwer. Die Trauer über eine "nur" imaginierte Person oder einen Lebensentwurf ist schwer nachvollziehbar. Diese fehlende empathische Resonanz macht es für viele noch schwerer, ihre Trauer, die sie noch dazu als eigenes Versagen erleben, nach außen zu tragen. Dies führt zusätzlich zu sozialer Isolation.

6. Das Nichterreichen als persönliche Verantwortung

In dieser verzweifelten Situation werden Menschen mit den Möglichkeiten moderner Reproduktionstechnologie konfrontiert, die vielen schon zum Wunschkind verholfen hat. Gleichzeitig birgt auch diese Technologie keine Garantie auf den gewünschten Erfolg. Die implizite medizinische Machbarkeitsideologie lässt jedoch ein Versagen nicht mehr als Schicksal oder unkontrollierbare Situation erscheinen, vielmehr fühlt sich die/der Einzelne in die Verantwortung genommen. Das "Scheitern" als Nichterreichen wird zum "individuellen Versagen", zum individuellen Scheitern. Das soziale Leitbild einer "Verantwortungsgesellschaft" bzw. "self-made Gesellschaft" hat als Orientierung für das "richtige Leben" den selbstbestimmten Menschen, der selbstverantwortlich und mit größtmöglicher Eigeninitiative sein Leben gestaltet. Eine für viele Menschen positive und sinnhafte Haltung, da sie ihnen bisher dazu verhalf, die Hürden ihrer beruflichen Laufbahn und ihrer Lebensplanung zu meistern und zu erreichen, was sie wollten. Zielstrebig und tatkräftig. Diesen Menschen fällt es besonders schwer zu akzeptieren, dass es Dinge gibt im Leben, die nicht auf diesem Wege sicher erreichbar sind. Dieses "Versagen" wird dann zur individuellen Schuld, für die sich Menschen zur Rechenschaft gezogen fühlen und oft auch direkt oder indirekt von ihrem Umfeld gezogen werden (vgl. Tretzel, in: Kleinschmidt et. al., 2008). Wenn Frau K. anderen von ihrer Verzweiflung erzählt hat, dass es bisher nicht mit dem Kinderwunsch geklappt hat, dann hat sie oftmals gehört, dass sie es doch mit der Reproduktionsmedizin versuchen solle, das würde dann sicher gehen. Falls sich Menschen - aus welchen persönlichen Gründen auch immer - gegen die Möglichkeiten der Medizin entscheiden, dann gibt es oft wenig Verständnis für den Trauerprozess. Vielmehr mag eine solche Entscheidung als "rückständig" bewertet werden (vgl. Kurmann, 2011). Psychologische Erklärungen dafür, dass sich der Kinderwunsch nicht erfüllt, ein Gedankengut, das lange Jahre weit verbreitet und überall vertreten wurde, verstärken den individuellen Druck, selbst dazu beizutragen, dass sich der Wunsch nicht erfüllt. Veränderungsansätze bestehen dann darin, an der eigenen unbewussten Abwehr des Kinderwunsches oder an einer konflikthaften Beziehung zur eigenen Mutter zu arbeiten oder die schwierige Aufgabe zu erfüllen, völlig gelassen mit den Belastungen umzugehen (vgl. u.a. Auhagen-Stephanos, 2000). Zum Glück wurde dieser stark pathologieorientierte Blick schon vor mehr als 10 Jahren empirisch widerlegt (vgl. u.a. Wischmann & Stammer, 2001).

7. Der Körper als steuerbare Maschine

Die Ideologie der Selbstverantwortung geht einher mit Vorstellungen vom eigenen Körper als einer Art Maschine, deren Einzelteile beliebig optimierbar sind (vgl. Kamper et.al., 1984). Es können Teile ausgetauscht werden (Transplantation), poliert werden (Liften) und körperliche Regelkreise verändert und außer Kraft gesetzt werden (Hormone). In diesem Denkmuster mündet der Umgang mit der Hilflosigkeit in einen Aktionismus, in dem die Frau zum Fruchtbarkeitsschmied ihres eigenen Körpers wird. Dann werden Ernährung, Bewegung etc. weit über ein sinnvolles Maß hinaus kontrolliert und modelliert, weniger unter der Prämisse, was tut mir und meinem Körper gerade gut, als vielmehr, was sollte man idealerweise alles tun. Denn wenn ein Mensch etwas wirklich will, dann sollte er auch alles dafür tun. Die Vielfalt, der sich z.T. widersprechenden Empfehlungen tut ihr weiteres, die verunsicherten Menschen hilflos zurückzulassen.

8. Grenzenlose Möglichkeiten

Diese Gedankenmuster der Selbstverantwortung und Machbarkeit mögen einerseits dem Individuum ein Gefühl möglicher Kontrolle zurückgeben, andererseits den Einzelnen verzweifelt zurücklassen, wenn sie nicht zum gewünschten Erfolg führen. Und wo setzt dann das Paar oder die/der Einzelne die Grenze von medizinischen Behandlungen? Wie oft ist in der Beratung zu hören, "die Hoffnung stirbt zuletzt"? Wann gibt es ein Ende, wenn es nicht mehr von außen vorgegeben wird? Nicht mehr physiologische Bedingungen setzen ein Ende, wenn die Medizin andere Möglichkeiten bereithält, auch wenn sie nur im Ausland möglich sind (Eizellspende, Leihmutterschaft). Die "natürlichen Grenzen" über die fruchtbare Phase von Frauen haben sich in den Köpfen der Menschen längst verschoben, wenn Popstars mit Mitte 50 Jahren ihr Kind "auf natürlichem Wege" bekommen.

9. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die späte Mutterschaft

Verschiedene gesellschaftliche Rahmenbedingungen machen es Frauen oft schwer, in jüngeren Jahren Kinder zu bekommen. Verlängerte Ausbildungszeiten, nach denen Frauen den Einstieg in den Beruf schaffen wollen, tragen dazu bei, dass 2015 z.B. in Deutschland das durchschnittliche Alter einer Erstgebärenden bei 29,6 Jahren (Statistisches Bundesamt, 2018) liegt. Die oft vorliegende Unvereinbarkeit von Beruf und Familie sowie fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind neben dem fehlenden Partner die Hauptgründe, sich später im Leben für Kinder zu entscheiden. Dies ist der wichtigste Grund für eine erschwerte bis verunmöglichte Form, den Kinderwunsch auf natürlichem Wege zu erfüllen (vgl. Deutsche Familienstiftung, 2013; Mayer-Lewis, 2014).

10. Reflexionsräume in der Beratung

Die neuen medizinischen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin haben schon vielen Menschen zu einem gesunden Kind verholfen. Gleichzeitig erfordern sie immer wieder individuelle Entscheidungen. Deshalb ist es wichtig, wenn es Reflexionsräume, z.B. Beratungsräume gibt, damit Menschen "gute", d.h. für sie selber und die beteiligten Personen stimmige, mit dem eigenen Denken, Fühlen und Handeln im Einklang stehende Entscheidungen treffen können. Damit eine Entscheidung nicht zu dem wird, was von einem erwartet wird und die von den Erfolgszahlen suggerierte Hoffnung nicht überschätzt und gleichzeitig die emotionalen, physischen und nicht zuletzt finanziellen Belastungen von reproduktionsmedizinischen Behandlungen nicht unterschätzt werden. Es bietet sich auch die Möglichkeit, sich über Adoption oder Pflegschaft zu informieren und sich Gedanken über andere Formen des Zusammenseins mit Kindern zu machen. Nicht zuletzt kann auch ein Leben ohne Kinder zu einer lebbaren Option werden. Es geht um die Fähigkeit, das Machbare und das Nichtmachbare abzustimmen und im Blick zu haben und individuell und u.U. dyadisch damit Frieden zu schließen und dabei - nicht zuletzt - die sozialen Implikationen nicht aus den Augen zu verlieren. Auf diesen Prozess wollte sich das Paar K. einlassen und es wurde ein weiterer Gesprächstermin vereinbart...

Endnoten

  1. Methode der künstlichen Befruchtung, bei der der männliche Samen in den Genitaltrakt der Frau übertragen wird
  2. Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI): Entnahme des Eibläschens und Befruchtung über Einspritzen einer einzelnen Samenzelle direkt in die Eizelle im Reagenzglas

Literatur

Auhagen-Stephanos, U. (2000). Wenn die Seele nein sagt. Hamburg: Rohwolt Tb.

Dt. Familienstiftung (2013) (Hrsg.). Wenn Kinder - wann Kinder? Fulda: parzellers Buchverlag.

Kamper, D. & Wulf, Ch. (1984) (Hrsg.). Der andere Körper. Alltagswissen, Körpersprache, Ethnomedizin, Bd. 1.Berlin: Verlag Mensch und Leben.

Kleinschmidt, D., Thorn, P.& Wischmann, T. (2008). Kinderwunsch und professionelle Beratung. Das BKiD-Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer.

Kurmann, M. (2011). Alles selbst bestimmt!? Unveröffentlichter Vortrag auf dem Forum Kinderwunsch der pro familia München in der Seidl Villa. München am 3.12.2011

Mayer-Lewis, B. (2014). Beratung bei Kinderwunsch. ifb-Materialien 1-2014, Bamberg.

Statistisches Bundesamt (Destatis) (2018).

Wallraff, D., Thorn, P.& Wischmann, T. (2015) (Hrsg.). Kinderwunsch. Der Ratgeber des Beratungsnetzwerkes Kinderwunsch Deutschland (BKiD). Stuttgart: Kohlhammer.

Weidinger-von der Recke, B.: Kinderlose Menschen trauern - anders. In: Leidfaden, Heft 3, S. 32-34, Göttingen, 2015.

Wischmann, T. & Stammer, H. (2001, 2016). Der Traum vom eigenen Kind. Psychologische Hilfen bei unerfülltem Kinderwunsch. Stuttgart: Kohlhammer.

Autorin

Dr. Annette Tretzel
a.tretzel@bitte-keinen-spam-web.de

Die Verfasserin des Artikels ist Psychologin und arbeitet als systemische Paar- und Familientherapeutin und Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis und in einer Beratungsstelle. Sie ist seit 20 Jahren u.a. auf das Thema unerfüllter Kinderwunsch spezialisiert und im Vorstand des Beratungsnetzwerks Kinderwunsch Deutschland (BKID).



alttext