Iris Clemens [Forum Gemeindepsychologie, Jg. 24 (2019), Ausgabe 2]
Zusammenfassung
Der Beitrag fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit, wie soziale Navigationskompetenzen emergieren können, die u.a. als eine basale Voraussetzung auch für lebenslange Lernprozesse angesehen werden und heute eine Grundbedingung für mehr oder weniger erfolgreiche Bildungs- und Berufskarrieren sind. Damit spielen sie auch für soziale Ungleichheiten eine zentrale Rolle. Es wird zunächst der Navigationsbegriff von Arjun Appadurai (2013) erläutert, um ihn dann um eine netzwerktheoretische bzw. relationale Perspektive zu erweitern. Darauf aufbauend wird die Emergenz dieser Navigationskompetenz aus einer relationalen Perspektive analysiert und das Dazwischen als Ort der Kompetenz thematisiert. Konsequenzen für die Erziehungswissenschaft und allgemein für relationale Interventionen werden abschließend angerissen.
Schlüsselwörter: Navigation und Navigationskompetenz, Netzwerktheorie und relationale Perspektive, soziale Ungleichheit, Netzwerkzugänge, Mentoring
Summary
Dance and Struggle - Conditions and Limitations of the Emergence of Navigational Competencies in Social Networks The article asks for the conditions, under which navigational competencies in social networks can emerge. It is assumed that such competencies are a pre-condition for lifelong learning processes as well, and therefore critical for more or less successful educational and working careers today. Accordingly, they also play an important role regarding social inequalities, which is one of the main focus points of the article. First, the term navigation by Arjun Appadurai (2013) will be explained and elaborated further referring to network theory and the relational approaches. Based on this, I analyse the emergence of navigational competencies from a relational perspective and discuss betweeness as the space of the competencies. Consequences for professional relational interventions can only be roughly touched.
Keywords: Navigation and navigational competence, network theory and relational approach, social inequality, access to networks, mentoring
Einleitung
Wir kennen sie alle, die verschiedenen Arten und Weisen, sich im oft als überaus unsicher wahrgenommenen Terrain des Sozialen zurechtzufinden. Die einen tanzen, die anderen zappeln hilflos. Wasser- und Seefahrtsmetaphern sind nicht zufällig gängig, um unsere fragilen Bemühungen im fluiden Sozialen zu beschreiben: man ist untergegangen in der Diskussion, das Gespräch war schlüpfrig, man hat den Kurs verloren, ist abgedriftet, hat im Trüben gefischt, war der Hecht im Karpfenteich, hat die Möglichkeiten ausgelotet, sehr viel Gegenwind gehabt oder ist mit dem Wind gesegelt, hat den anderen am Haken zappeln oder sich in der Konversation treiben lassen usw. Das Soziale wird offenbar als etwas Unsicheres erlebt, das im permanenten Fluss ist, und diese Erfahrungen schlagen sich auch in unserer Sprache nieder. Und bei all dem gibt es sie immer: diejenigen, die sich trotz all dem 'wie ein Fisch im Wasser' durch alle Untiefen hindurchgeschlängelt haben, elegant und erfolgreich, im Gegensatz zu denen, die sich notdürftig 'über Wasser halten' (vgl. Clemens, 2015). Daher ist es vermutlich ebenfalls nicht zufällig, dass sich mit dem Begriff des Navigierens ein Begriff durchsetzt, der über den Rekurs auf Technik und (wissenschaftliche) Methoden Sicherheit verspricht in diesen Untiefen des Sozialen. Um genau diese Fähigkeiten des 'den Kurs Findens bzw. Haltens' und die Bedingungen der Möglichkeit, bestimmte korrespondierende Kompetenzen zu entfalten sowie auch um die damit zusammenhängenden Benachteiligungen soll es in diesem Beitrag gehen. Er ist anhand der drei Hauptbegriffe des Titels strukturiert: Navigieren, soziale Netzwerke und Lernen bzw. Kompetenz sowie den Bedingungen der Möglichkeit der Emergenz letzterer bzw. den möglichen Hindernissen. Ich werde zunächst (1) den Navigationsbegriff erläutern, wie in Arjun Appadurai (2013) eingeführt hat, um ihn dann um eine netzwerktheoretische Perspektive zu erweitern und näher an die alltägliche (Re)Konstitution des Sozialen heranzuführen (2). Darauf aufbauend werden die Bedingungen der Möglichkeiten der Emergenz dieser Navigationskompetenz analysiert (3). Konsequenzen für die Erziehungswissenschaft und allgemein für Interventionen können nur noch exemplarisch anhand des Konzepts des Mentorings angerissen werden (4). Zu fragen ist nach den Voraussetzungen, unter denen mit pädagogischer Intention Beziehungen hergestellt werden können, in denen diese Kompetenzen emergieren können - den Fall der Nicht-Emergenz immer eingeschlossen.
Navigation bei Arjun Appadurai
Arjun Appadurai (2013) hat in seinem Buch Future as a Cultural Fact darauf hingewiesen, dass die Zukunft als Faktor - im Gegensatz zu der Vergangenheit - oft vernachlässigt wird, wenn es darum geht, gesellschaftliche Ungleichheiten zu erklären. Ungleichheit würde gängigerweise als ein Produkt der Vergangenheit angesehen. Appadurai geht jedoch davon aus, dass das Streben nach Etwas für die eigene Zukunft eine Kompetenz ist und dass diese Kompetenz in Gesellschaften nicht gleich verteilt ist. Präziser formuliert ist ein solches Streben nach Appadurai eine Navigationskompetenz und unterschiedlich in der Gesellschaft positionierte Gruppen entwickeln differente Navigationskompetenzen, was dann zu Ungleichheiten führt. Die Emergenz dieser Kompetenz verhält sich also auch bei Appadurai relational zu der Position in der Gesellschaft bzw. im Netzwerk und ist mithin kein aus dem Individuum heraus zu erklärender Prozess. Aspirationen allein sind dabei noch keine Ressource. Es bedarf bestimmter Transformationen, um Aspirationen in Navigationskompetenz zu überführen. Navigationskompetenz bei Appadurai kann vorläufig umschrieben werden als zusammengesetzt aus a) spezifischen Einstellungen gegenüber der Zukunft und b) damit in Beziehung stehenden bestimmten, vorteilhaften Ambitionen und c) adäquaten Praktiken, um diese auch zu erreichen. Die entscheidende Frage ist damit, wie diese Transformation von reiner Aspirationskapazität in eine Navigationskompetenz geschieht und wie dieser Prozess unterstützt werden kann. Es ist davon auszugehen, dass in diesen hier noch näher zu erläuternden Navigationskompetenzen eine basale Voraussetzung auch für lebenslanges Lernen liegt und sie daher heute eine Grundbedingung für mehr oder weniger erfolgreiche Bildungs- und Berufskarrieren sind.
Wie die Vergangenheit so wird auch die Zukunft immer auf der Grundlage eines spezifischen Weltblicks entworfen, eingebettet in einen gegebenen sozialen Kontext im Hier und Jetzt, und ist deshalb nach Appadurai (2013) ein kultureller Fakt. Zukünfte sind dementsprechend kulturell divergent. Während dies für die Vergangenheit insbesondere auch durch den postkolonialen Diskurs zunehmend in das Bewusstsein rückt und sich z.B. im Bemühen um ein rewriting history niederschlägt, ist diese Kulturrelationalität für die Zukunft selten im Blick und ihre Implikationen werden kaum berücksichtigt. Horizonte sind kollektiv geformt durch geteilte Lebensumstände, Bezüglichkeiten, Mythen usw., und diese Horizonte konstituieren die Basis für kollektive Aspirationen und sind daher kulturell imprägniert. Präferenzen, Abwägungen und insbesondere Entscheidungen wurden jedoch lange als Domäne der Ökonomie betrachtet, so Appadurai, und theoretisch mit individuellen Vorlieben (z.B. Theorie rationaler Entscheidungen) erklärt. Deshalb wurde übersehen, dass Aspirationen Teilaspekte größerer ethnischer und metaphysischer Ideen sind, die sich von kulturellen Normen ableiten. Anders als etwa Theorien rationaler Entscheidungen suggerieren, sind Aspirationen - ebenso wie die Bestrebungen und Wege, sie umzusetzen - jedoch nie individuell, sondern mit dem jeweiligen sozialen Kontext verwoben. Auch Vigh (2006) beschreibt sein Konzept von Navigation in seinem Buch Navigating Terrains of War wie folgt:
"... an analysis of praxis that is able to encompass the way in which agents act not only in relation to each other, or in relation to larger social forces, but in relation to the complex interaction between agents, terrain and events, thereby making it possible to encompass social flux and instability, and the way they influence and become ingrained in action, in our understanding of a specific praxis" (S. 13-14).
Die Praktiken unterscheiden sich dann nicht aufgrund individueller Eigenheiten und Vorlieben, sondern aufgrund der relationalen Einbettung der Akteure. Appadurais Leitargument ist deshalb auch, dass diese soziale Relationalität von Aspirationen bewirkt, dass sozio-ökonomisch bessergestellte Akteure differenziertere Aspirationen und Navigationskompetenzen ausbilden. Diese ungleiche Kompetenzverteilung erklärt Appadurai mit Erfahrungen und ihren Konsequenzen. Vorteile für bestimmte Gruppen ergeben sich, da
"... the better off, by definition, have a more complex experience of the relation between a wide range of ends and means, because they have a bigger stock of available experiences of the relationship of aspirations and outcomes, because they are in a better position to explore and harvest diverse experiences of exploration and trial, because of their many opportunities to link material goods and immediate opportunities to more general and generic possibilities and options" (Appadurai, 2013, S. 188).
Aspirationen sind also nicht reine Phantasieprodukte, idealistische Vorstellungen, die abgelöst sind vom chaotischen Alltagsleben, sondern sie emergieren und verändern sich interrelativ mit unseren permanenten Verstrickungen in Versuche, diverse Ziele zu erreichen, und den Erfahrungen, die wir in diesen Prozessen mit Mitteln, Wegen und Ergebnissen gesammelt haben. Für Appadurai sind daraus resultierende Erfahrungsarchive der Schlüssel für die Emergenz der Navigationskompetenz. Man muss hinreichend diverse Situationen erlebt haben, in denen eine Variation von diversen, ausdifferenzierten Aspirationen entstanden sind, entsprechend unterschiedliche Wege unter der Zuhilfenahme verschiedenster Strategien und Werkzeuge ausprobiert haben und wenigstens gelegentlich muss der Akteur dabei auch erfolgreich gewesen sein. Erfolg allein führt demnach nicht zu der Ausbildung der Navigationskompetenz, sondern bestimmend ist die Erfahrung der Beziehung zwischen unterschiedlichen Aspirationen, diversen Mitteln, Wegen und Zielen und resultierenden Ergebnissen. Entscheidend ist daher der Prozess der Erkundung und der Versuche in differenten Situationen sowie die beobachteten Resultate. Aus diesem Prozess entsteht ein Wissen über die Zusammenhänge zwischen einem bestimmten sozialen Kontext und den erfolgreichen, zielführenden Bewegungen darin. Die Qualität der Erfahrung ist wichtig und nicht nur die Quantität, denn hier machen sich Unterschiede bemerkbar zwischen privilegierten und nicht-privilegierten Akteuren. Erstere erfahren die Erfüllung ihrer Aspirationen öfter, sie wenden gegebenenfalls eher akzeptierte, angemessenere und angepasstere Mittel an (und haben überhaupt Zugang zu diesen), und sie streben u.U. auch aufgrund ihrer Erfahrungen nach einer Variation 'richtiger' Ziele - also ebenfalls akzeptierter, angemessener und angepasster Ziele. Eine größere Variation von möglichen Zielen und adäquater Mittel, um diese zu erreichen, eröffnen einen größeren Radius zum Agieren und ermöglichen wenigstens hin und wieder positive Erfahrungen. Umgekehrt führt das Fehlen von Möglichkeiten, Navigationskompetenzen einzusetzen, zu begrenzten und zerbrechlichen Aspirationen bei den Unterprivilegierten. Die soziale Einbettung erlaubt dann nur eingeschränktes Experimentieren und einen weniger leichten Zugang zu „alternativen Zukünften" (ebd., S. 189). Ziele allein sind nichts wert, wenn der Akteur keinen Zugang zu möglichen Mitteln hat, um sie zu erreichen. Die positive Erfahrung des Zusammenhangs zwischen Aspirationen und Ergebnis führt zu einem sich selbst verstärkenden Prozess, denn wenn man Zugang zu diversen Erfahrungen hat, die aus unterschiedlichen Prozessen der Exploration und des Versuchs resultieren, kann man diejenigen herausfiltern, die besonders erfolgreich waren und erfolgversprechendere Aktionsmuster aufbauen.
Die Unterschiede in den Erfahrungen mit Aspirationen und ihrer Realisierung führt nach Appadurai zu einer Generalisierung von Erfahrungen, die sich langfristig in kulturellen Unterschieden niederschlagen. Er beruft sich hier auf die Emergenz von Normen. Durch ihre Erfahrungen mit erfolgreichen Beziehungen zwischen Aspirationen und Ergebnissen gibt es bei privilegierten Gruppen eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie "... produce justifications, narratives, metaphors, and pathways through which bundles of goods and services are actually tied to wider social scenes and contexts, and to still more abstract norms and beliefs" (Appadurai, 2013, S. 188). Daher müsse man danach fragen, wie kollektive Horizonte geformt werden und wie sie die Basis für kollektive Aspirationen konstituieren, die dann als kulturell angesehen werden können. Diese akkumulierten und abstrakten Formen der Erfahrung können dann auch in andere soziale Kontexte und Situationen übertragen werden und den Akteur so in unterschiedlichsten Situationen mit entsprechender Kompetenz ausstatten - Modifikationen natürlich immer eingeschlossen. Kulturelle Differenzen und Ungleichheiten werden so produziert und auf Dauer gestellt. Unterprivilegierte Akteure wiederum haben aufgrund ihrer eingeschränkten Erfahrungen beim Navigieren eine "... deeply ambivalent relationship to the dominant norms of the society in which they live" (ebd., S. 185), so Appadurai.
Mindestens hinsichtlich Bildung, der heute eine Schlüsselrolle für Aspirationen und der Ausbildung von Navigationskompetenzen zugesprochen wird (Stambach & Hall, 2017), ist diese These der Ambivalenz gegenüber dominanten Normen jedoch zweifelhaft. Im Gegenteil findet sich eher eine Tendenz zur Überanpassung an dominante Zukunftsnarrative, etwa zum sozialen und ökonomischen Aufstieg durch Bildung, und weltweit investieren gerade auch sozio-ökonomisch schlechtgestellte Familien überproportional in die Bildung ihrer Kinder (für Indien z.B. De & Drèze, 1999). Bildung ist weltweit einer der Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft, was bspw. Hall (2017) dazu veranlasst, gar von einem grausamen Optimismus zu sprechen, da sich diese Aspirationen gerade für die Unterprivilegierten mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht erfüllen werden (Berlant, 2011; Gilbertson, 2017) und die Akteure mit Gefühlen des Versagens und der Minderwertigkeit zurücklassen, nachdem sie oft viele Jahre und enorme Ressourcen in eine Bildung investiert haben, sie sich für sie nicht auszahlt (Roder, 2017; Clemens & Biswas, 2018). Aus einer Vielzahl an Studien zu Bildungsaspirationen und Bildungsinvestitionen lässt sich ablesen, dass das Problem nicht die mangelnden Aspirationen sind oder dass dominante Normen hinsichtlich Bildung, wie die Erwartung, eine gute Schülerin bzw. Studentin zu sein, einen möglichst hohen Bildungsabschluss zu erreichen und dadurch eine gute Position in der Gesellschaft zu erreichen (Maurus, 2016), nicht geteilt würden: Die sogenannte failed generation besitzt z.T. Bildungsabschlüsse und kann ihre Aspirationen dennoch nicht umsetzten (Jeffrey et al., 2005 u.ö.), sie wurde um ihre Zukunft betrogen, so Mathew (2017), und in traditionelle Lebens- und Arbeitskontexte kann auch nicht einfach zurückgewechselt werden (Jeffrey et al., 2004; Maurus, 2018). Offensichtlich liegt das Problem weniger in den generalisierten Normen als in nicht anschlussfähigen generalisierten Aktionsmustern oder Praktiken.
Im Folgenden möchte ich daher für eine Spezifikation des Navigationsbegriffs die Fokussierung auf Erfahrungen und damit zusammenhängende kulturelle Differenzen beibehalten, alltagsbezogene Erfahrungen und Aktionen - dance and struggle - aber noch stärker betonen. Appadurais Vorschläge sollen stärker in den Vollzug der (Re)Konstitution des Sozialen im Alltag rückgekoppelt und alternative Betrachtungsmodi zu einer Normenzentrierung diskutiert werden. Damit sollen substantialistische Implikationen ganz im Sinne der relationalen Perspektive vermieden werden, eine wichtige Grundforderung relationaler Ansätze. Harrison White (2008) beispielsweise hält Normen und Werte für Engel - jeder spricht vielleicht über sie, aber gesehen hat sie noch keiner - deshalb taugen sie für ihn nicht zur wissenschaftlichen Erklärung von sozialen Aktionen. Auch Emirbayer (2017) verweist darauf, dass mit Dewey und Bentley (1949, nach Emirbayer, 2017) eben auch die Vorstellung der normenbefolgenden Individuen als interaktional gelten kann, damit zu den substantialistischen Ansätzen zu zählen und mithin abzulehnen sei. Es geht demgegenüber in relationaler Perspektive darum, bei der Erklärung menschlichen Verhaltens bei beobachtbaren Aktionen, Relationen und Interdependenzketten anzusetzen und nicht bei nicht beobachtbaren a priori Annahmen. Im Folgenden wird deshalb der Navigationsbegriff netzwerktheoretisch gewendet, um ihn für erziehungswissenschaftliche Betrachtungen nutzbar machen zu können.
Navigation aus netzwerktheoretischer oder relationaler Perspektive
Laut Duden meint Navigieren in der Luftfahrt oder Seefahrt, die Position eines Flugzeugs oder Schiffs zu bestimmen und den Kurs zu halten. Es impliziert die ständige Überprüfung der eigenen Position, ein Kurshalten bzw. eine Kurskorrektur. Anders als Schiffe und Flugzeuge bewegen sich soziale Akteure aber nicht in der Luft oder dem Wasser, sondern im Sozialen mit seinen eigenen Mechanismen und instabilen Gegebenheiten. Hier müssen die Akteure ihre Aktionen platzieren und sie versuchen ihr Bestes, sich darin zu bewegen und vorteilhafte eigene Positionen im Netzwerk herbeizuführen. Sie sind eingebettet in Netzwerke, und ihre Positionen ergeben sich immer und ausschließlich in Relation zu den anderen involvierten Akteuren im jeweiligen Netzwerk. Fixpunkte wie Höhe oder Breitengrade in der See- und Luftfahrt gibt es nicht. Simultan sind die Akteure kontinuierlich damit beschäftigt, die eigene Position im Verhältnis zu den anderen involvierten Akteuren zu beobachten und zu stabilisieren oder, wenn möglich, zu verbessern. Da alle involvierten Akteure gleichzeitig damit beschäftigt sind, erhöhen alle zusammen permanent die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit füreinander, was zu einer endlosen Kontingenz führt (und nicht nur zu einer doppelten). Das ist aus der Sicht einer relationalen Perspektive für alle sozialen Akteure die Ausgangslage und man sieht schon die diversen Anschlussmöglichkeiten an den mit Appadurai eingeführten Navigationsbegriff. Er scheint das Potential zu beinhalten, die dynamischen Bewegungen von Akteuren bei ihren permanenten Wechseln zwischen sozialen Netzwerken und den Bedingungen der Möglichkeiten, diese Wechsel vorteilhaft zu gestalten, zu beschreiben - und so Vorhersehbarkeit zu vergrößern und Risiken zu minimieren, denn darum geht es immer.
Meine Überlegungen gründen auf den Überlegungen der Netzwerktheorie bzw. relationalen Sozialtheorie (und den vielen verwandten Beschreibungen) im Anschluss an Harrison White, Mustafa Emirbayer, Anne Mische u.v.m. (unter empirischer Perspektive z.B. Matthew Desmond sowie im deutschsprachigen Raum auf Autoren wie Stegbauer, 2010, Fuhse, Schmidt, Häussling etc.). Anders als in der erziehungswissenschaftlichen Debatte, in der Netzwerkforschung oft mehr oder weniger synonym mit Netzwerkanalyse verstanden und behandelt wird, reichen die Überlegungen im relationalen Ansatz bekanntlich bis zur Proklamation eines neuen Paradigmas (Stegbauer, 2008). Mindestens wird das Soziale per se als relational gesehen mit unterschiedlichen Konsequenzen für differente Disziplinen (Clemens et al., 2017). Es gibt dann nicht bestimmte Bereiche des Sozialen, die ausgesondert als Netzwerke gesehen werden - klassisch z.B. Schulklassen -, sondern alle sozialen Akteure, Konstellationen und Phänomene werden als immer und unausweichlich relational verstanden und können nur identifiziert und beschrieben werden unter Rekurs auf die anderen involvierten Akteure und die verschiedenen Positionen in dieser Konstellation (ausführlich Clemens, 2015a). Soziale Akteure sind dann keine a priori gegebenen Entitäten, keine stabilen Individuen, sondern emergierende Konstellationen im sozialen Netzwerk, und ihre Charakteristika und Aktionsmuster ergeben sich aus ihren je einzigartigen Relationen zu anderen Akteuren immer wieder neu. Entsprechend muss jede Analyse bei den Beziehungen, dem Dazwischen ansetzen und nicht bei vorgeblich unabhängigen Einheiten, also etwa dem Individuum und seinen vorgeblichen Eigenschaften. Das Soziale wird selbst als das Gesamt fluider und dynamischer Relationen betrachtet - messy, wie White (2008) sagt -, und in diesen variierenden Netzwerken müssen die Akteure ihre Bewegungen je relational zu den anderen involvieren Akteuren platzieren.
In jedem Netzwerk sind sie auf eine ganz spezielle Weise eingebettet. Soziale Einbettungen können je nach Netzwerk sehr stark divergieren. Abhängig von der Position im Netzwerkgefüge können unterschiedliche Steuerungsanstrengungen - bei White (2008) control - mit mehr oder weniger Hoffnung auf Erfolg platziert werden. Dabei müssen Kontrolle oder Steuerungsanstrengungen keinesfalls Intentionalität und Bewusstheit implizieren. Zu allererst ist es die reflexhafte, intuitive Bemühung, im Netzwerk überhaupt eine Position zu finden. Der Akteur muss jeweils herausfinden, wer er in dem spezifischen Netzwerk überhaupt sein kann. White vergleicht dies mit dem intuitiven Nach-Vorne-Lehnen von kleinen Kindern, wenn sie laufen lernen (ebd.). Die Kontrolle kann sowohl auf sich selbst wie auf andere Akteure gerichtet sein. Ziel sind aber immer die Beziehungen zu anderen. Denn die einzige Möglichkeit der Intervention und Verbesserung der eigenen Position im Netzwerk, die der relationale Ansatz vorsieht, ist der Versuch der Einflussnahme auf die Beziehungen zu anderen Akteuren. Akteure versuchen, ihre Interpretation der Beziehungen durchzusetzen und das Medium solcher Steuerungsanstrengungen sind stories, die in Netzwerken kursieren und durch die Interpretationen von Beziehungen beeinflusst werden können (ebd.). Geschichten beinhalten Ideen über die Natur unterschiedlicher Beziehungen, ihren Charakter und Status. Für die Netzwerktheorie ist die Berücksichtigung von Sinn für die Konstitution und Aufrechterhaltung von Netzwerken zentral (zur Bedeutung dieses cultural turns in der Netzwerktheorie für die Erziehungswissenschaft siehe Clemens, 2015a). Für White sind Netzwerke durch Sinn organisiert, ohne Sinn kann es keine sozialen Netzwerke geben. Und Geschichten informieren die Akteure darüber, was geschieht und warum. Geschichten sind höher aggregierter Sinn, der über Netzwerke hinweg zirkulieren kann.
Für die Zirkulation von Sinn und die weitere Analyse der Navigationskompetenz sind Netzwerk-Domänen (White, 2008; Mische & White, 1998) zentral. Während Netzwerk den sozialen Kontext benennt, umfasst der Domänenbegriff die in einem bestimmten Netzwerk geteilten Sinnstrukturen und Sinnformen. Domäne steht für ein Ensemble von Sinnformen, die in einer bestimmten Population durch kontinuierlichen Austausch in der Kommunikation emergieren (Schmitt & Fuhse, 2015). Diese aggregierten Sinnformen sind eng mit dem sozialen Netzwerk verwoben und charakterisieren dieses umgekehrt. Sinn wird daher in differenten Netzwerken unterschiedlich prozessiert und ist deshalb relational. Domänen strukturieren Sinn in je spezifischer Weise, indem sie z.B. Kommunikationen dahingehend organisieren, wann wer was sagt und wie. Sie etablieren also lokale Regeln (White, 2008) und implizieren Regeln und Bewertungen, was dazu führen kann, dass etwas in einer Netzwerk-Domäne üblich und positiv konnotiert ist, in der nächsten jedoch als irritierend wahrgenommen wird, und sogar bei denselben Akteuren. Für einen Wechsel der Domäne muss sich das soziale Netzwerk nicht ändern, etwa wenn in Sitzungen über Fußballspiele diskutiert wird, bevor die eigentliche Agenda wieder durchgesetzt wird. Akteure lernen bzw. müssen lernen, mit Inkonsistenzen und Unvereinbarkeiten umzugehen, während sie beständig zwischen Netzwerk-Domänen wechseln (switching) - ein ebenfalls für die Netzwerktheorie zentraler Begriff (ebd.). Die meisten Akteure wechseln im Laufe des Tages permanent zwischen Netzwerk-Domänen und deren unterschiedlichen Formen von Beziehungen und Sinn, häufig ohne die Wechsel oder mögliche Inkompatibilitäten überhaupt zu realisieren. Während sie dies tun, sind die Akteure immer und unausweichlich involviert in hoch störanfällige und komplizierte „dances in identity and control" oder "struggling for control" (White, 2008): die hohe Kunst des Navigierens im Sozialen, um die eigene Position zu halten oder vielleicht zu verbessern.
Man kann hier vorläufig resümieren, dass Steuerungsanstrengungen und Wechsel die basalen Grundlagen dessen sind, was Navigation im Sozialen ausmacht. Kontrolle wie auch Wechsel scheinen also als eine Art ganz grundsätzlicher Operationalisierung des Navigationsbegriffs zu funktionieren: Die Akteure müssen in der Lage sein, geschickt von Netzwerk zu Netzwerk zu wechseln und dabei wenigstens bisweilen vorteilhafte Positionen im sozialen Gefüge einzunehmen, indem sie erfolgversprechende Praktiken in einem Prozess der Ko-Emergenz adaptieren und an ihre Positionen anpassen. Als generalisierte Aktionsmuster kann leichter auf solche Praktiken zurückgegriffen werden, was im alltäglichen Vollzug eine Erleichterung gegenüber dem permanenten Handlungsdruck darstellt. Über Geschichten verbreiten Akteure dabei ihre Interpretationen von Beziehungen und Geschehnisse und setzen diese (mindestens gelegentlich) durch. Aspirationen im Sinne einer Zukunftsgerichtetheit wie auch allgemeine Intentionen können beinhaltet sein oder mitlaufen, dies ist aber keinesfalls Voraussetzung für die basalen Operationen wie Steuerungsanstrengungen und Wechsel. Vorteile ergeben sich also zunächst aus generalisierten Strukturen des Wechselns und der Steuerungsanstrengungen, die in situ erworben werden und keinesfalls bewusst sein müssen. Damit einher geht jedoch eine Formung von Aspirationen und Intentionen, wie nun näher erläutert wird.
Bedingungen der Möglichkeit der Emergenz von Navigationskompetenzen
Um zu verstehen, wie Navigationskompetenz emergieren kann, ist die Frage nach ihrem Ort instruktiv. Bei der Klärung, wo etwas wie Kompetenzen, aber auch Geschmack oder Kapazität 'ist' oder entsteht, setzt uns die Sprache enge Grenzen. Sprache zwingt uns zu sagen, jemand habe eine Kompetenz oder Geschmack etc. Das zugeschriebene Element wird also gemeinhin im Individuum verortet. Dies hindert uns jedoch daran, die Natur von etwas wie Navigationskompetenz in einer relationalen Perspektive zu verstehen, da Kompetenz nicht exklusiv im Akteur liegen kann. Auch Sinn liegt in relationaler Perspektive weder im Akteur noch im Netzwerk, sondern dazwischen, generiert durch die Wechsel von Akteuren zwischen Netzwerken und entsprechenden Differenzerfahrungen (White, 2008). Ebenso verhält es sich mit der Navigationskompetenz. Zudem muss diese keinesfalls bewusst sein und kann nicht intentional und geplant eingesetzt werden. Da sie körperliche Erfahrungen, Emotionen etc. beinhaltet sowie stets relational zu dem Kontext ist, indem sie immer wieder auf ein Neues erst emergieren muss, ist sie mindestens partiell immer unbewusst und nur teilweise z.B. einer Reflexion zugänglich. Am ehesten kann Navigationskompetenz vielleicht als Konglomerat aus relationalen Mustern gegenseitiger Steuerungsanstrengungen aller involvierten Akteure und entsprechender Interdependenzketten beschrieben werden. Sie ist damit im Netzwerk verstreut und kein stabiles Muster, da sich die Funktionalität von Steuerungsanstrengungen mit Wechseln zwischen Netzwerk-Domänen ständig verändern kann. Anders als 'Normen', nach denen Akteure vorgeblich handeln (s.o.) oder nicht, sind Wechsel, Steuerungsanstrengungen und Relationen jedoch bis zu einem gewissen Grad beobachtbar. Die Beobachtbarkeit einer Beziehung ist ja bekanntermaßen eine der Grundvoraussetzungen der Netzwerkforschung (Stichwort Reziprozität, vgl. Stegbauer, 2016).
Eine der wichtigsten und für die Pädagogik problematischen Konsequenzen des relationalen Ansatzes ist also, dass Kompetenzen weder außerhalb von Netzwerken noch innerhalb der Akteure existieren, sondern ebenfalls immer im Dazwischen. Sowohl der Akteur mit seinen spezifischen, einmaligen, auch inkorporierten Erfahrungen, Mustern der Wahrnehmung und Bewegung etc. als auch das relationale Netzwerk ist notwendig für die Emergenz einer Kompetenz. Der Akteur hat eine solche Kompetenz nicht unabhängig von einem Netzwerk, sondern der Akt ist vielmehr Teil des Netzwerkes und emergiert jeweils nur dort in situ. Auch Weisheit, so Stegbauer (2016), kann nicht auf individuelle Charakteristika zurückgeführt werden, sondern auf Strukturen, in denen sie sich zeigt und in denen sie sich entwickelt. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Akteure vernachlässigbar sind. Wie oben schon erläutert, sind ihre Erfahrungen und emergenten Formen entscheidend, um differente Bewegungsmuster in und zwischen Netzwerken zu erklären.
Dies rückt den Zugang zu Netzwerken in den Fokus. Wenn soziale Kompetenzen Teil von Netzwerken sind und relational dazu, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie emergieren mit dem Zugang des Akteurs zu solchen Netzwerken, in denen diese Kompetenzen kursieren. Und wenn es nun wie im vorliegenden Beitrag um die Navigationskompetenz in und zwischen Netzwerken geht, dann muss das netzwerktheoretische Konzept des Wechsels (White, 2008) prominent beachtet werden. Es geht nun abschließend darum, die unterstützenden und behindernden Faktoren bei der Emergenz der Navigationskompetenz genauer zu analysieren. Was kann bei der Emergenz von Vorstellungen über alternative Zukünfte und entsprechenden Navigationskompetenzen helfen und so ggf. zur Befähigung zum lebenslangen Lernen und zu erfolgreichen Berufs- und Bildungskarrieren beitragen? Und was kann solchen Prozessen entgegenstehen?
Wechsel zwischen differenten Netzwerken
Die üblichen Parameter der Netzwerkforschung sind beispielsweise die schiere Netzwerkgröße oder schwache Beziehungen (Granovetter, 1973) oder Brückenköpfe (Burt, 1992), Beziehungen also, denen eine u.U. bestimmte positive Qualität zugeschrieben werden und diese deshalb wertvoller machen als andere. Die Forschungen von El-Mafaalami (2012 u.ö.) zu extremen Bildungsaufsteigern sind dafür sicherlich ein gutes Beispiel. Dort waren es die Beziehungen zu sogenannten Paten aus bildungsnahen Milieus, die als wesentliche Unterstützung für den eigenen Aufstieg erachtet wurden. Hinsichtlich der von Appadurai diskutierten Ungleichheit von Akteuren ist es nicht trivial, auf die erste und basalste aller Einschränkungen oder Benachteiligungen hinzuweisen, nämlich die Nicht-Beziehung, das nicht überbrückte strukturelle Loch. Wenn alles Soziale abhängig ist von Beziehungen und den Mustern dieser Beziehungen, dann sind nicht „vorhandene Beziehungen ... aber häufig sogar noch wichtiger als die vorhandenen. Hierzu ist ein Umdenken erforderlich, welches noch eingeübt werden muss", so Stegbauer (2016, S. 5). Die Nicht-Beziehung und der Nicht-Zugang zu Netzwerken schließt die Emergenz der Navigationskompetenz schlicht aus. So gesehen kann auch die Restriktion von Gelegenheiten, Beziehungen überhaupt eingehen zu können und Zugang zu Netzwerken zu erhalten, zu Benachteiligungen in Bildungskarrieren und dem Prozess des lebenslangen Lernens führen. Baur (2012) weist beispielsweise in ihrer Studie zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und ungleichen Bildungschancen darauf hin, dass eine „übermäßige Kontrolle, die jegliche persönliche Entwicklung lähmt, zu einer Bildungsbenachteiligung führen [kann], wenn die Betroffenen kaum Möglichkeiten haben, Erfahrungen außerhalb der Institutionen Schule und Familie zu machen" (a. a. O., S. 130).
Neben den bereits genannten Faktoren gerät abschließend jedoch ein weiterer Aspekt in den Fokus. Viele Netzwerkforscher unterstreichen die Bedeutung der Erfahrung mit Wechseln zwischen divergierenden Netzwerken als hilfreich bei der sozialen Positionierung. DiMaggio (1987) hat in seiner Studie zu Geschmack die Beziehung zwischen Kunstkonsum und Positionierung in sozialen Netzwerken hervorgehoben und kommt zu teilweise anderen Einschätzungen hinsichtlich des kulturellen Kapitals als etwa Pierre Bourdieu (1984). Im Gegensatz zu diesem betont er die Heterogenität und Vielzahl von divergenten Netzwerken als unterstützenden Faktor bei der sozialen Positionierung anstelle des Zugangs zu bestimmten, homogenen und dominanten Zirkeln. Ein bestimmter Kunstgeschmack sei natürlich förderlich, um Beziehungen zu Personen mit hohem sozialem Status zu knüpfen oder zu stärken. Jedoch könnten Akteure, die sich in unterschiedlichen Netzwerken bewegen, auf einen größeren Pool an Erfahrungen zurückgreifen und daher Geschmack für die größte Bandbreite an Kunstformen entwickeln.
In Konsequenz korrespondiert die Kompetenz, sich in diversen kulturellen Kontexten zu bewegen, mit heterogenen Netzwerken. Dabei entsteht ein sich selbst verstärkender Kreislauf: Der Zugang zu verschiedenen Netzwerken, in denen unterschiedliche kulturelle Stile und differente Geschichten kursieren, unterstützt die Emergenz unterschiedlicher Geschmäcker, die wiederum beim Zugang zu sehr unterschiedlichen Netzwerken behilflich sind. Gleichzeitig vergrößert sich so das Gesamtnetzwerk, denn wie Harrison White (2008) sagt: Switching is stitching. DiMaggio (1987) sieht den Vorteil also nicht darin, dass ein dominanter, als hegemonial angesehener Geschmack entwickelt wird, sondern in der Navigation durch diverse Netzwerke: "... the well educated and persons of high occupational prestige do and like more of almost everything" (DiMaggio, 1987, S. 444). Der sozio-ökonomische Status eines Akteurs korreliert folglich positiv mit der Größe, der Komplexität und der Diversität des Netzwerkes, zu dem er insgesamt Zugang hat. Schmitt und Fuhse (2015) folgern, dass DiMaggio das Bourdieusche Konzept des kulturellen Kapitals in eine Kompetenz reformuliert, mit heterogenen Stilen umzugehen, und diese kann sich nur ausbilden, wenn Akteure Erfahrungen in Wechseln zwischen heterogenen Netzwerken erleben und sammeln. Für DiMaggio steht fest: Um ein erfolgreiches Mitglied der Mittelklasse zu werden, müssen Wechsel zwischen möglichst diversen Netzwerken geübt werden. Einerseits müsse man sicherlich die sogenannte Statuskultur beherrschen, „but it is abetted by an easy familiarity with cultures of occupation, of religion, and of ethnicity as well. Just as bilingual students code-switch when they move from street to classroom ..., so middle-class adults learn how to 'culture-switch’ as they move from milieu to milieu. Such individuals command a variety of tastes, as the surveys suggest, but - and here is the key to the puzzle - they develop them selectively in different interactions and different contexts" (DiMaggio, 1987, S. 445). Und während der Navigation in und zwischen den unterschiedlichen Netzwerken werden Erfahrungen und kursierende Geschichten über alternative Zukünfte gesammelt, die zu generalisierten Aktionsmustern kumulieren können. Kulturelle Differenzen entstehen zwischen Akteuren, denen dieses Erfahrungsfeld zugänglich ist, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist.
Zusammenfassung und pädagogische Konsequenzen
Die Theorie des Dazwischens ermöglicht es, den Begriff des Navigierens zu spezifizieren und zu konkretisieren und ihn für pädagogische Problemlagen fruchtbar zu machen. So ist z.B. zu fragen, wie über gezielte pädagogische Interventionen Netzwerkzugänge von Akteuren zu unterschiedlichen Netzwerken ermöglicht werden können. Hinsichtlich sozialer Ungleichheit steht die Gesellschaft hier auch zukünftig vor einer enormen Herausforderung. In Zeiten zunehmender sozialer Segregation muss der Befund der Benachteiligung durch Nicht-Beziehungen, aber auch durch eingeschränkte Netzwerkzugänge, durch in Kultur verfestigte Generalisierungen von Erfahrungen und das Nichtvorhandensein alternativer Zukünfte pessimistisch stimmen. Es droht eine mit der sozialen Spaltung einhergehende Separation von Akteuren in solche, die an der Emergenz der Navigationskompetenz teilhaben können und solche, die diese Möglichkeit nicht haben. Die Frage nach den Möglichkeiten, solchen Benachteiligungen durch relationale Interventionen entgegenzuwirken, lenkt den Blick auf den Ort von Kompetenzen wie der der Navigation - nämlich das Dazwischen. Ohne Zugänge zu diversen Netzwerken können diese Kompetenzen nicht emergieren. Entsprechend kommt es darauf an, Akteure über gezielte Interventionen in heterogene Netzwerke zu inkludieren, um solche Emergenzen zu ermöglichen. Vielversprechende Ansätze dazu werden auf Gemeindeebene ja bereits seit längerem erprobt.
Zu nennen wären beispielsweise Mentorings und gezielte Netzwerkarbeit, die neben der Sozialarbeit auch z.B. in der Gesundheitsforschung und in präventiven Maßnahmen mehr und mehr in den Fokus rücken. Allerdings wird aus der erläuterten Perspektive heraus auch klar, dass eine reine Stärkung bestehender Netzwerke zumeist gerade nicht ausreichend ist, sondern dass - wie etwa beim Mentoring in der Regel üblich - der Radius der sozialen Beziehungen erweitert werden sollte, um es dem Akteur in Anlehnung an DiMaggio zu ermöglichen, ein Mehr von beinahe allem kennenzulernen. Mentorings können hier als eine intentional durch eine Institution initiierte Beziehung zum Zwecke einer erwünschten positiven Wirkung auf wenigsten eine der beteiligten Personen verstanden werden. Die Initiierung dieser Beziehung kann als pädagogische Intervention gesehen werden. Genauer gesagt ist Mentoring die intentionale Herstellung einer Beziehung zu einer in der Regel sozio-ökonomisch und bezogen auf den Bildungsstand privilegierten Person, die (Bildungs-)Benachteiligung reduzieren soll, indem bei dem Problem der Nicht-Beziehungen und der strukturellen Löcher (s.o.) zu bestimmten Netzwerken angesetzt wird. Das Mentoring als relationale Intervention bringt Akteure mit sehr divergenten Netzwerkmustern zusammen und initiiert damit neue relationale Muster. Es sorgt für den Zugang von unterprivilegierten Akteuren zu und das Bewegen in diversen, zuvor unbekannten Netzwerken einschließlich der sie begleitenden auch physischen Kontexte und bietet die Bedingungen der Möglichkeit, die zuvor beschriebene Navigationskompetenz zu erweitern. Mit dem Wechsel zwischen den divergierenden Netzwerken werden wie gezeigt neue Aktionsmuster probiert, und gleichzeitig erweitert sich das Gesamtnetzwerk, denn wie White (2008) sagt: Switching is stitching. Mentoring als relationale Intervention kann hier viel Potential für Lerngelegenheiten und die Überwindung von Benachteiligung bieten. Von hier aus und angeregt durch die relationale Perspektive lassen sich weitreichende, basale Konsequenzen für pädagogische Interventionen formulieren, und Intervention ist dann prinzipiell relational zu denken.
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Autorin
Iris Clemens Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik, Universität Bayreuth iris.clemens@bitte-keinen-spam-uni-bayreuth.de
Schwerpunkte: kulturelle Implikationen von Bildung und Bildungskonzepten bzw. eine kulturtheoretische Perspektive auf Bildung, Netzwerktheorie und Netzwerkforschung in der Erziehungswissenschaft, Indien, Globalisierung und Urbanisierung.
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