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Neue Chancen und alte Begrenzungen für die psychotherapeutische Versorgung schwer psychisch erkrankter Menschen

Achim Dochat

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 26 (2021), Ausgabe 1]

 

 

Zusammenfassung

Obwohl Psychotherapie z.B. in Leitlinien zur Psychosenbehandlung dringend empfohlen wird, sieht die Versorgungsrealität schwer psychisch erkrankter Menschen ganz anders aus. Zugangsbedingungen und Arbeitsweise psychotherapeutischer Praxen sind dem Hilfebedarf dieser Klientel nicht adäquat. Gemeindepsychiatrische Angebote sehen in der Regel keine Psychotherapie vor. Mit der Anpassung der Psychotherapierichtlinien ist es gelungen, die Zugangsschwelle abzusenken und neue Arbeitsformen einzuführen, die dem Bedarf psychisch kranker Menschen durchaus entgegenkommen. Die Reform der Psychotherapieausbildung sieht vor, Psychotherapeuten besser auf die Anforderungen der Arbeit mit dieser Klientel vorzubereiten und Erfahrungen in gemeindepsychiatrischen Arbeitsfeldern stärker in die Praxisphase zu integrieren. Dies wird zur besseren psychotherapeutischen Qualifizierung gemeindepsychiatrischer Einrichtungen beitragen. Auch die Voraussetzungen niedergelassener Psychotherapeuten für die Arbeit mit schwer psychisch kranken Menschen werden damit verbessert. Eine wesentliche Zunahme des Anteils dieser Zielgruppe in freien Praxen stößt aber an wirtschaftliche und Systemgrenzen.


Schlüsselwörter:
Gemeindepsychiatrie, Psychotherapie für schwer psychisch kranke Menschen, Reform der Psychotherapieausbildung, Psychotherapierichtlinien, ambulante Komplexleistung

 

Summary

Psychotherapy for severe mentally ill patients: new opportunities and old limitations

Although psychotherapy is strongly recommended in guidelines for the treatment of psychoses, severe mentally ill people have little chance of receiving suitable help. Access conditions and working methods in psychotherapeutic practices are not adequate to the help needs of this clientele. On the other hand, community psychiatric services usually do not provide for psychotherapy. A recent revision of the psychotherapy rules has contributed to lowering the entry threshold and introducing new methods of work that better fit with the needs of mentally ill people. In addition, the oncoming reform of psychotherapy apprenticeship prepares psychotherapists better for the demands of working with this clientele. E.g. experience in community psychiatric fields will more closely be integrated into the practical training. This will certainly contribute to an improved psychotherapeutic qualification of community psychiatric institutions. Thus, the prerequisites for resident psychotherapists to work with severe mentally ill people will also be improved. However, economic and systemic conditions of independent practices set limits to a substantial increase in the proportion of this target group.


Keywords:
community psychiatry, psychotherapy in severe mental illness, qualification of psychotherapists, psychotherapy rules, complex outpatient services

 

 

Im Gefolge des Psychotherapeutengesetzes von 1998 ist die Zahl psychotherapeutischer Praxen stark angewachsen. Die Versorgungssituation schwer psychisch erkrankter Menschen hat sich dadurch allerdings nicht wesentlich verbessert. Die Diagnosegruppen schizophrene und affektive Psychosen erhielten schon davor nur selten adäquate psychotherapeutische Hilfe. Und sie sind auch heute noch im Klientel niedergelassener Psychotherapeuten stark unterrepräsentiert.

Eine Studie der kassenärztlichen Bundesvereinigung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland ermittelt einen Anteil von 4% aller ambulanten Psychotherapiepatienten mit den Diagnosen Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (Multmeier, 2014). Ein paar Jahre später ergeben die in den universitären Forschungs- und Ausbildungsambulanzen erhobenen Zahlen eine ganz ähnliche Größenordnung (Velten et al., 2018).

Mit mangelndem Potential der Psychotherapie ist diese Schieflage nicht zu erklären, sie hätte psychosekranken Patienten und ihren Angehörigen durchaus etwas anzubieten. Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Psychotherapie stehen heute fachlich außer Frage (Klingberg & Wittorf, 2012) und auch die Empfehlungen der wichtigsten Leitlinien zur Schizophreniebehandlung sind eindeutig (NICE, 2014; DGPPN, 2019).

Nicht nur eine Frage fehlender Kapazitäten

Fragt man, warum dennoch in psychotherapeutischen Praxen so wenige Patienten mit hohem oder komplexem Hilfebedarf ankommen, so lässt sich ein ganzes Bündel unterschiedlich wirksamer Bedingungen identifizieren:

  • Das Vorurteil, Psychotherapie sei bei Menschen mit Psychosen nicht aussichtsreich oder sogar kontraindiziert, hält sich wider besseres wissenschaftliches Wissen selbst bei einem Teil der Fachleute bis heute hartnäckig. Es führt bei Vorbehandelnden zu Vorbehalten gegen eine Überweisung und zu geringerer Nachfrage von Betroffenen, denen mutmaßlich oft abgeraten wird.
  • Auf dem Weg zu einer Psychotherapie sind für die Klienten erhebliche Hürden zu überwinden (Finden eines Therapeuten, Überzeugen von der eigenen Motivation und Kooperationsbereitschaft, Aushalten der Wartezeit, Beantragung und Kostenbewilligung, Einlassen auf eine von vornherein befristete Zusammenarbeit). In aller Regel werden sie auf diesem Weg auch wenig ermutigt oder gar unterstützt.
  • Die Psychotherapierichtlinien, denen psychotherapeutische Praxen verpflichtet sind, geben eine Arbeitsform vor (begrenztes Kontingent regelmäßiger 50-Minuten-Termine), die dem Hilfebedarf und den Kompetenzen vieler psychiatrischer Patienten nicht entspricht. Nur ein Teil der Klientel kann von diesem Angebot profitieren.
  • Nicht alle Psychotherapeuten sind bereit (oder auch kompetent) zur Behandlung schwer psychisch kranker Patienten. Bei einer Abfrage der Bereitschaft, in der eigenen Praxis besondere Patientengruppen zu behandeln, erklärten sich gerade einmal 38% prinzipiell bereit, mit Psychosepatienten zu arbeiten (Nübling et al., 2014).
  • Und nicht zuletzt gelten Menschen mit Psychosen als eher schwierige und terminlich unzuverlässige Klientel. Sie stellen höhere Anforderungen an die Praxisorganisation. Ihr Hilfebedarf stellt sich diskontinuierlich dar und erfordert wechselnde Schwerpunktsetzungen.

Angesichts der generell hohen Nachfrage, die niedergelassene Psychotherapeuten erleben, ist ihre Zurückhaltung gegenüber schwer psychisch erkrankten Menschen wirtschaftlich fast verständlich. Wenn die Kapazität begrenzt ist, haben weniger stark beeinträchtigte Patienten in den Praxen niedergelassener Psychotherapeuten bessere Chancen. Bock formuliert hier zugespitzt: „Je gesünder, desto eher und je kränker, desto seltener erhalten psychisch erkrankte Menschen und ihre Familien psychotherapeutische Unterstützung“ (2013, S. 13). Auch wenn Kapazitätsengpässe zweifellos nach wie vor bestehen, ist also davon auszugehen, dass ein bloßer Zuwachs an Psychotherapiepraxen alleine den schwer psychisch Erkrankten nicht wesentlich helfen wird.

Anpassung der Psychotherapierichtlinien verbessert die Zugangschancen

Zur Ehrenrettung der Psychotherapeuten und ihrer Fachverbände kann gesagt werden, dass ihnen die Begrenzungen, die die Arbeitsweise psychotherapeutischer Praxen mit sich bringt, nicht entgangen sind. Die Anpassungen der Psychotherapierichtlinien der letzten Jahre lassen durchaus das Bemühen erkennen, die bisher nicht erreichte Klientel besser zu erreichen.

Mit der Erweiterung des Indikationsspektrums 2013 und insbesondere mit der Einführung neuer Angebotsformen und Kompetenzen durch die Richtlinienveränderung 2016 wurden die Voraussetzungen für die Arbeit mit neuen Zielgruppen verbessert (Dochat, 2017). Statt der Beschränkung auf feste Terminreihen, die erst nach langer Wartezeit beginnen können, besteht jetzt die Möglichkeit unmittelbarer Ansprache. Das Angebot eines voraussetzungslosen Kontakts in der telefonischen Sprechstunde und eines Gesprächstermins in der offenen Sprechstunde sind wirksame Neuerungen. Sie senken nicht nur die Zugangsschwelle, sie schaffen auch die Möglichkeit einer kurzen Beratung mit Hinweisen auf weitere mögliche oder verfügbare Hilfen. Hinzu kommt bei Bedarf die neue Chance einer psychotherapeutischen Akutbehandlung, die relativ kurzfristig und ohne aufwändiges Antragsverfahren starten kann. Sie ersetzt keine umfassende therapeutische Behandlung, bietet aber die Möglichkeit zur kurzfristigen Stabilisierung und Krisenbewältigung.

Mit der Flexibilisierung des Zugangs, der Betonung von Beratung (telefonische Erreichbarkeit, Sprechstunde), Terminen für akute Interventionen, der Kompetenz zur Überweisung an Soziotherapie, inzwischen auch Ergotherapie und psychiatrische Krankenpflege, und nicht zuletzt mit der Möglichkeit der Einleitung von Klinikbehandlungen oder Rehabilitationsmaßnahmen ist die Absicht erkennbar, psychologischen Psychotherapeuten eine neue Rolle in der Versorgungslandschaft zuzuweisen. Sie sollen sich als Anlaufstelle verstehen, eine Lotsenfunktion übernehmen, die begleitenden Hilfen außerhalb des eigenen Sprechzimmers organisieren und koordinieren.

Erste Erhebungen zur Wirkung dieser Richtlinienveränderung zeigen durchaus bemerkenswerte Tendenzen auf (BPtK, 2018; Mong et al., 2018). Wartezeiten haben sich insgesamt verkürzt, zu Beratung und Sprechstunden ist ein kurzfristigerer Zugang möglich. Und wie gewünscht werden Menschen erreicht, die überwiegend bisher noch keinen Kontakt zu Psychotherapeuten hatten. Die Absenkung der Zugangsschwelle und die sachgerechteren Arbeitsformen kommen dem Bedarf psychisch kranker Menschen durchaus entgegen und verbessern die Voraussetzungen für den Besuch psychologischer Psychotherapeuten deutlich. Dennoch haben die Neuerungen noch nicht von selbst für eine entscheidende Veränderung des Anteils von schwer und chronisch psychisch kranken Menschen in psychotherapeutischen Praxen gesorgt. Ehrlicherweise muss man zugestehen, dass das nicht allein an den Psychotherapeuten liegt. Einen Teil der Verantwortung dafür trägt auch die Gemeindepsychiatrie, in der schwer und chronisch psychisch kranke Menschen überwiegend Unterstützung erfahren.

Das Fremdeln der Gemeindepsychiatrie gegenüber Psychotherapie

Die Entwicklung der Gemeindepsychiatrie war durch gewollte fachliche Abgrenzung vom medizinischen System gekennzeichnet. Der Mensch und seine Erkrankung sollten in seinem sozialen Umfeld verstanden werden. Man wollte die Hilfen und Angebote zu den Menschen bringen, und nicht die Menschen zu zentralen Hilfeinstitutionen. Statt klinischer Behandlung wurde Betreuung und Begleitung im Alltag angeboten.

Der Aufbau der Hilfen erfolgte weitgehend auf der Grundlage der Eingliederungshilfe und der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Kostenträger der Eingliederungshilfe waren als Ausfallbürge, der ansprechbar ist, wenn sonst keiner zahlt, durchaus bereitwillige und konstruktive Partner, die relative Sicherheit boten und dabei viel Freiraum bei der Gestaltung der Angebote ließen. Nicht wenige gemeindepsychiatrische Leistungserbringer waren froh, sich auf die Krankenversicherung als unangenehmeren und restriktiveren Partner gar nicht einlassen zu müssen.

Die eigenständige Begründung der Gemeindepsychiatrie innerhalb der Eingliederungshilfe brachte mit sich, dass eine konsequente Verknüpfung mit Leistungen medizinischer Behandlung und Rehabilitation nicht gelungen ist. Im Gegenteil: Mit der Kostenträgerschaft der Eingliederungshilfe geht eine Orientierung auf Chronizität und Behinderung einher, die mit ihrem Akzent auf langfristige kontinuierliche Begleitung Behandlungschancen und die Möglichkeit therapeutischer Veränderungsarbeit leicht aus dem Blick verlieren kann. Simon und Weber (1988) sprechen hier vom „Invalidenmodell der Sozialpsychiatrie“ (S.58).

Das System medizinischer Behandlung (SGB V) und das System der Begleitung und Teilhabeunterstützung (SGB IX, früher SGB XII) stehen als Säulen der psychiatrischen Versorgung relativ unverbunden nebeneinander. Die Existenz zweier unterschiedlicher Hemisphären hat sich trotz aller Appelle als erstaunlich veränderungsresistent erwiesen. Offensichtlich gibt es fachliche, sozialrechtliche, aber auch kulturelle Mechanismen, mit denen sich die Differenz immer wieder neu reproduziert. Die Unverbundenheit beider Sektoren bringt nicht nur durch fehlende Integration und übergreifende Steuerung erhebliche Reibungsverluste und Zusatzkosten mit sich, sie ist auch eine Zumutung für alle psychisch kranken Menschen, die auf deren Unterstützung angewiesen sind. Sie erleben, wenn im Lauf ihrer Behandlung Personen und Einrichtungen wechseln, zwei in vielerlei Hinsicht unterschiedliche Parallelwelten (Angebotsarten, Zielorientierung, Mitarbeiterhaltungen, Institutionskultur) – und müssen vor allem immer wieder die Übergänge dazwischen hinbekommen.

Gegenwärtig ist die Einbindung psychotherapeutischer Kompetenz in multiprofessionelle gemeindepsychiatrische Teams ebenso wenig die Regel, wie die Realisierung von Richtlinienpsychotherapie für psychosekranke Menschen. Der Umstand, dass sich ab 1999 nun auch Psychologen verstärkt als Psychotherapeuten niederließen und als Behandler zur Verfügung standen, hat nicht für eine Annäherung gesorgt, sondern die fachliche Zweiteilung eher noch verstärkt. Psychotherapie ist sozialrechtlich der medizinischen Welt der Behandlung zugeordnet. In der Eingliederungshilfe, in deren Rahmen sich die Betreuungs- und Rehabilitationsplanung in der Regel bewegt, ist Psychotherapie als Regelleistung nicht vorgesehen. Approbierte psychologische Psychotherapeuten kommen in gemeindepsychiatrischen Einrichtung entsprechend selten vor, werden mitunter sogar mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Und die (gemeinde-)psychiatrischen Einrichtungen haben es versäumt, den Nutzen dieser Kompetenz wahrzunehmen und ihrem Bedarf entsprechende Alternativen zu gestalten. Auf der Strecke bleibt der Anspruch der Klienten der Gemeindepsychiatrie auf psychotherapeutische Leistungen.

Ausgerechnet die Reform der Eingliederungshilfe könnte nun einen Veränderungsimpuls mit sich bringen. Das Bundesteilhabegesetz macht die Eingliederungshilfe zur Rehabilitationsleistung. Damit wird aus dem Ausfallbürgen ein Rehabilitationsträger mit klar beschriebenem Zuständigkeitsrahmen. Das begrüßte Bekenntnis zur bedarfsorientierten und passgenauen Hilfegewährung beinhaltet die Suche nach geeigneten Leistungen anderer Kostenträger und wird die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens von Komplexleistungen (d.h. mehrere beteiligte Kostenträger) deutlich erhöhen. Gerade psychotherapeutische Leistungen erscheinen da (neben z.B. Soziotherapie, Ergotherapie und ambulanter psychiatrischer Pflege) als sinnvolle Ergänzungen gemeindepsychiatrischer Eingliederungshilfeleistungen (Dochat, 2017).

Mehr Psychotherapie wagen in der Gemeindepsychiatrie

Der Versuch der Entwicklung einer eigenen fachlichen Identität in Abgrenzung zum medizinischen Krankheits- und Behandlungsverständnis mag historisch verständlich sein. Mit Blick auf die Anforderungen einer zukunftsfähigen Gestaltung kann der faktisch weitgehende Verzicht auf psychotherapeutische Kompetenz allerdings kein Denk-und Handlungsmodell sein.

In den letzten Jahren stellt eine wachsende Zahl von Menschen mit komplexem Hilfebedarf sowohl medizinische als auch gemeindepsychiatrische Einrichtungen vor neue Herausforderungen. Gemeint sind überwiegend jüngere Menschen, bei denen sich eine besonders explosive Mischung aus psychiatrischer Symptomatik, Verhaltensstörungen, sozialen Schwierigkeiten und selbst- und fremdgefährdendem Verhalten ergibt. Der (bequeme) Reflex, dass für schwierige Situationen die Klinik zuständig sei, kann hier nicht zielführend sein. Die Möglichkeiten rein medizinischer Therapie sind begrenzt. Im Vordergrund müssen am individuellen Bedarf orientierte Konzepte mit einem hohen Maß an Flexibilität und Kooperation stehen, an denen psycho- und milieutherapeutische Zugänge wesentlichen Anteil haben. Zukunftsfähige Lösungen können nur im Zusammenwirken aller Akteure entwickelt werden. Die Gemeindepsychiatrie bringt dabei eigene, von der Klinik verschiedene Kompetenzen ein, die sie über Jahrzehnte in ihrem Erfahrungsraum entwickelt hat.

Gerade schwere und lang andauernde psychische Störungen finden in einem Überschneidungsbereich von medizinischem und psychosozialem Hilfebedarf statt. Eine Psychose ist weder in ihrer Entstehung, noch in ihren funktionellen und sozialen Teilhabeauswirkungen als rein somatische Erkrankung zu erklären. Die medizinische Symptomatik ist eng verbunden mit gestörten Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung, eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten und oft auch sozialen Konflikt- und Problemlagen. Der Nutzen psychotherapeutischer Methoden liegt von daher unmittelbar auf der Hand. Psychotherapie kann helfen, zugrunde liegende Konflikte zu lösen, die Krankheit in die eigene Biographie einzuordnen, erlebte innere und äußere Welt einander anzunähern, die persönlichen Bewältigungskräfte zu stärken oder zu lernen, mit den bestehenden Ressourcen und Begrenzungen so gesund wie möglich zu leben.

Von daher wird deutlich, dass die Gemeindepsychiatrie es sich eigentlich nicht leisten kann, auf den möglichen Beitrag der Psychotherapie zu verzichten. Das Bekenntnis zu einer regionalen Versorgungsverantwortung für die Zielgruppe schwer psychisch kranke Personen erfordert gerade die Einbindung psychotherapeutischer Kompetenz in das multiprofessionelle Team. Sie kann auf unterschiedlichen Ebenen wirksam werden (Dochat, 2013):

  • Mitarbeiterqualifizierung und Etablierung einer psychotherapeutischen Grundhaltung
  • Konzeptionelle Gestaltung des Angebots und Prozessverantwortung
  • Teamberatung und Krisenintervention
  • Psychotherapeutische Intervention und Behandlung integriert ins Versorgungskonzept
  • Vorbereitung, Hinführung und Unterstützung von Klienten bei der Wahrnehmung externer psychotherapeutischer Angebote

Psychotherapie als Teil komplexer ambulanter Hilfen

Schwer oder chronisch psychisch kranke Menschen haben häufig mehrseitigen Hilfe- und Behandlungsbedarf und werden von mehreren Leistungserbringern unterstützt. Die Arbeit mit einem Psychotherapeuten kann Teil eines solchen Unterstützungsnetzes sein, muss sich aber auf die Bedingungen einstellen. Es wird sich häufig um eine Langzeitbegleitung mit flexiblem multimodalen Vorgehen handeln, mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlicher methodischer Schwerpunktsetzung je nach Krankheitsphase (z.B. Stützung und Stabilisierung, Reduktion der Symptombelastung, Psychoedukation, Erarbeitung von Selbstschutzstrategien, Training sozialer Kompetenzen, Bearbeitung familiärer Konflikte, soziale Reintegration, …). Der Therapieverlauf sollte abgestimmt sein mit den weiteren an Behandlung und Versorgung beteiligten Leistungen (z.B. unterstütztes Wohnen, ambulante psychiatrische Pflege, Ergotherapie, Soziotherapie, …).

Leider kommt diese Konstellation nicht allzu oft vor. Dabei ist die Einbeziehung psychotherapeutischer Praxen in die Betreuung einzelner Klienten nicht nur vorstellbar, sie wäre sogar ein sehr sinnvolles Modell. Oft scheitert sie allerdings an einer gewissen Unbeholfenheit in der Gestaltung der Kooperation. Viele niedergelassene Psychotherapeuten haben wenig Bezug zum (gemeinde-)psychiatrischen Hilfesystem. Sie stehen (gefühlt) als autonome Einheiten außerhalb fester Kooperationszusammenhänge.

Um für psychiatrisches Klientel (insbesondere schwer gestörtes) wirksam zu werden, brauchen psychotherapeutische Praxen ein Verständnis ihrer Arbeit als Teil eines Versorgungsnetzes, in dem eine enge Kooperation mit anderen beteiligten Diensten notwendig ist. Mit ihren jetzt erweiterten Kompetenzen können sie in diesem Netz durchaus eine Koordinationsfunktion von Hilfen übernehmen.

Die gemeindepsychiatrischen Leistungserbringer ihrerseits müssen stärker den Wert (auch externer) psychotherapeutischer Kompetenz als Bestandteil eines Komplexleistungspakets anerkennen. Sie sollten die aktive Kooperation mit niedergelassenen Psychotherapeuten suchen. Auch für Menschen mit wenig aktivem Hilfesuchverhalten kann Psychotherapie eine hilfreiche Option sein. Voraussetzung dafür ist aber eine gute Vorbereitung, Ermutigung, Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Therapeuten, Hinführung und stützende Begleitung, statt skeptischer Konkurrenz.

Psychotherapeutische Ressourcen in Kliniken und ihren Ambulanzen, in gemeindepsychiatrischen Institutionen und in psychotherapeutischen Praxen müssen abgestimmt zusammenwirken und eine Kontinuität der Behandlung sektorübergreifend sicherstellen.

  • Psychotherapie gehört in Klinik oder Institutsambulanz häufig zum Standard, endet aber meist mit der Behandlung dort. Wenn dies geboten ist, muss ein sinnvoller Anschluss organisiert werden.
  • Ein psychotherapeutisches Angebot in gemeindepsychiatrischen Einrichtungen stellt sicher, dass auch Menschen mit hohem Bedarf, aber wenig aktivem Hilfesuchverhalten erreicht werden. Im Sinne der Normalisierung sollten aber auch so oft wie möglich Klienten oder Bewohner zur Nutzung von psychotherapeutischen Praxen motiviert werden, wozu auch eine gute Vorbereitung und Heranführung gehört.
  • Hilfesuchende wenden sich auch direkt an psychotherapeutische Praxen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit wird in vielen Fällen sein, ob der niedergelassene Psychotherapeut die Bereitschaft zu einem flexiblen methodischen Vorgehen mitbringt. Die neuen Richtlinien erleichtern die Organisation und Koordination weiterer Hilfen.

Modellvorstellungen integrierter Versorgung

Ambulante Behandlung komplexer, mehrdimensionaler Erkrankungen braucht komplexe, abgestimmt arbeitende Behandlungsnetzwerke. Mit dem „funktionalen Basismodell gemeindepsychiatrischer Versorgung“ formulieren Steinhart und Wienberg (2014) eine umfassende Modellvorstellung eines komplexen Gesamtversorgungssystems. Sie sehen als Kerneinheit der Grundversorgung mobile Teams, die in der Lage sind, einen großen Teil des Behandlungs- und Krisenbedarfs ambulant aufzufangen. Das Angebot einer qualifizierten Krankenhausbehandlung bleibt dabei auch weiterhin unverzichtbar, allerdings nicht als Kern der Versorgung, sondern im Sinne einer zeitlich begrenzten Zugriffsmöglichkeit auf spezialisierte Ressourcen zur stationären Akutbehandlung. Psychotherapeutische Kompetenz ist in diesem Modell an zwei Stellen gefragt. Zum einen ist sie notwendiger Bestandteil in den multiprofessionellen Basisteams, als Basiskompetenz und Grundhaltung, als diagnostisches Situationsverständnis, bei Krisenintervention und ambulanter Akutbehandlung. Zum anderen steht Psychotherapie im engeren Sinne als spezifische Behandlungsoption bei entsprechender Indikation zur Verfügung.

Hier sehen sie auch die Funktion der niedergelassenen Psychotherapeuten. Voraussetzung dafür wäre, dass Psychotherapie in Kooperation eingebunden, abgestimmt mit anderen Unterstützungsformen stattfindet. Und dass die Praxen in der Lage sind, Interventionsformen zur Verfügung zu stellen, die dem Bedarf schwer psychisch kranker Menschen entgegenkommen. Sie regen an, dass die niedergelassenen Psychotherapeuten in jeder Versorgungsregion in Kooperation mit den Krankenkassen einen niedrigschwelligen Zugang zu ambulanten psychotherapeutischen Leistungen (»Akut-Psychotherapie«) schaffen, um lange Wartezeiten und daraus resultierende Krankenhausbehandlungen zu vermeiden (Steinhart & Wienberg, 2014).

Allerdings bleibt auch in diesem Modell das Grundproblem des bundesdeutschen Sozialrechts ungelöst, wie die Steuerung und Verknüpfung so systemverschiedener Leistungen zu einem sollbruchstellenfreien, bedarfsgerechten ambulanten Versorgungsnetz gelingen kann.

Auch bei der Einführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) steht der Gedanke einer wirksamen Steuerung komplexer Leistungen, die mehrere Kostenträger betreffen im Kern. Nachdem die 2002 im SGB IX eingeführten Regelungen zur Abstimmung von Rehabilitationsleistungen nicht die erhoffte Wirkung hatten, wird nun versucht, mit der Verpflichtung zu einer Gesamtplanung der Leistungen unter Steuerung des Eingliederungshilfeträgers mehr Verbindlichkeit zu erzwingen. Die Nagelprobe, ob bei der Gestaltung von Komplexleistungen die Abstimmung zwischen den beteiligten Kostenträgern tatsächlich besser gelingt, oder aber Leistungsansprüche in Zuständigkeitsauseinandersetzungen und Wartezeiten zerrieben werden, steht hier noch aus.

Die Krankenkassen haben insbesondere im Wege der §140a SGB V „Integrierte Versorgung (IV)“ und § 64b SGB V „Modellvorhaben zur Versorgung psychisch kranker Menschen“ versucht, durch innovative Alternativen neben dem starren Regelbetrieb Bewegung in die Versorgungslandschaft zu bringen. Mit Kliniken wurden Verträge abgeschlossen, die flexible sektorübergreifende Lösungen belohnen. Dem stehen Verträge mit gemeindepsychiatrischen Trägern gegenüber, die in der Akutbehandlung unabhängige Alternativen zur stationären Klinikversorgung entwickeln sollten.

Eine wirkliche integrierte Versorgung im Sinne eines koordinierten partnerschaftlichen Miteinanders ist auch in diesen Modellen nicht gelungen. Letztlich bestehen die Parallelwelten von klinischer Behandlung und gemeindepsychiatrischer Betreuung fort. Hier wurde die Lösung eher in einer Verschärfung der Konkurrenz gesucht. Die Verträge stellten eben keine wirkliche Systemverbindung zwischen SGB V und SGB IX bzw. XII her, sondern stärkten jeweils eine Seite der Dyade (Bock, 2013). Man sieht den verschiedenen Projekten nach wie vor an, ob sie aus der Klinik oder aus der gemeindepsychiatrischen Versorgung heraus entwickelt wurden. Sie haben in der Regel die Begrenzungen ihrer Herkunftssysteme nicht wirklich hinter sich gelassen. Allerdings sind dafür neben kulturellen und fachlichen Traditionen auch sehr unterschiedliche materielle Ausstattungen und Ressourcenbedingungen beider Systeme mitverantwortlich.

Auch die Hoffnung, dass es auf diesem Weg gelingt, Psychotherapie stärker als Regelleistung mit einzubinden (Bock, 2013; Dochat, 2013), ist nicht aufgegangen. Am stärksten - und durchaus erfolgreich - hat das Hamburger Modell der UKE (Lambert et al., 2010) Psychotherapie explizit regelhaft in das Behandlungskonzept aufgenommen. Gemeindepsychiatrische Projekte haben sich auch unter IV-Vertragsbedingungen der Psychotherapie kaum angenähert (z.B. im größten Verbund gemeindepsychiatrischer IV-Projekte, der Gesellschaft für psychische Gesundheit in Nordrhein-Westfalen - www.gpg-nrw.de, oder im Pinel-Netzwerk in Berlin - www.pinel-netzwerk.de).

Psychotherapeutische Praxen als Partner in ambulanten Behandlungsnetzwerken?

Eine echte Zusammenarbeit zwischen gemeindepsychiatrischen Teams und psychotherapeutischen Praxen ist für Viele noch schwer vorstellbar. Wie kann man regelmäßige Rückmeldungen zwischen Team und Therapeuten organisieren? Wie kann ein gemeindepsychiatrisches Team den Therapeuten praktisch unterstützen (z.B. Integration erlernter Skills in den Alltag)? Scheitern gemeinsame Zielplanung und Vereinbarung von Aufgabenteilung nicht schon an der fehlenden gemeinsamen Sprache? Wie gut sind Psychotherapeuten für solche Anforderungen des vernetzten Arbeitens gerüstet?

Im Prinzip verlangt die Richtlinienänderung von 2016 eine grundsätzliche Neuorientierung in der Arbeitsweise psychotherapeutischer Praxen, die vermutlich für viele noch gewöhnungsbedürftig ist. Das erkennt man auch an den ersten Ergebnissen zur Wirkung der veränderten Richtlinien. Die erweiterten Möglichkeiten werden durchaus genutzt, bisher bleibt ihr Einsatz aber noch stark auf dem Boden der gewohnten Arbeitsweise. So steht z.B. bei der psychotherapeutischen Sprechstunde die Abklärung der Indikation zur anschließenden Richtlinienpsychotherapie im Vordergrund (BPtK, 2018; Mong et al., 2018). Wie gut es letztlich gelingen wird, „das Potential“ zu nutzen, „diese wichtige Lotsenfunktion für den psychischen Bereich zu übernehmen und sich als erste kurzfristige Anlaufstelle für psychische Beschwerden zu etablieren“ (Mong et al., 2018, S. 335), bleibt abzuwarten.

Die Bereitschaft zum vernetzten Arbeiten, ein zentrales Merkmal der gewünschten Anlaufstellen- und Lotsenfunktion, ist bisher nicht für alle psychologischen Psychotherapeuten konstitutives Merkmal ihrer Tätigkeit. Und mit dem Inkrafttreten neuer Richtlinien stellen sich Kooperation und vernetztes Arbeiten noch nicht von selbst ein. Ihr Gelingen braucht gewisse Systemvoraussetzungen, wie z.B. funktionierende Kommunikationskanäle und Gremien, prozessuale Vereinbarungen über Fallkooperation. Insbesondere braucht es neben dem Überwinden von Systemkomplikationen und Kostenträgergrenzen auch persönliche Voraussetzungen. Sie beginnen schon mit der gegenseitigen Kenntnis über Art und Leistungsfähigkeit des jeweiligen Angebots. Solcher Austausch kann der Beginn einer kulturellen Annäherung, der Entwicklung eines gemeinsamen fachlichen Verständnisses sein. Ein geeintes Verständnis von Krankheit, von therapeutischer Grundhaltung, von Partizipation ist Grundlage einer wirksamen Zusammenarbeit im Sinne geteilter Verantwortung. Nicht zuletzt wegen des Fehlens solcher Voraussetzungen ist der beschriebene Graben zwischen medizinischer und gemeindepsychiatrischer Kultur bis heute eine schwer zu überwindende Systemgrenze geblieben.

Als schwerwiegendes Hindernis kommt noch hinzu, dass solcherlei Engagement nicht angemessen honoriert wird. Wenn Kooperation, Teilnahme an Koordinationsgremien, Vernetzungsarbeit die Erwartung der Kostenträger ist, müssen auch die materiellen Voraussetzungen für vernetztes Arbeiten verbessert werden. Die Motivation und Bereitschaft zur Kooperation sinkt natürlicherweise mit deren Kosten.

Und die Reform der Psychotherapeutenausbildung?

Die Chancen schwer und chronisch psychisch kranker Menschen auf psychotherapeutische Hilfe zu erhöhen, ist also ein komplexes Geschäft. Es braucht bei Psychotherapeuten ein erhöhtes Interesse an dieser Klientel und an vernetzten, multidisziplinären Arbeitsformen. Es braucht neben besserer Qualifikation vor allem auch Strukturen, die mehr Kontinuität und Flexibilität in der Verteilung von ambulanten und stationären Ressourcen erlauben. Und es braucht eine stärkere Berücksichtigung „der Belange ernsthaft psychisch erkrankter Menschen (…) – vom Psychologiestudium bis zur praktischen Weiterbildung“. Bock (2013, S.13) erwähnt hier u.a. explizit das Kennenlernen von integrierter psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung auch im ambulanten Kontext im Rahmen der praktischen Weiterbildung und die Verpflichtung, bei entsprechender Supervision auch Menschen mit Psychose-Erfahrung zu behandeln.

Betrachtet man unter diesem Blickwinkel die 2019 beschlossene Reform der Psychotherapeutenausbildung, so lässt sich durchaus das Interesse erkennen, einige der beschriebenen praktischen Beschränkungen anzugehen.

Munz (2020) formuliert es sogar als ein Ziel der Reform der Psychotherapeutenausbildung, „Weiterbildung in der und für die Gemeindepsychiatrie“ (S.39) zu ermöglichen. Dies erfordert zuallererst, dass gemeindepsychiatrische Handlungsfelder Lern- und Erfahrungsraum für Psychotherapeuten in Ausbildung werden. Dann wird es auch gelingen, mehr ausgebildete Psychotherapeuten für die Arbeit in der Gemeindepsychiatrie zu motivieren. Die Benennung des Ziels stellt allerdings nicht gleichzeitig ausreichende Kapazitäten bereit. Die Schaffung der dafür notwendigen personellen und organisatorischen Bedingungen ist noch ein weiter Weg. Wenn die Voraussetzung für die Ausbildung von Psychotherapeuten in der Gemeindepsychiatrie das Vorhandensein von Psychotherapeuten und von mit Ausbildungsstandards der Klinik vergleichbaren Arbeitsbedingungen für Weiterbildungskandidaten ist, dann kann es also noch dauern, bis die Gemeindepsychiatrie als gleichwertiges Praxisfeld verstanden wird. So wird die bessere Qualität psychotherapeutischer Versorgung in der Gemeindepsychiatrie zur Voraussetzung für deren Verbesserung.

Ein Punkt der zu Hoffnung Anlass gibt, ist der mit dem Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung verbundene Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), „für schwer psychisch kranke Patientinnen und Patienten mit einem komplexen psychotherapeutischen Behandlungsbedarf ein neues ambulantes Versorgungsangebot zu schaffen“. Gemeint sind „intensiv-psychotherapeutische Leistungen aus Einzel- und Gruppentherapie, medikamentöser Behandlung, Soziotherapie, häuslicher psychiatrischer Krankenpflege und Ergotherapie. Auch die Kooperation mit gemeindepsychiatrischen Einrichtungen und die systematische Berücksichtigung von Leistungen zur Teilhabe (…) soll durch dieses neue Versorgungsangebot gefördert werden“. Munz hofft dadurch auf einen erheblichen zusätzlichen Schub für die Kooperation von niedergelassenen Psychotherapeuten und Gemeindepsychiatrie (Munz, 2020, S. 39).

Das erinnert in angenehmer Weise an bereits bei Steinhart und Wienberg (2014) formulierte Forderungen. So würden nicht nur bedarfsgerechte Behandlungsformen für diese Zielgruppe geschaffen, es entstünde auch für die praktische Ausbildung ein dringend notwendiges neues Lern- und Erfahrungsfeld in der ambulanten psychiatrischen Versorgung.

Man darf gespannt sein, wie gut es dem G-BA gelingt, den Auftrag in diesem Sinne umzusetzen. Sowohl die bisherigen Erfahrungen mit dem G-BA als auch die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit geben allerdings zu Zweifeln Anlass. Vorläufig ist zu erwarten, dass der Alltag in Kliniken und ihren Ambulanzen als Lernbackground für die therapeutische Arbeit mit schwer psychisch kranken Menschen noch einige Zeit die Leiterfahrung in der Psychotherapieausbildung sein wird.

Es ist zu hoffen, dass die Neuordnung des Psychologiestudiums die Motivation der Weiterbildungskandidat*innen zu solcherart Tätigkeiten nicht schmälert. Die Engführung des bisherigen Psychologiestudiums zum Berufsbild des Psychotherapeuten mit mehr klinischen Inhalten in der neuen Ausbildungs- und Approbationsordnung könnte zu einer stärker medizinischen Orientierung der Psychotherapie auf Kosten einer originär psychologischen Fachidentität führen. Möglicherweise mit Folgen für die Einsicht in die Notwendigkeit des Brückenschlags zur Welt der Gemeindepsychiatrie.

Neue Chancen und Systemgrenzen

Richtlinienanpassung und Ausbildungsreform tun viel dafür, die Voraussetzungen für den Zugang schwer psychisch kranker Menschen zu psychotherapeutischen Leistungen zu verbessern. Zwangsläufig setzen die Reformen auf dem bisherigen Modell ambulanter Versorgung in autonomer freier Niederlassung auf. Sie erweitern die Kompetenzen von psychologischen Psychotherapeuten analog einer Arztpraxis. Das ist ein Gewinn an praktischer Handlungsfähigkeit, gleichzeitig bleiben damit aber auch einige Systemschwächen bestehen.

Mit der Reform der Psychotherapierichtlinie von 2016 wird psychotherapeutischen Praxen potentiell eine veränderte Versorgungsrolle zugewiesen. Fallbezogene Vernetzung sowie Aufbau und Koordination eines Hilfenetzes sind darin durchaus als Ziel angelegt, der zusätzliche Aufwand dafür wird aber kaum honoriert. Ein geringer Anreiz für Niedergelassene, in Kooperation zu investieren, sich auf interinstitutionelle Teamarbeit einzulassen. Zusätzlich bedeutet die Arbeit mit schwer psychisch kranken Menschen mehr Flexibilitätsanforderung, stärkere Planungsunsicherheit, höheres Ausfallrisiko und damit letztlich weniger Geld. Zu viele Patienten dieser Art gelten als unternehmerisches Risiko. Belohnt wird berechenbares Business as usual. Das Interesse an bedarfsgerechter Versorgung von schwer psychisch kranken Menschen und das Ausmaß der Bereitschaft zur Teilnahme an integrierten Versorgungsformen bleiben im Ermessen des Einzelnen.

Die ergriffenen Maßnahmen werden also voraussichtlich nur bis zu einem gewissen Grad in der Lage sein, die Versorgungssituation schwer psychisch kranker Menschen zu verbessern und die Attraktivität dieses Arbeitsfelds zu steigern. Durch das Hinzukommen weiterer Aufgaben und Arbeitsformen bei nicht wesentlich veränderter Zahl von Kassensitzen kann sich schon rein quantitativ an der Tatsache begrenzter Kapazitäten und unzumutbarer Wartezeiten in absehbarer Zeit nichts Wesentliches ändern. Sie werden auch weiterhin zu Selektionseffekten führen, die wie schon bisher psychiatrische Patienten verstärkt treffen. Einem deutlichen Ausbau des psychotherapeutischen Angebots für schwer psychisch kranke Menschen werden die Kostenträger Grenzen setzen, einer deutlichen Steigerung ihres Anteils an der Praxisklientel zu Ungunsten anderer Klientengruppen die Praxisbetreiber.

Literatur

Bock, T. (2013). Psychiatrie im Widerstreit der Interessen – Risiken und Chancen für die Zukunft. Forum Gemeindepsychologie, Jg. 18, 1-16.

Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) (2018). Studie: Ein Jahr nach der Reform der PsychotherapieRichtlinie – Wartezeiten 2018. Verfügbar unter: https://www.bptk.de/wp-content/uploads/2019/01/20180411_bptk_studie_wartezeiten_2018.pdf [24.09.20].

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg.) (2019). S3-Leitlinie Schizophrenie. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html [24.09.20].

Dochat, A. (2013). Psychosenbehandlung ohne Psychotherapeuten? Psychotherapie und psychotherapeutische Kompetenz im gemeindepsychiatrischen Team. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 2/2013, 419-425.

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Autor

Achim Dochat 
achimdochat@bitte-keinen-spam-web.de


Diplom-Psychologe, Soziologe M.A., Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor

Freiberufliche Tätigkeit (Supervision, Fortbildung, Beratung), bis Ende 2019 Leitung des Geschäftsfelds Sozialpsychiatrie bei der BruderhausDiakonie Reutlingen

Vorsitzender des Landesverbands Gemeindepsychiatrie Baden-Württemberg e.V.

 



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