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Ein Konstrukt im Werden: Saugwurzeln der Handlungsbefähigung

Heiner Keupp

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 27 (2022), Ausgabe 1]

 

Zusammenfassung

Das Konzept der Handlungsbefähigung, das in prägender Weise mit der Forschung von Renate Höfer und Florian Straus verbunden ist, hat sich über einen langen Weg entwickelt. Seine „Saugwurzeln“ haben aus unterschiedlichen Theorietraditionen und empirischen Projekten Inspirationen und Bauelemente bezogen. Dieser Weg ist eng verbunden mit dem Institut für Praxisforschung und Projektentwicklung (IPP) und den dort beheimateten Teams. Die Saugwurzeln holen sich Inspirationen aus der Forschung zu sozialen Netzwerken, zur Gesundheitsförderung, zur Identitätsentwicklung, zur Jugendhilfe, zum Capability-Ansatz und der Gemeindepsychologie. In diesem Beitrag wird rekonstruiert, in welchen Etappen die Aneignung dieser Forschungstraditionen erfolgte und zur Entwicklung eines differenzierten eigenständigen Konzepts genutzt wurde. Zentral ist die Haltung einer wissenschaftlichen Reflexion, die auf die aktive Veränderung sozialer Gegebenheiten setzt und darin wichtige Erkenntnismöglichkeiten sieht bzw. sozialwissenschaftliches Reflexionswissen nutzt, um eine komplexe soziale Realität begreifend zu erfassen.


Schlüsselwörter:
Handlungsbefähigung, Gemeindepsychologie, Identitätsentwicklung, Salutogenese, Jugendhilfe, Capability

 

Summary

A construct in the making: suction roots of Handlungsbefähigung

 

The concept of Handlungsbefähigung, which is associated in a formative way with the research of Renate Höfer and Florian Straus, has developed over a long path. His “sucker roots” drew inspiration and components from different theoretical traditions and empirical projects. This path is closely linked to the Institute for Practical Research and Project Development (IPP) and the teams based there. The suction roots get inspiration from research on social networks, health promotion, identity development, youth welfare, the capability approach, and community psychology. This article reconstructs the stages in which these research traditions were adopted and used to develop a differentiated, independent concept. Central is the attitude of scientific reflection, which relies on the active change in social circumstances and sees important opportunities for knowledge in this or uses social scientific reflective knowledge to grasp a complex social reality.


Keywords: Handlungsbefähigung, community psychology, identity development, salutogenesis, youth welfare, capability

 

 

Bei der Frage, wie neue wissenschaftliche Konzepte entstehen, wird gerne deren Repräsentanten Bescheidenheit empfohlen und auf ein Gleichnis verwiesen, das auf Bernhard von Chartres um 1120 zurückgeht. Das Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern von Riesen soll aufzeigen, dass aktuelle wissenschaftliche Innovationen nicht ohne Leistungen früherer Generationen zu erklären sind. Robert K. Merton (1983) hat, orientiert an diesem Bild, die sozialwissenschaftliche Theorieentwicklung rekonstruiert. Für uns Heutige mag die Selbsteinordnung als Zwerge kränkend klingen, aber unstrittig ist, dass wir die Welt nie neu erfinden können und wir können auch beeindruckende neue Konzepte nie ohne die vorausgehenden Wissensbestände begreifen, auch wenn wir über sie hinaus gehen oder eine bewusste Gegenposition einnehmen. Das gilt auch für das Konstrukt der Handlungsbefähigung, dessen aktuelle Fassung von Renate Höfer und Florian Straus zweifellos als Weiterentwicklung einzuordnen ist. Aber Renate und Florian sind keine Zwerge, und das so oft bemühte Gleichnis von Riesen und Zwergen verfehlt hier eindeutig seine Passform. Deshalb suche ich ein anderes Bild und spreche von Saugwurzeln, die aus unterschiedlichen Quellen Ressourcen holen und in ihrem Zusammenspiel neue Produkte entstehen lassen.
Das Konzept der Handlungsbefähigung, wie es von Renate Höfer und Florian Straus zuletzt vorgestellt wurde (Höfer & Straus, 2018), hat sich über einen langen Weg entwickelt, und seine Saugwurzeln haben aus unterschiedlichen Theorietraditionen und empirischen Projekten Inspirationen und Bauelemente bezogen. Dieser Weg ist eng verbunden mit einem Institut, dem Institut für Praxisforschung und Projektentwicklung (IPP), das seine Selbstreproduktion auf der Basis einer Vielzahl von Drittmittelprojekten und an der Beteiligung von zwei Sonderforschungsbereichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft über mehr als vier Jahrzehnte sicherte. Da ich diesen Weg aus nächster Nähe und oft teilnehmend verfolgen konnte, war ich ein sich einmischender Wegbegleiter. Unsere Kooperation erfolgte unter der fachlichen Perspektive der reflexiven Sozialpsychologie, die das Erleben und Handeln von Subjekten aus ihrem Eingebundensein in spezifische Lebenswelten und deren gesellschaftlich-kulturellen Rahmungen zu begreifen versucht.
Die relevanten Saugwurzeln haben vor allem aus unterschiedlichen Diskursen und Forschungstraditionen Inspirationen bezogen und diese in ein eigenständiges Forschungsprofil integriert und dadurch auch weiterentwickelt:

  • Netzwerkforschung
  • Gemeindepsychologie
  • Gesundheitsförderung: Salutogenese
  • Identitätsentwicklung
  • Jugendhilfeforschung
  • Capability-Forschung
  • Individualisierungstheorie.
Abb. 1: Die Saugwurzeln des Konzepts der Handlungsbefähigung


Dieses integrative Modell der Verknüpfung von Forschung und Praxis kommt in solchen Wortschöpfungen zum Ausdruck, die in den Diskursen der Gemeindepsychologie geprägt wurden: Gemeindepsycholog:innen seien „teilnehmende Konzeptbildner“ oder „reflektierende Praktiker“ (Dokecki, 1992). Auch die qualitative Forschung, die an subjektiven Bedeutungskonstruktionen ansetzt, eröffnet eine besondere methodische Vorgehensweise in partizipatorischer Forschung (Nelson & Evans, 2014).
Im Weiteren sollen zentrale Entwicklungsschritte im Theoriebildungsprozess des IPP-Teams nachgezeichnet werden.

Ressourcen als Bedingungen für ein gutes Leben

Einen ersten fachlichen Fußabdruck haben Renate Höfer und Florian Straus mit ihren Teamkollegen (Wolfgang Buchholz und Wolfgang Gmür) bei einem Projekt hinterlassen, das vom SOS-Kinderdorf e.V. finanziert worden war (Buchholz, Gmür, Höfer & Straus, 1988). Es ging um die Lebenswelt von Menschen in dem Münchner Neubauviertel Neuperlach, mit einem hohen Anteil benachteiligter Familien. Da gab es keine über Generationen gewachsenen Milieus, sondern Familien wurden aus Altstadtvierteln dorthin verpflanzt und sie landeten in Wohnblocks, die ihnen zwar eine verbesserte Wohnqualität boten, aber kein gewachsenes Netzwerk. Gezielt hatte der SOS-Kinderdorf e.V. in diesem Stadtviertel auch eine Familienberatungsstelle eröffnet, um Familien in prekären Lebensverhältnissen psychosoziale Hilfs- und Unterstützungsangebote zu machen. Die Aufgabe des Forschungsprojektes bestand darin, herauszufinden, ob Familien so ein professionelles psychosoziales Hilfsangebot wahrnehmen. Auch die Frage sollte untersucht werden, ob sich die Familien überhaupt ein realistisches Bild machen konnten von so einem Angebot und ob es eventuell im Widerspruch zu ihrer Einstellung steht, mit Problemen in Erziehung und Beziehung allein fertig werden zu müssen.
Es ging in dieser ersten mehrjährigen Etappe um die Passung lebensweltlicher Erfahrungen und damit verbundenen psychosozialen Belastungen und dem Profil professioneller Dienstleitungen. Der Hintergrund war der lebendige kritische Diskurs zur Mittelschichtlastigkeit von Beratungseinrichtungen und der Beobachtung, dass vor allem benachteiligte Familien davon kaum profitieren konnten, weil die Einbindung in ihre Lebenswelt nicht existierte. Die Kritik war von der Überzeugung getragen, dass die Ressourcen für ein gelingendes und gutes Leben in einer Klassengesellschaft ungleich verteilt sind und deshalb sozialpolitisch gegengesteuert werden müsste. Durch eine gute psychosoziale Infrastruktur sollten benachteiligten Familien neue Zugänge zu psychosozialen Ressourcen durch professionelle Hilfsangebote beschaffen werden. Das, was böse Zungen aus der universitären Klinischen Psychologie zynisch als „Unterschichtbeglückung“ bezeichnet haben, war ein wichtiger gemeindepsychologischer Basisansatz, der vor allem in der existierenden Landschaft von Erziehungs- und Familienberatungsstellen Widerstände erzeugt hat, aber auch Existenzängste ausgelöst hat, weil das bayerische Sozialministerium sich diese Position in ihren Förderkriterien zu eigen gemacht hatte.
In dieser Entwicklungsphase der theoretischen Fundierung wurde explizit an die Belastungs-Bewältigungsforschung angeknüpft, die sich international immer mehr aus der klassischen Stressforschung herausentwickelt hatte und in deren Zentrum nicht die klinisch relevanten Folgen von Belastungen im Sinne von Krankheiten und Störungen standen, sondern die Fragen, wie Bewältigungsprozesse möglich sind und welche Ressourcen dafür erforderlich sind und gefördert werden sollten.
Ein weiteres IPP-Projekt, das von diesem Profil bestimmt war, richtete sich auf Maßnahmen der berufsbezogenen Jugendhilfe. Es konnte gezeigt werden, dass solche Jugendhilfeangebote erfolgreich negative Karrieren von Jugendlichen verhindern können, weil ihre Bewältigungsressourcen durch gute Sozialarbeit belegbar gefördert werden konnten und sie so einen erfolgreichen Einstieg in die Berufswelt gefunden haben, was sie ohne diese Angebote kaum geschafft hätten1. In einer Expertise für den 13. Kinder- und Jugendbericht hat Florian Straus (2010) die erfolgreichen Komponenten aus den Erfahrungen der berufsbezogenen Jugendhilfe mit weiteren Saugwurzeln kombiniert, die inzwischen in weiteren Projektetappen angeeignet wurden, die eindeutig die Belastungs-Bewältigungsforschung ergänzen und weiterführen konnten. Es sind Ansätze aus dem Bereich der Gesundheitsförderung und der Identitätsforschung.

Identitätsentwicklung in der Spätmoderne

In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand für das IPP eine Chance, ein Projekt zur Grundlagenforschung im Rahmen eines Sonderforschungsbereiches mit dem Titel „Zukunft der Arbeit“ über fast ein Jahrzehnt durchzuführen. Der Titel unseres Projektes lautete „Diskontinuierliche Erwerbsverläufe, soziale Netzwerke und Identitätsentwicklung junger Erwachsener“. Es war die Chance eine Forschungsidee umzusetzen, die ich 1988 entwickelt hatte (Keupp, 1988). Im Mittelpunkt dieser Idee und dann auch im Mittelpunkt des bewilligten Längsschnittprojektes war die sozialpsychologische2 Resonanz auf die aktuellen soziologischen Diskurse, die eine Strukturveränderung der Gesellschaft im Sinne einer zunehmenden Individualisierung annahmen. Die sogenannte Individualisierungstheorie wurde vor allem von Ulrich Beck (1986), der auch diesen Sonderforschungsbereich leitete (vgl. Beck & Bonß, 2001), vertreten und immer weiter elaboriert. Der sozialpsychologische Reflex führte zu der Frage, ob diese gesellschaftlichen Strukturveränderungen notwendigerweise auch das Innenleben der Subjekte betreffen, also ihre Identität. Die Anknüpfung an die vorausgehenden Forschungsaktivitäten des IPP bestand darin, dass wir vor allem auch die Ressourcen für die Identitätsbildung in den Blick nahmen und bewusst die empirische Forschung auf Jugendliche und junge Erwachsene konzentrierten, deren Lebensbedingungen eher prekär waren.
Das Konzept von Erikson, das als Klassiker der Identitätsforschung galt, ist einem kritischen Diskurs ausgesetzt gewesen, weil es offensichtlich unauflöslich mit dem Projekt der Moderne verbunden schien. Es überträgt auf die Identitätsthematik ein modernes Ordnungsmodell regelhaft-linearer Entwicklungsverläufe. Es unterstellt eine gesellschaftliche Kontinuität und Berechenbarkeit, in die sich die subjektive Selbstfindung verlässlich einbinden kann. Gesellschaftliche Prozesse, die mit Begriffen wie Individualisierung, Pluralisierung, Globalisierung angesprochen sind, haben das Selbstverständnis der klassischen Moderne grundlegend in Frage gestellt. Der dafürstehende Diskurs der Postmoderne hat auch die Identitätstheorie erreicht. In ihm wird ein radikaler Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität vollzogen. Es wird unterstellt, „dass jede gesicherte oder essentialistische Konzeption der Identität, die seit der Aufklärung den Kern oder das Wesen unseres Seins zu definieren und zu begründen hatte, der Vergangenheit angehört“ (Hall, 1994, S. 181).
In der Dekonstruktion grundlegender Koordinaten modernen Selbstverständnisses sind vor allem Vorstellungen von Einheit, Kontinuität, Kohärenz, Entwicklungslogik oder Fortschritt zertrümmert worden. Begriffe wie Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch, Zerstreuung, Reflexivität oder Übergänge sollen zentrale Merkmale der Welterfahrung thematisieren. Identitätsbildung unter diesen gesellschaftlichen Signaturen wird von ihnen durch und durch bestimmt. Identität wird deshalb auch nicht mehr mit als Entstehung eines inneren Kerns thematisiert, sondern als ein Prozessgeschehen beständiger „alltäglicher Identitätsarbeit“, als permanente Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten. Die Vorstellung von Identität als einer fortschreitenden und abschließbaren Kapitalbildung wird zunehmend abgelöst durch die Idee, dass es bei Identität um einen „Projektentwurf' des eigenen Lebens“ (Fend, 1991, S. 21) geht oder um die Abfolge von Projekten, wahrscheinlich sogar um die gleichzeitige Verfolgung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Projekte über die ganze Lebensspanne hinweg.
Architekt:in und Baumeister:in des eigenen Lebensgehäuses zu werden, ist allerdings nicht nur Kür, sondern in einer grundlegend veränderten Gesellschaft zunehmend Pflicht. Es hat sich ein tiefgreifender Wandel von geschlossenen und verbindlichen zu offenen und zu gestaltenden sozialen Systemen vollzogen. Nur noch in Restbeständen existieren Lebenswelten mit geschlossener weltanschaulich-religiöser Sinngebung, klaren Autoritätsverhältnissen und Pflichtkatalogen. Die Möglichkeitsräume haben sich in pluralistischen Gesellschaften explosiv erweitert. In diesem Prozess stecken enorme Chancen und Freiheiten, aber auch zunehmende Gefühle des Kontrollverlustes und wachsende Risiken des Misslingens. Die qualitativen Veränderungen in der Erfahrung von Alltagswelten und im Selbstverständnis der Subjekte könnte man so zusammenfassen: Nichts ist mehr selbstverständlich so wie es ist, es könnte auch anders sein; was ich tue und wofür ich mich entscheide, erfolgt im Bewusstsein, dass es auch anders sein könnte und dass es meine Entscheidung ist, es so zu tun. Das ist die unaufhebbare Reflexivität unserer Lebensverhältnisse: Es ist meine Entscheidung, ob ich mich in einer Gewerkschaft, in einer Kirchengemeinde oder in beiden engagiere oder es lasse.
In dieser aufgemischten Diskursarena hat sich auch eine gesellschaftswissenschaftlich inspirierte Identitätsforschung zu positionieren. Ihr Spezifikum ist die Thematisierung der Subjekt-Struktur-Schnittstelle. Die industrielle Moderne hat für die Integration der Subjekte in gesellschaftliche Strukturen spezifische Grundmuster ausgebildet, die eine epochenspezifische Passung von sozialstrukturellen Anforderungen und individuell-biographischen Formen der Lebensführung und Identitätsentwicklung ermöglicht haben. Erwerbsbezogene Normalbiografien, geschlechtsspezifische Formen der Arbeitsteilung, soziale Sicherungssysteme oder innovative Formen der Vergemeinschaftung haben in der industriellen Moderne Lebensformen ermöglicht, die zumindest die normative Erwartung einer dauerhaften Subjekt-Struktur-Synchronisation begründet haben. Sie haben den Status von Basisprämissen gesellschaftlicher Reproduktion angenommen. Subjektspezifische soziale Integrationsleistungen – die sich in den Grundgefühlen von Vertrauen, Sicherheit, Zugehörigkeit und Kontinuität äußern – schienen über diese Grundmuster industriegesellschaftlicher Lebensformen garantiert.
Die gesellschaftlichen Passungsangebote verlieren jedoch in der „zweiten Moderne“ an Prägekraft für individuelle Biografien und die alltägliche Lebensführung. Subjekte werden mit der wachsenden Notwendigkeit konfrontiert, für die eigene Lebensorganisation bedürfnisgerechte Muster selbstständig zu entwickeln. Auf die bislang als gültig betrachteten »Normalformtypisierungen« als regulierende Prinzipien für die private und berufliche Lebenswelt ist kein Verlass mehr. Vorstellungen von Lebenssicherheit, von eindeutiger und fester sozialer Verortung, von innerfamiliärer Arbeitsteilung oder von der identitätsstiftenden Qualität der Erwerbsarbeit werden in Zweifel gezogen.
Die Bewältigung der Gestaltungsaufgaben, die der Individualisierungsprozess immer mehr den Subjekten überträgt, setzt ein handlungsfähiges Subjekt voraus, das über den Zugang zu den notwendigen Ressourcen verfügt und diesen auch wahrnimmt. Die von Bourdieu konzipierten Kapitalsorten zeigen, welche Gestaltungsressourcen unabdingbar sind, um sich sowohl in der individuellen Lebensführung als auch im Aufbau passförmiger Netzwerke als selbstwirksam zu erleben. Coté & Levine (2002) haben in diesem Zusammenhang das Konzept des „Identitätskapitals“ entwickelt. Dieses bezeichnet die Summe aller Eigenschaften bzw. Merkmale, die ein Individuum in der Interaktion mit anderen Individuen erworben bzw. zugewiesenen bekommen hat.
Mit welchen Bildern oder Metaphern können wir die aktuelle Identitätsarbeit zum Ausdruck bringen? Schon eigene Alltagserfahrungen stützen die Vermutung, dass von den einzelnen Personen eine hohe Eigenleistung bei diesem Prozess der konstruktiven Selbstverortung zu erbringen ist. Sie müssen Erfahrungsfragmente in einen für sie sinnhaften Zusammenhang bringen. Diese individuelle Verknüpfungsarbeit haben wir “Identitätsarbeit” genannt, und ihre Typik haben wir mit der Metapher vom “Patchwork” auszudrücken versucht. Dieser Begriff hat schnell sein Publikum gefunden und sich teilweise auch von unserer Intention gelöst. Wir wollten mit ihm die Aufmerksamkeit auf die aktive und oft sehr kreative Eigenleistung der Subjekte bei der Arbeit an ihrer Identität richten.
Identitätsarbeit hat eine innere und äußere Dimension. Eher nach außen gerichtet ist die Dimension der Passungs- und Verknüpfungsarbeit. Unumgänglich ist hier die Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit, von Anerkennung und Integration. Eher nach innen, auf das Subjekt bezogen ist Synthesearbeit zu leisten, hier geht es um die subjektive Verknüpfung der verschiedenen Bezüge, um die Konstruktion und Aufrechterhaltung von Kohärenz und Selbstanerkennung, um das Gefühl von Authentizität und Sinnhaftigkeit. Die Kohärenzdimension hatte in dieser Forschungsetappe schon eine besondere Bedeutung und sie wurde in unserer Phase der Gesundheitsforschung noch bedeutsamer. Renate Höfer hat mit ihrer Dissertation einen entscheidenden Beitrag zur Verknüpfung von Identitäts- und Gesundheitsforschung geleistet (Höfer, 2000) und wiederholt haben wir uns dieser Schnittstelle verschiedener Konzepte genähert (Keupp, 2006; Höfer & Straus, 2018).

Gesundheitsförderung im Sinne von Befähigung

Bei der Erarbeitung des 13. Kinder- und Jugendberichts (Deutscher Bundestag, 2009; Keupp, 2020), für den ich als Kommissionsvorsitzender die Verantwortung trug, konnte ich in hohem Maße aus unserem IPP-Forschungsrepertoire schöpfen. Wir hatten uns in einem Public-Health-Forschungsverbund mit dem Thema Jugend und Gesundheit beschäftigt und da vor allem mit der Lebenssituation benachteiligter Jugendlicher. Mit bewährten Skalen und Forschungsinstrumenten3 haben wir uns der gesundheitlichen Situation Heranwachsender genähert. Es wurde sehr bald klar, dass objektivierbare Lebensbedingungen wie der soziale Status, die Bildungsbiografie, Migrationshintergrund oder Familienkonstellation zwar wichtige Erklärungsfaktoren für das Befindlichkeitsniveau Heranwachsender bilden, aber es war evident, dass eine vergleichbare Konstellation solcher Bedingungsfaktoren keine Erklärung dafür liefern konnte, warum es im Gesundheitsstatus erhebliche Unterschiede gab. Darauf einsichtige Antworten zu finden, ermöglichten uns zum einen qualitative Interviews und die Kohärenzskala, die Aaron Antonovsky (1997) in seinem Salutogenesekonzept entwickelt hatte. Bei diesem Schritt konnten wir unsere sozialpsychologische Ausrichtung in einem spezifischen Sinne eingelöst sehen. So wichtig sozioökonomische Strukturkategorien für unsere Forschung waren, hat sich jetzt gezeigt, dass Handeln und Erleben von Subjekten ohne ihre subjektiven Perspektiven auf ihre eigene Lebenssituation, ihre persönlich angeeigneten Ressourcen und ihre Sinnkonstruktionen nicht verständlich werden.Dieser so gewonnene Zugang ermöglichte eine spezifische Sicht auf die Subjekte und eine damit verbundene Leitidee von Gesundheitsförderung: Anzustreben ist ein möglichst selbstbestimmt entscheidendes, handlungsfähiges Subjekt, das erforderliche Ressourcen einsetzen kann, um Stressoren zu bewältigen, und so in der Lage ist, die eigene Gesundheit zu erhalten oder wiederzugewinnen. In diesem Verständnis ist es dann die Aufgabe von Institutionen, Heranwachsende bei der Entwicklung dieser Ressourcen zu unterstützen, aber auch im Sinne von Empowerment Strukturen zu schaffen, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene in der Wahrnehmung ihrer Rechte stärken und ihnen zu mehr Handlungsfähigkeit verhelfen. In dem Empfehlungsteil des 13. Kinder- und Jugendberichts wird diese Positionierung exemplarisch deutlich: In der 5. Empfehlung wird die „Befähigungsgerechtigkeit“ genannt und so begründet:

 

„Es gibt gesellschaftliche Segmente, in denen ein gesundes Aufwachsen deshalb bedroht ist, weil in ihnen die erforderlichen Entwicklungs- und Widerstandsressourcen nicht vorhanden sind und an Heranwachsende weitergegeben werden können. Hier ist vor allem die wachsende Armut zu nennen, die in überproportionaler Weise Kinder und Jugendliche betrifft. Die Orientierung am Ziel der Befähigungsgerechtigkeit verpflichtet zu Fördermaßnahmen, die allen Heranwachsenden die Chance gibt, die Entwicklungsressourcen zu erwerben, die zu einer selbstbestimmten Lebenspraxis erforderlich sind. Dabei gilt es, aktiv an den jeweiligen Ressourcen gerade sozial benachteiligter Heranwachsenden anzuknüpfen, statt diese implizit und explizit zu entwerten.“

 

Die Grundidee von Gesundheitsförderung, die hier anklingt, ist in der Ottawa-Charta formuliert worden: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen“ (Weltgesundheitsorganisation, 1986, S. 4)4. Es wird Bezug genommen auf die Norm des selbstbestimmten Handelns, und zugleich wird diese Norm an die strukturellen Bedingungen gebunden, die Selbstbestimmung ermöglichen. Hier geht es um eine Koppelung von Subjekt und Struktur, wie sie etwa Anthony Giddens (1997) in seiner Strukturationstheorie formuliert hat. Grundlage dafür ist ein handlungstheoretisches Denkmodell, mit dem sich die Handlungen der Subjekte systematisch auf die gesellschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen beziehen lassen.
Was bildet die Voraussetzung von Handlungsfähigkeit? Eine erste Antwort gibt die „Agency“-Theorie von Albert Bandura (1997), die die Bedeutung von Selbstwirksamkeitserfahrungen herausstellt. Heranwachsende erleben ihre Selbstwirksamkeit in Alltagssituationen, in denen sie eigene Optionen entwickeln und erproben. Sie können auf diese Weise in ihren Lebenswelten Grundlagen für ihre Handlungsfähigkeit und ein Vertrauen in die eigene Handlungswirksamkeit erwerben. Wenn die aktuelle Sozialisationsforschung von „Handlungsbefähigung“ spricht (Grundmann et al., 2006; Grundmann, 2008), dann geht sie über die persönlichkeitstheoretische Perspektive hinaus und fragt nach den gesellschaftlichen Bedingungen für das Erlangen von Handlungsfähigkeit. In den Erfahrungsräumen unterschiedlicher Milieus und institutioneller Settings, in denen sich junge Menschen bewegen, gibt es ganz unterschiedliche Verwirklichungschancen – dies nicht zufällig, sondern strukturell bedingt. Entsprechend unterschiedlich wird selbstbestimmtes Handeln gefördert oder behindert. Wichtig ist hier die begriffliche Unterscheidung zwischen „Handlungsfähigkeit“ und „Handlungsbefähigung“ zu erklären. In der Befähigungsbetonung steckt der Anspruch, nicht nur einen Status der Selbstwirksamkeit zu benennen, sondern die Möglichkeit und auch Notwendigkeit im Sinne von Empowerment zu stärken. Die meisten Projekte, die im IPP durchgeführt wurden und die wichtige Schritte der Konzeptentwicklung ermöglichten, bezogen sich auf Personengruppen, für die wohlfahrtsstaatliche Förderprogramme initiiert wurden.

Anknüpfung an den Capability Approach und seine Weiterentwicklung

Nach Vorlage des 13. Kinder- und Jugendberichts war bei den Verantwortlichen (neben mir, als dem Vorsitzenden, und dem Deutschen Jugendinstitut, vertreten durch Christian Lüders) der starke Wunsch vorhanden, das in dem Bericht entwickelte konzeptionelle Verständnis der Gesundheitsförderung weiterzuentwickeln und dazu Forschungen zu initiieren. Diesem Wunsch kam die hohe Resonanzbereitschaft im Sozialpädagogischen Institut des SOS- Kinderdorfvereins entgegen. 2010 wurde dem Verein ein Forschungskonzept vorgelegt, gezeichnet von Christian Lüders, Renate Höfer, Heiner Keupp und Florian Straus. In ihm wird u.a. formuliert: „Im Kern zielen die Kinderdörfer also auf die Befähigung von Kindern und Jugendlichen und bieten dafür ein spezifisches vernetztes familienförmiges Setting. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, für die geplante Studie auf einen Ansatz zurückzugreifen, der das Zusammenspiel von Befähigung und Verwirklichungschancen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Der auf den Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen zurückgehende und international mittlerweile breit diskutierte Capability-Ansatz bietet sich deshalb als Rahmenkonzept für die Studie geradezu an.“ Bevor über das konkrete Projekt zu berichten ist, das ja in seinem Längsschnittformat noch immer den Weg von jungen Erwachsenen verfolgt, die in den Kinderdörfern gefördert wurden, ist aber noch der Aneignungsdiskurs zum Capability-Ansatz zu reflektieren, der nicht ohne seine kritische Einschätzung stattgefunden hat.
In der von Grundmann vorgenommenen Positionierung des Konzepts der Handlungsbefähigung wird deutlich, dass dieses Konzept die Subjekt-Struktur-Koppelung braucht, die das Markenzeichen der reflexiven Sozialpsychologie und der Gemeindepsychologie ausmacht (Keupp, 2016). Das gelingt Grundmann in seiner Einbeziehung des Capability Approaches. Er kann zeigen, „dass sich Agency- und Capability-Forschung hervorragend ergänzen, indem die personalen und gesellschaftlichen Dimensionen von Handlungsbefähigung systematisch aufeinander bezogen werden können“ (Grundmann, 2008, S. 131 f.).
In der Capability-Forschung wird das Handeln von Subjekten in differenzierter Weise kontextualisiert und zugleich normativ verortet. Es geht um Freiheit und Selbstwirksamkeit, aber nicht als abstrakte Wunschmaschine, sondern als Verwirklichungschancen, die sehr konkret benannt werden können. Auf diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass sich in der gemeindepsychologischen Fachliteratur diese Entdeckung nur sehr vereinzelt auffinden lässt (Keupp, 2012; Shinn, 2014; 2015; Bergold, 2019). In der benachbarten Sozialpsychiatrie ist der Ansatz auf mehr Resonanz gestoßen (vor allem bei Speck & Steinhart, 2016; Steinhart & Speck, 2016). Einen Publikationsboom hat der Capability Approach in der Sozialpädagogik ausgelöst. Die meisten Publikationen zeigen eine hohe Identifikation mit den Grundideen dieses Ansatzes (z.B. Otto & Ziegler, 2008, 2010; Schneider & Otto, 2009; Sedmak, Babic, Bauer & Posch, 2011; Knecht & Schubert, 2012; Röh, 2013), aber es gibt auch kritische Stimmen (z.B. Knecht, 2010; Mührel, Niemeyer & Werner, 2017).
Begriffe wie Capability oder Verwirklichungschancen sind vor allem in der Politikwissenschaft, der Sozialpädagogik, der Armutsforschung und den Gesundheitswissenschaften sehr prominent und haben disziplinspezifisch neue Perspektiven versprochen, Hoffnungen geweckt, aber auch Skepsis ausgelöst hat. Man kennt die modischen Konjunkturen, die euphorisch aufgegriffen werden, aber sich dann auch im Abstand von einigen Jahren verflüchtigt haben. Die Fachszenen beruhigen sich, um dann zu bewährten Theorietraditionen zurückzukehren. Wenn man sich schon etwas länger mit Gesundheitsförderung beschäftigt, dann verfügt man über einen guten Vorrat von Konzepten, über die Forschungsperspektiven und Praxisansätze begründet werden können: Die Ottawa-Charta der WHO gehört dazu ebenso wie Salutogenese, Resilienz, Empowerment, Ressourcen oder Partizipation. Wir haben gute Argumente, um Strategien der Gesundheitsförderung und Prävention bestimmen und abgrenzen zu können und wir operieren in diesem Zusammenhang mit unserem Wissen über Risiko- und Schutzfaktoren. Kann da der Capability-Ansatz mehr liefern als einen modischen Eyecatcher?
Wenn wir nur über einen Präventionsansatz verfügen würden, in dem Expert:innen für Gesundheit und Krankheiten die Risikokonstellationen herausarbeiten, die krankheitsförderlich sind, um dann Programme aufzulegen, die geeignet sind, Risikofaktoren zu minimieren, dann würde der Capability-Ansatz eine ganz neue Perspektive eröffnen. Denn im Zentrum dieser neuen Sichtweise würde das Subjekt mit seiner prinzipiellen Freiheit stehen, den eigenen Lebensweg zu bestimmen und zu gehen. Die damit verbundene zentrale Frage bezieht sich auf die individuelle Verfügbarkeit von Chancen und Ressourcen, die eigenen Vorstellungen eines „guten Lebens“ auch realisieren zu können.
Oder nehmen wir einen weiteren essentiellen Theoriebaustein der Gesundheitsförderung, das Modell der Salutogenese (Antonovsky, 1997). Dieses Modell geht von der Prämisse aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb einer spezifischen soziokulturellen Welt als Potential gegeben sind. Sie hängen von dem kulturellen, materiellen und sozialen Entwicklungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit organismisch-konstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immunsystem einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellen ist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen sind ‘symbolisches Kapital’, also Intelligenz, Wissen und Bildung. Eine zentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich-Identität, also eine emotionale Sicherheit in Bezug auf die eigene Person. Die Ressourcen einer Person schließen als zentralen Bereich seine zwischenmenschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von anderen Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen. Das Kernkonzept der Salutogenese knüpft an diesen Ressourcen an und geht dann aber noch einen entscheidenden Schritt weiter: Mit dem „Kohärenzgefühl“ und seinen spezifischen Dimensionierungen geht es um die subjektspezifische Transformation der verfügbaren Ressourcen in die Handlungsfähigkeit, also die subjektive Einschätzung, für sich selber in dem eigenen Lebensfeld etwas im Sinne eigner Lebensziele bewegen und beeinflussen zu können. Diese Umsetzung von Ressourcen in selbstbestimmtes Handeln stellt die entscheidende konzeptionelle Brücke zwischen Grundkonzepten der Gesundheitsförderung mit dem Capability-Ansatz dar (vgl. Marmot, 2004). Diese Brücke wird vor allem durch die Nutzung zentraler philosophischer und sozialpolitischer Diskurse bestärkt und befestigt. Und sie eröffnet auch den Zugang zu der Frage, wie Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft ausbuchstabiert werden sollte.
Widerstandsressourcen würde Amartya Sen (2000a, 2010), der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, als ‘Verwirklichungschancen’ oder ‘Capabilities’ bezeichnen. Er versteht darunter die Möglichkeit von Menschen, „bestimmte Dinge zu tun und über die Freiheit zu verfügen, ein von ihnen mit Gründen für erstrebenswert gehaltenes Lebens zu führen“ (Sen, 2000a, S. 108). Wichtig ist die Unterscheidung zwischen dem faktischen Handeln und den Möglichkeiten der Wahlfreiheit, bestimmte Dinge zu tun oder auch zu lassen. „Die Idee der Befähigung kann diesen wichtigen Unterschied berücksichtigen, da sie sich an Freiheit und Chancen orientiert, das heißt, an den tatsächlichen Fähigkeiten von Menschen, in dem ihnen zugänglichen Bereich unterschiedliche Lebensformen für sich auszuwählen“ (Sen, 2010, S. 264 f.). Verwirklichungschancen sind aber nicht nur die Energien und Möglichkeiten, die eine Person mobilisieren kann, sondern hier geht es um soziale und politische Gestaltungskräfte eines Gemeinwesens. Sen hat dies in einem Buch zur Überwindung von Armut und Ungerechtigkeit so ausgedrückt: „Letztlich ist das individuelle Handeln entscheidend, wenn wir die Mängel beheben wollen. Andererseits ist die Handlungsfreiheit, die wir als Individuen haben, zwangsläufig bestimmt und beschränkt durch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, über die wir verfügen. Individuelles Handeln und soziale Einrichtungen sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist sehr wichtig, gleichzeitig die zentrale Bedeutung der individuellen Freiheit und die Macht gesellschaftlicher Einflüsse auf Ausmaß und Reichweite der individuellen Freiheit zu erkennen“ (2000a, S. 9 f.).
Martha Nussbaum, die Philosophin, die gemeinsam mit Sen den Capability-Ansatz geprägt und mit ihm zusammen die „Human Development and Capability Association“ gegründet hat, betont ebenso die gesellschaftliche Verantwortung für die Förderung von Fähigkeiten und hätte da durchaus auch die Ottawa-Charta zitieren können: „Eine gerechte Gesellschaft löst als öffentliche Aufgabe die Verpflichtung ein, jedem Menschen „die materiellen, institutionellen sowie pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden“ (Nussbaum, 1999, S. 24). Martha Nussbaum (2010, S. 115; zuletzt 2020, S. 304 ff.) versteht ihre Liste zentraler menschlicher Fähigkeiten als „Menschenrechtsansatz“, der universell, also für alle Menschen, gültig ist. Die basalen Capabilities, die sie immer wieder formuliert, umfassen die Ausbildung von spezifischen körperlichen Konstitutionen, sensorischen Fähigkeiten, Denkvermögen und grundlegenden Kulturtechniken, die Vermeidung von unnötigem Schmerz, die Gewährleistung von Gesundheit, Ernährung und Schutz, die Möglichkeit und Fähigkeit zur Geselligkeit bzw. zu Bindungen zu anderen Menschen, anderen Spezies und zur Natur, zu Genuss, zu sexueller Befriedigung, zu Mobilität und schließlich zu praktischer Vernunft und zur Ausbildung von Autonomie und Subjektivität.
Im Mittelpunkt der impliziten Subjekttheorie von Sen steht die Annahme einer prinzipiell gegebenen Handlungsfreiheit des Menschen. Mit dieser Positionierung grenzt er sich in polemischer Weise von dem „rationalen Trottel“ (Sen, 1999) ab, eine Menschenbildkonstruktion, die er in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ausmacht. Damit ist sowohl ein behavioristischer Reduktionismus gemeint, der das Verhalten der Menschen reiz- und anreizgesteuert und konditioniert sieht, als auch die „Rational Choice“-Theorie, die Rationalität nur noch als „instrumentelle Vernunft“ kennt und menschliches Handeln allein durch Eigeninteressen bestimmt sieht. In seiner Analyse setzt Sen immer beim Individuum an, aber genau deshalb grenzt er sich vom „methodologischen Individualismus“ ab, der alle sozialen Sachverhalte daraus erklären möchte, wie Individuen „denken, wählen oder handeln können“ (Sen, 2010, S. 272). Für Sen ist es „nur schwer vorstellbar, wie Menschen in einer Gesellschaft denken, wählen oder handeln können, ohne auf die eine oder andere Weise von der Art und dem Funktionieren ihrer Lebenswelt beeinflusst zu sein“ (ebd.).
Sen stellt immer wieder die Freiheit als Ausgangspunkt und Ziel menschlichen Handelns heraus. Das ist eine philosophische Fundamentalsetzung, die allerdings bei Sen – im Unterschied zu der Philosophin Nussbaum – nicht weiter begründet wird. Man könnte sein Menschenbild wohl als teleologisch bezeichnen, das Menschen erst in der ungestörten Entwicklung zu sich selbst kommen lässt. In diesem Verständnis wohnt der menschlichen „Natur“ ein Ziel oder Zweck inne. Die antike philosophische Lehre der Teleologie befasste sich mit der Ziel- und Zweckbestimmtheit der Dinge, Abläufe und Lebewesen. Bei einem teleologischen Verständnis wird den jeweiligen Phänomenen eine innere Zweckgerichtetheit unterstellt.
Mit dieser philosophisch-anthropologischen Positionierung ist allerdings noch kein sozialwissenschaftliches Subjektmodell formuliert. Das lässt sich nur annäherungsweise aus Sens Schriften explizieren. Wenn es nicht behavioristisch und auch nicht instrumentalistisch sein darf, dann ist es ein reflexives Subjektmodell, das zu entwickeln ist. Ausgangspunkt ist für Sen das „tätige Subjekt“ (Sen, 2000a, S. 22), das Handlungsoptionen prüft und sich für die eine oder andere Möglichkeit entscheidet. Dem konkreten Handeln geht ein reflexiver Prozess voraus, innere Abwägungen, Bewertungen und Entscheidungen, die entscheidend durch das verinnerlichte Archiv kultureller Wertsetzungen geprägt sind.
Die Vorstellung des tätigen und reflexiven Subjekts bestimmt auch die Überlegungen von Sen zur Identität. Er geht von einem aktiven Herstellungs- und Konstruktionsprozess von individuellen und kollektiven Identitäten aus. Vehement setzt er sich gegen die Annahme einer den Menschen naturhaft eingeschriebenen Identität, die sie zu „entdecken“ und zu akzeptieren hätten. Vielmehr geht er von der „Pluralität unserer Identitäten“ aus, „die sich überschneiden und allen eindeutigen Abgrenzungen entgegenstehen, die nur ein einziges, angeblich unentrinnbares Unterscheidungsmerkmal kennen“ (Sen, 2007, S. 32). Vernunft und Wahlfreiheit rücken durch die Anerkennung der pluralen Identitäten ins Zentrum. Die Identitätsarbeit erfordert ein reflektiertes Umgehen mit dieser inneren Vielfalt. Die Missachtung dieser inneren Vielfalt und der Identitätszwang, der auf Singularität setzt, „beschneidet unser politisches und gesellschaftliches Urteilsvermögen in schwerwiegender Weise“ (ebd.).
Zu Sens Subjektverständnis gehört auch seine Analyse des durch strukturelle gesellschaftliche Zwänge begrenzten Entscheidungsspielraums der Individuen. Sie sind nur innerhalb jeweils gegebener gesellschaftlicher Voraussetzungen handlungsmächtig. Menschen können nicht beliebige Identitäten kreieren oder wählen, „das zu behaupten wäre absurd“ (Sen, 2007, S. 51), aber entscheidend sei die Frage, ob wir „wirklich frei sind hinsichtlich der Priorität, die wir unseren verschiedenen Identitäten geben“ (ebd., Hervorhebung durch den Verfasser).
Nicht ganz einfach ist die Frage zu beantworten, wie sich Sen den Prozess der Befähigung zu selbstbestimmtem Handeln in der Biografie eines Menschen vorstellt. Über „Entwicklung“ hat Sen sehr viel geschrieben. Entwicklung ist für ihn „als Ausweitung substantieller Freiheiten aufzufassen“ (Sen, 2000b, S. 352), die es Menschen ermöglicht, das von ihnen gewünschte Leben zu führen. Menschliche Entwicklung im Sinne Sens meint den Abbau von Unfreiheiten, welche die individuellen Wahl- und Handlungsmöglichkeiten einschränken. Dies lässt sich nicht allein durch Einkommenssteigerungen erreichen, sondern erfordert den Zugang zu sozialen Grunddiensten wie Schulen und Gesundheitseinrichtungen sowie bürgerliche und politische Rechte als Voraussetzung für die Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen. Die Ausweitung menschlicher Freiheit in ihren wechselseitig verknüpften ökonomischen, sozialen und politischen Dimensionen ist sowohl primäres Ziel von als auch grundlegendes Instrument für Entwicklung. Freiheit spielt damit im Prozess der Entwicklung eine konstitutive wie eine instrumentelle Rolle. Da Individuen in gesellschaftlichen Institutionen leben und handeln, hängt ihre Freiheit wesentlich davon ab, wie solche Institutionen verfasst sind. Ein freiheitsorientiertes Entwicklungsverständnis beinhaltet damit implizit die Forderung nach Beteiligung an Entscheidungen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und nach zivilen und politischen Rechten, die Grundlage dafür sind. Das jeweils gegebene institutionelle System von Bildungs- und Gesundheitssystem hat einen wichtigen Einfluss auf Chancen von Subjekten: „Soziale Chancen beziehen sich auf jene Einrichtungen, die eine Gesellschaft für die Bildung, das Gesundheitswesen usw. bereitstellt und die sich auf die substantielle Freiheit des Einzelnen auswirken, ein besseres Leben führen zu können“ (Sen, 2007, S. 53; Hervorhebung durch den Verfasser).
Mit diesem Verständnis von Entwicklung werden einerseits wichtige strukturelle Voraussetzungen – Abbau von Unfreiheit – benannt. Andererseits vermisst man sowohl bei Sen als auch bei anderen Vertreterinnen und Vertretern des Capability-Ansatzes bis heute ein durchgearbeitetes Konzept, wie die Entwicklung von Capabilities bzw. wie der Prozess der Befähigung theoretisch gedacht werden können.
Im Capability-Ansatz wird ein komplexes Zusammenwirken von individuellen und gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen aufgezeigt, das eine Alternative sowohl zu psychologistischen Handlungsverkürzungen als auch zur soziologischen Ignoranz gegenüber subjektiven Handlungsbedingungen darstellt5. In der folgenden Abbildung, die eine Weiterentwicklung des von Wilson-Strydom (2011) vorgelegten Schemas darstellt, werden die wichtigsten Bausteine des Capability-Ansatzes aufgezeigt. In seiner Kritik an der behavioralen Psychologie betont Sen, dass es unzureichend sei, das Verhalten zum Ausgangspunkt von Analysen und Erklärungen zu nehmen, ohne zurückzufragen, welche alternativen Handlungsoptionen bestanden haben, die möglicherweise auch andere Handlungsweisen möglich gemacht hätten. Der Blick auf immer auch gegebene unterschiedliche Handlungsoptionen begründet den von Sen herausgestellten Freiheitsaspekt. Aber auch dieser ist sehr voraussetzungsvoll, denn er verweist auf den „capability set“, also den Vorrat an Verwirklichungschancen, die eine Person hat aufbauen können, die materiellen und immateriellen Verwirklichungschancen, die die Möglichkeiten eröffnen oder ggf. verhindern, Entscheidungen in Richtung einer selbst gewählten Lebensführung zu treffen. Verwirklichungschancen sind zwar Individuen zurechenbar, aber sind kein Naturprodukt oder ein nicht mehr weiter zurückführbares Charaktermerkmal. Hier kommt das Zusammenspiel von den Ressourcen und den individuellen Aneignungsmöglichkeiten in den Blick. Auch wenn in einer gegebenen Gesellschaft materielle und immaterielle Ressourcen verfügbar sind, müssen sie individuell angeeignet werden können, damit sie genutzt werden können. Hier spielen biographische Entwicklungsprozesse eine wichtige Rolle. Dieser eher handlungstheoretische Pfad steht im Mittelpunkt des Capability-Ansatzes, aber er ist kontextualisiert durch ökologische, kulturelle, sozialstrukturelle und politische Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbedingungen enthalten auch normative Erwartungen, was in einer jeweiligen Situation angemessen ist. Über Erziehungsprozesse, religiöse Systeme oder medienvermittelte Botschaften werden „Präferenzen“ ausgeprägt, die auf den individuellen Entscheidungsprozess einwirken. Die schon angesprochene Erweiterung der Darstellung von Wilson-Strydom betrifft die Einbeziehung der Kategorie „Handlungsbefähigung“, die vor allem aus der Verbindung von Capability-Ansatz und Gesundheitsforschung resultiert.

 

 

Abb. 2: Verwirklichungschancen und Handlungsbefähigung (Quelle: Höfer, Sievi, Straus & Teuber, 2017, S. 341)

Der Capability-Ansatz erweist sich als anschlussfähig zu den bisher ausgeführten Basiskonzepten der Gesundheitsförderung. Er rückt den inneren Zusammenhang der Handlungsbefähigung der Subjekte mit den objektiv gegebenen Verwirklichungschancen ins Zentrum. In dieser Verknüpfung ist er für die Gemeindepsychologie anregend und vor allem in der sozialen Arbeit sehr relevant geworden (vgl. die Beiträge in den Sammelbänden von Otto & Ziegler, 2008, 2010; Schneider & Otto, 2009). Das Capability-Konzept hat auch die Chance, eine Brücke zur Armutsforschung herzustellen (vgl. Volkert, 2005; Arndt & Volkert, 2006; Leßmann, 2007) und ist zu einem wichtigen konzeptionellen Baustein in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung geworden. Und schließlich ist auch die Gerechtigkeitsthematik in den sozialphilosophischen und politiktheoretischen Diskursen durch die Frage nach der Verteilung der Verwirklichungschancen im globalen wie auch im nationalen Rahmen neu thematisiert worden (vgl. Heinrichs, 2006; Nass, 2006). In der sozialwissenschaftlichen Gesundheitsforschung ist der Zusammenhang von Gesundheit und sozialer Gerechtigkeit ein traditionelles Thema – eine Frage mit der sich auch Sen beschäftigt hat (Sen, 2006) –, denn die Chancen auf ein gesundes Leben und ein gutes Wohlbefinden sind höchst ungleich verteilt, und Ferber (1971) sprach von der „gesundheitspolitischen Hypothek der Klassengesellschaft“. Produktive Forschungsprojekte sind im Schnittbereich von Gesundheits-, Ungleichheitsforschung und Capability-Ansatz entstanden (z.B. Daniels, 2008; Abel & Schori, 2009; Abel & Fröhlich, 2012).
Durch die Berichte von Kindern und Jugendlichen über Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in Heimen (vgl. Caspari, Dill, Straus & Hackenschmied, 2021) hatte es die stationäre Jugendhilfe in den 1960er und 1970er Jahren schwer, den förderlichen Charakter dieser Hilfeform unter Beweis zu stellen. SOS-Kinderdorf hat mit dem Aufbau von familienähnlichen Strukturen zeigen wollen, dass es qualitätsvolle Formen stationärer Hilfen als Alternativen zur traditionellen Heimerziehung gibt. Das Forschungsinstitut des SOS-Kinderdorfvereins in Deutschland hat dazu in Kooperation mit dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) und dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) empirische Studien durchgeführt (Höfer, Sievi, Straus & Teuber, 2017). Als zentraler Qualitätsindikator für die positive Förderung von Kindern und Jugendlichen wird in diesem Forschungsprojekt die Handlungsbefähigung verstanden, die Menschen in die Lage versetzt, ihre Fähigkeiten und Ressourcen tatsächlich und möglichst zielführend zu nutzen. Wie können junge Menschen in der stationären Erziehungshilfe zu einem eigenverantwortlichen Leben befähigt werden? Was stärkt junge Menschen in der stationären Erziehungshilfe auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit und wie können Fachkräfte sie am besten unterstützen? Die Studie des IPP untersucht, wie junge Menschen in SOS-Kinderdörfern aufwachsen, sich entwickeln und selbstständig werden. Unter Rückgriff auf den Capability Approach wird in den Blick genommen, welche Chancen sich den Kindern und Jugendlichen bieten, ihr Leben in die Hand zu nehmen und nach den eigenen Vorstellungen zu führen. Diese Verwirklichungschancen werden auf zwei Ebenen beleuchtet:

 

  • Auf der persönlichen Ebene geht es neben den verschiedenen Fertigkeiten, die ein junger Mensch entwickelt, vor allem darum, ob er seine Lebenssituation einschätzen, Chancen für sich erkennen und ergreifen sowie die dafür nötigen Ressourcen aktivieren kann. All das wird im Konzept der Handlungsbefähigung theoretisch gefasst und empirisch gut fundiert.
  • Auf der Ebene der Einrichtungen steht im Vordergrund, welche Möglichkeiten die SOS-Kinderdörfer den Jugendlichen bei der Entwicklung eines individuellen Lebensentwurfs und auf dem Weg zu einer eigenen Lebensführung eröffnen und wie sie sie dabei unterstützen. Dabei richtet sich das Augenmerk auf zwei zentrale Prozesse: die Herstellung von Gemeinschaft als Grundlage von Zugehörigkeit und die Verselbstständigung als essentielle Entwicklungsaufgabe im Hinblick auf das Erwachsenwerden.

 

Mit seinen Ergebnissen bietet das Projekt Anregungen für die Weiterentwicklung der pädagogischen Praxis in den SOS-Kinderdörfern. Vor allem aber leistet es einen Beitrag zur Heimerziehungsforschung, die letztlich Auskunft darüber zu geben hat, was junge Menschen beim Aufwachsen in der stationären Erziehungshilfe brauchen.

In einer längsschnittlichen Perspektive befasst sich das IPP in der Weiterführung der SOS-Studie mit dem Aufwachsen junger Menschen in der Heimerziehung sowie ihrem Übergang in die Selbstständigkeit und nimmt dabei auch den weiteren Werdegang von ehemaligen SOS-Betreuten in den Blick. Zu diesem Zweck werden in regelmäßig wiederkehrenden Befragungen Daten zu verschiedenen Themen erhoben. Eine besondere Rolle spielt dabei die Handlungsbefähigung als wichtige Ressource für eine eigenständige Lebensführung (vgl. Straus & Höfer, 2017). In diesem Projekt ist ein differenziertes Konzept der Handlungsbefähigung entstanden, das ein zentrales sozialpsychologisches Anschlusskonzept an den Capability Approach darstellt. Wir dürfen gespannt sein, wie Renate Höfer und Florian Straus ihr Konzept der Handlungsbefähigung in ihrem geplanten Buch in differenzierter Form ausbuchstabieren. Es nimmt jetzt schon einen wichtigen Platz in der Forschung und Praxis von Gemeindepsychologie und Sozialer Arbeit ein.

Mein subjektiver Rückblick auf die Entstehung eines wichtigen Konstruktes sollte zeigen, wie im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Institutes, das sich über vier Jahrzehnte in einer Vielzahl von Drittelmittelprojekten reproduzieren konnte, nie den Blick für seinen fachlichen Kernbestand verlor und in gut nachvollziehbarer Weise für seine Weiterentwicklung sorgte. Mit dem Bild der Saugwurzeln sollte aufgezeigt werden, aus welchen Quellen Ideen und Ressourcen angeeignet wurden. Aneignung ist ein aktiver Vorgang, der zugleich Veränderung bedeutet, weil das Angeeignete in einen neuen gedanklichen Rahmen integriert wird. Renate Höfer und Florian Straus haben in diesen 40 Jahren Kontinuität, aber auch Neugier auf Neues und Suche nach Neuem repräsentiert. Was bis heute dabei entstanden ist, könnte man auch als wissenschaftliches Patchwork bezeichnen, das aber nicht als loses Nebeneinander von Anleihen aus unterschiedlichen Quellen existiert, sondern von einem hohen intellektuellen Kohärenzpotential zu einer integrativen Figur verdichtet wird. Entstanden ist es als Resultat kollektiver Handlungsfähigkeit, denn ohne die Teamkonstellationen im IPP wäre dieser Weg nicht möglich gewesen. Auch bei den in den letzten Jahren beim IPP besonders nachgefragten Projekten zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in kirchlichen und reformpädagogischen Institutionen (Keupp, Straus, Mosser et al., 2017a; Keupp, Straus, Mosser et al. 2017b; Keupp, Mosser, Busch et al., 2019) hat sich das Konzept der Handlungsbefähigung als Zugang zu der Frage der Bewältigung der erlebten sexualisierten Gewalt als erkenntnisfördernd erwiesen (vgl. Caspari, 2021).

 

 

Endnoten

  1. Das Buch zu diesem Projekt: Höfer & Straus, 1993.
  2. Zum Projekt und seinen Ergebnissen gibt unser erfolgreichstes IPP-Buch Auskunft, das in mehreren Auflagen erschien: Keupp, Ahbe, Gmür et al., 2013.
  3. Zu nennen sind hier vor allem die salutogenetisch inspirierten Skalen wie die Kohärenzskala oder Fragebögen aus der „Life-Event“-Forschung.
  4. http://www.euro.who.int/AboutWHO/Policy/20010827_2?language=German
  5. Für eine ausführliche kritische Übersicht zum aktuellen Forschungsstand vgl.: Robeyns, 2017.

 

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Autor

 

Heiner Keupp

heinerkeupp@bitte-keinen-spam-psy.lmu.de

Kontaktadresse: Prof. Dr. Heiner Keupp, Ringhofferstraße 34, 85716 Unterschleißheim

Heiner Keupp, nach 40 Jahren als Hochschullehrer für Sozial- und Gemeindepsychologie, lehrt er jetzt als Gastprofessor an der Universität Bozen. Aktuell forscht er über traumatisierende Folgen von sexualisierter und physischer Gewalt in kirchlichen und pädagogischen Institutionen.

 

 

 

 



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