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Die Folgen von Corona für Jugendliche in einem stationären Setting – Zur Rolle von Gemeinschaft im Bewältigungshandeln

Florian Straus, Kathrin Weinhandl, Ulrike Mraß & Melike Pusti

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 28 (2023), Ausgabe 1]

 

Zusammenfassung

Zu den Gemeinschaften, die es während der Pandemie so gut wie nie ins Licht der Öffentlichkeit geschafft haben, gehören auch die stationären Heime. In verschiedenen Formen von Wohngruppen und familienanalogen Wohnformen leben in Deutschland aktuell ca. 100.000 Kinder und Jugendliche. Deren Gemeinschaften wurden während der verschiedenen Wellen der Pandemie auf harte Bewährungsproben gestellt. Der Artikel beschreibt die Sicht von Jugendlichen und Fachkräften und kombiniert qualitative und quantitative Daten aus einer laufenden Längsschnittstudie. Analysiert wird das Gemeinschaftserleben in Bezug auf die Gruppe und die Gesellschaft, die Entwicklung der beruflichen Perspektive und welche Folgen die Pandemie auf die Handlungsbefähigung der Jugendlichen hat.

 
Schlüsselwörter:
Corona, Gemeinschaft, Widerstandsressourcen, Handlungsbefähigung, Empowerment, stationäre Jugendhilfe

 

Summary

The role of community in youth inpatient settings – Sense of Community and Community Resilience in Inpatient Youth Welfare


Adolescent Inpatient Homes are one of those communities that have almost never been discussed in public during the pandemic. Currently, approximately 100,000 children and adolescents live in various forms of residential groups and family-like arrangements in Germany. Their artificial communities were put to the test during the various waves of the pandemic. The article describes the views of adolescents and professionals based on qualitative and quantitative data from an ongoing longitudinal study. We analyze the community experience in relation to the group and society and the development of the professional perspective. Consequences of the pandemic on individual and community Handlungsbefähigung of the youth are discussed.

 

Keywords: Corona, community, resistance resources, meta ablitiy to act, empowerment, stationary youth welfare

1. Einleitung

In den letzten Jahrzehnten hat es in Deutschland kaum ein Thema gegeben, dass so lange und so intensiv die Medien beschäftigt hat wie die Corona-Pandemie. Parallel zu den Wellenbewegungen des Virus wurden nicht nur die individuellen Folgen, sondern immer wieder auch die Bedeutung der Pandemie für Gesellschaft und einzelne Gemeinschaften und Milieus diskutiert. Zu jenen, die es während der Pandemie so gut wie nie ins Licht der Öffentlichkeit geschafft haben, gehören die Jugendlichen, die in Maßnahmen der stationären Jugendhilfe leben. Warum ist das so? Nicht weil es sich um eine irrelevante kleine Gruppe handeln würde. Immerhin leben derzeit über 100.000 Jugendliche in diesem Setting und auch die finanziellen Kosten, die dieser Sektor für die öffentliche Hand verursacht, sind hoch.

Die Gründe der Nicht-Wahrnehmung liegen zum einen im politischen Gewicht der Jugendhilfe. Dieses ist bescheiden. Politische Karrieren werden höchst selten in diesem Feld geboren. Selbst die Ausnahme kann noch als Beispiel dienen. So wird in der Karriere der Exkanzlerin Angela Merkel meist auf ihr politisches Handeln als Generalsekretärin und Vorsitzende der CDU und ihr Wirken als Umweltministerien hingewiesen. Dass sie fast genauso lange auch Ministerin für Familie, Frauen und Jugend war, wird eher selten erwähnt.

Neben dieser politischen Marginalisierung der Jugendhilfe kommt die relative Macht- und Bedeutungslosigkeit benachteiligter Menschengruppen in der bundesdeutschen medialen Öffentlichkeit hinzu. Dies gilt zumindest, solange benachteiligte Gruppen nicht durch Proteste oder Skandalisierung selbst ans Licht der Öffentlichkeit treten. Und mit Blick auf die Gefahr, die das Virus für Menschen darstellt, kommt hinzu, dass junge Menschen im Vergleich zu den Älteren als weniger vulnerabel gelten. Erst in letzter Zeit relativiert sich dieser Blick. Berichte über Bildungsrückstände, über psychische Folgen und Long Covid unter jungen Menschen machen auch auf die Kosten der Pandemie für diese Gruppen aufmerksam. Der folgende Artikel nutzt die Ergebnisse einer Längsschnittstudie, um die Auswirkungen der Pandemie für die Gruppe der stationär betreuten Jugendlichen zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu zeigen.

 

2. Die Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung stationär untergebrachter Jugendlicher

Bislang konnten zwei Erhebungen zu den Folgen der Pandemie durchgeführt und in die laufende Längsschnittstudie eingebettet werden. Die SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung wird in Kooperation des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) mit dem Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorfvereins (SPI) seit 2014 – mit Vorstudie seit 2011 – durchgeführt. Im Mittelpunkt der Studie steht die zentrale Frage der Jugendhilfe, ob und wie es gelingt die Jugendlichen trotz der meist massiven Probleme in ihrer Herkunftsfamilie zu einem möglichst selbstbestimmten, eigenständigen Leben zu befähigen. Dazu untersuchen wir beispielsweise die soziale Einbettung und Zugehörigkeit, die Schul- und Wohnsituation der jungen Menschen, aber auch die Entwicklung personeller Ressourcen, vor allem die Entwicklung ihrer individuellen Handlungsbefähigung. Sie bildet den Schwerpunkt und die theoretische Rahmung der Studie.

Das sechsdimensionale Modell individueller Handlungsbefähigung wurde aus einer Synthese wichtiger Widerstandstheorien (Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit) mit Erkenntnissen der Netzwerk- und Identitätsforschung entwickelt (Höfer et al., 2017).

Handlungsbefähigung beschreibt ein Gefühl der Zuversicht,

  • dass die konkreten Herausforderungen es wert sind, Anstrengung und Engagement darauf zu verwenden.
  • dass die Dinge, die einem zustoßen als strukturiert, erklärbar und verstehbar erlebt werden.
  • dass man über Ressourcen verfügt, um diese Dinge aktiv zu beeinflussen beziehungsweise Probleme aus eigener Kraft zu meistern und dass man dabei eigene Absichten und Ziele verwirklichen kann und sich zutraut, auch bei unerwarteten und schwierigen Problemen eine Lösung zu finden.
  • dass man Situationen aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann und an vielem interessiert ist.
  • dass man sich selbst mag und optimistisch nach vorne schauen kann.
  • dass man Teil eines tragfähigen sozialen Netzwerks ist und es in diesem Menschen gibt, die einen nicht enttäuschen und bei denen man sich Hilfe holen kann.

Die SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung ist multiperspektivisch angelegt. Im Studiendesign verknüpft die Studie zwei methodische Zugänge – quantitative Befragungen und qualitative Interviews – sowie zwei Perspektiven, die der Jugendlichen auf sich selbst und die der Fachkräfte auf die Jugendlichen. So werden im Rahmen einer Vollerhebung, im Rhythmus von zwei Jahren, Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr – die stationär in einer Einrichtung des SOS-Kinderdorfvereins untergebracht sind – und ihre Bezugsbetreuer:innen anhand von standardisierten Fragebögen befragt.1 In den Jahren dazwischen werden mit einer Teilstichprobe qualitative, leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Zu insgesamt 1.498 jungen Menschen aus der stationären Betreuung liegen uns Befragungsdaten vor.

Um der Frage nachzugehen, wie Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen die mit der Corona-Krise und den jeweiligen „Lockdowns“ verknüpften Herausforderungen bewältigen, wurde eine Zusatzbefragung entwickelt. Dafür wurden die Befragungsinhalte in der sechsten regulär stattfindenden quantitativen Erhebungswelle im Jahr 2020 um Fragen zum Pandemieerleben der Jugendlichen ergänzt. 2021 fand eine quantitative Zusatzbefragung der Jugendlichen außerhalb des regulären Zweijahresrhythmus statt, in der ebenfalls die Perspektiven der pädagogischen Fachkräfte erhoben wurden.

Zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Befragung zum Pandemieerleben gehören die Wahrnehmung der aktuellen Situation, Ängste und Sorgen, das Gruppenklima, die Peerbeziehungen, das Kontaktverhalten, aber auch die Belastungen der pädagogischen Arbeit (Fachkräftefragebogen), die Entwicklungen des Jugendlichen (Fachkräftefragebogen) und die Auswirkungen auf die Verselbstständigungsphase (Fachkräftefragebogen).

Für die Fragebogenentwicklung wurden zum einen Items der JuCo Studie (Andresen et al., 2020a) adaptiert. Zum anderen wurden, um den speziellen Kontext und die Rahmenbedingungen der stationären Jugendhilfe aufzeigen zu können, auch eigens entwickelte Items in den Fragebogen integriert.

Trotz der zahlreichen Herausforderungen, denen sich die Jugendlichen stellen mussten, aber auch den Hürden und Probleme, mit denen sich die Einrichtungen konfrontiert sahen, wurde in den Befragungen zum Pandemieerleben ein hoher Rücklauf erzielt, der nur 2021 etwas niedriger lag als in Befragungen vor der Pandemie (2020: 85,0 %, 2021: 64,1 % vs. 2014: 74,5 %, 2016: 82,1 %, 2018: 86,3 %). Diese hohe Akzeptanz und Teilnahmebereitschaft der Jugendlichen reduziert die Wahrscheinlichkeit einer positiven Selektion. Zudem handelt es sich hier, im Unterschied zu vielen Coronastudien, nicht um eine Online-Befragung.2

 

2.1 Eine besondere Form von Gemeinschaft

Jugendliche in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe wachsen in einer besonderen Form von Gemeinschaft auf. Diese wird für die Beteiligten oft von außen hergestellt. In vielen Fällen kann man auch sagen über deren Köpfe hinweg, mit eingeschränkten Möglichkeiten der Beteiligung. Kinder und Jugendliche, die in einem Heim (so die klassische Bezeichnung) aufwachsen, wurden meist der Obhut ihren Herkunftseltern auf Druck des Jugendamts bzw. teilweise auch über Beschlüsse des Familiengerichts entzogen. Teilweise haben die Eltern dem zugestimmt oder in sehr seltenen Fällen eine Fremdunterbringung selbst angeregt. Der Hintergrund der Fremdunterbringung sind massive Probleme in der Erziehung (Überforderung und eingeschränkte Erziehungskompetenz) der Eltern. Oft spielen auch Drogen, Alkohol, Gewalterfahrungen und eine psychische Unterbringung oder/und Haftstrafen eines/beider Elternteile eine Rolle (vgl. Strahl & Theile, 2021).

Aufgrund dieser Voraussetzungen entstehen in den Wohngruppen, in denen die Jugendlichen im Heim aufwachsen (meist 6 – 10 Jugendliche), fragile Gemeinschaften von Gleichbetroffenen, aber nicht Gleichgesinnten. Anders als bei Gemeinschaften wie den Pfadfindern, einer Fußballmannschaft oder in Jugendszenen sind die Interessen und Ziele sehr heterogen. Beispielsweise erhoffen sich die einen eine Ersatzfamilie und wollen möglichst lange bleiben, während andere sofort zu ihrer Herkunftsfamilie zurückkehren wollen. Allerdings wissen die Jugendlichen, dass alle anderen in ihrer Gruppe ein ähnliches Schicksal haben und machen nicht selten auch die gleichen Stigmaerfahrungen (als „Heimkind“ abgestempelt zu werden). Fragil sind die Gemeinschaften vor allem in ihrer Zusammensetzung (in jedem Jahr gibt es, wie unsere Daten zeigen, meist mehrere Ein- und Auszüge von Kindern und Jugendlichen). Und bekanntermaßen kennzeichnet den Bereich der stationären Heimerziehung eine hohe Fluktuation unter den Fachkräften.3 Fragil sind die Gruppen auch, weil sich die Jugendlichen in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden. Während die einen gerade in der Gruppe ankommen und nicht wissen, wie lange sie dortbleiben werden, sind andere kurz vor der Rückführung zur Herkunftsfamilie oder im Übergang in die Selbstständigkeit (werden Careleaver).

Die Langzeitbeobachtung dieser Gruppen zeigt, dass diese besonderen Gemeinschaften trotz all dieser Faktoren so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl und eine Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe entwickeln (Höfer et al., 2017). Die Frage, die uns beschäftigt hat, ist, welche Auswirkungen die Pandemie für diese Gruppe wie auch für das gesamte Netzwerk der Jugendlichen hat. Zudem gehen wir in diesem Abschnitt der Frage nach, ob und wie sich mit der Pandemie das Vertrauen und die Integration in die Gesellschaft verändert.

 

2.2 Auswirkungen auf die Wohngruppen und die Gesamteinrichtung

Die pandemiebedingten Maßnahmen, insbesondere die Kontaktbeschränkungen, führten dazu, dass sich das soziale Zusammenleben der Menschen zum Teil gravierend verändert hat. Kindern und Jugendlichen war es schlagartig nur noch sehr eingeschränkt möglich, Zeit mit ihren Peers zu verbringen. Für Jugendliche und pädagogische Fachkräfte der Einrichtungen bedeutete dies teilweise einen Rückzug in ihre kleinste Einheit: die Wohngruppe, später auf die Einrichtung bzw. das Kinderdorf. Diese Entwicklung wurde von den befragten Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften ambivalent beschrieben. So meinte der 16-jährigen Moritz:

„So am Anfang hab ich mir gedacht, mit dem Lockdown war es eigentlich voll cool, weil dann kann die ganze Zeit drin sein und zocken. Aber irgendwann wurde es dann ganz schön nervig, wenn man dann die ganze Zeit drinbleibt, auch wenn man mal raus will.“

Ähnlich äußert sich eine Bezugsbetreuerin im Interview 2021:

„Es gibt ja Vor- und Nachteile durch die Pandemie tatsächlich. Und was ich gut finde, ist tatsächlich, man ist öfter länger, näher an den Kindern dran. Das ist intensiver (…) Also von daher ist es eigentlich positiv, weil man vieles erkennt oder noch mehr miterlebt von den Kindern. Oder auch, die Kinder können mich nochmal anders einschätzen. Das ist natürlich für Pubertierende, wenn das dann noch ein bisschen enger ist, wo sie doch eigentlich einen Freiheitsdrang haben, ist das manchmal ein bisschen, ja (lacht), ja, ist es schon anstrengend.“

Stationär untergebrachte Kinder und Jugendliche gehören zu einer besonders vulnerablen Gruppe – werden sie in ihrem jungen Leben häufig bereits mit schwerwiegenden Problemen und zum Teil traumatisierenden Erlebnissen konfrontiert. Aus diesem Grund ist es für die Kinder- und Jugendhilfe eine zentrale Aufgabe, den Betreuten ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Wie die Ergebnisse der Erhebung 2018 aus der SOS-Längsschnittstudie zeigen, gelingt dies den Einrichtungen des SOS-Kinderdorfs zum überwiegenden Teil: 73,1 Prozent der befragten Jugendlichen fühlen sich sicher und 57,7 Prozent fühlen sich geborgen (vgl. Mrass & Straus, 2021). Diese Werte haben sich in der Befragung 2020 kaum verändert (74,8 bzw. 56,2 Prozent). Die Erfahrungen der durch die Corona-Pandemie verursachten Ausnahmesituation haben sich vorerst nicht negativ auf das Gefühl, sich in ihrer Gruppe sicher und geborgen zu fühlen, ausgewirkt. In zwei Bereichen konnten allerdings Veränderungen im Gruppenklima festgestellt werden. So gab 2020 nur noch ein Drittel der Jugendlichen (34,2 Prozent) an, dass sie sich in der Gruppe von jemanden geliebt fühlen – 2018 lag dieser Wert noch bei 41,8 Prozent (n.s.). Noch etwas gravierender – allerdings auch erwartbar – fiel der Unterschied in Bezug auf das Gefühl der Langeweile in der Gruppe aus: er stieg von 30,3 Prozent 2018 auf 40,9 Prozent 2020. In den Coronabefragungen 2020 und 2021 zeigten sich auch die ambivalenten Auswirkungen der Pandemie auf das Zusammenleben in den Gruppen. Zum einen gehen sich die Jugendlichen gegenseitig auf die Nerven (44,9 bzw. 43,7 Prozent). 2020 berichtete zudem jede:r Dritte (34,4 Prozent) von einer Belastung der Gruppenatmosphäre durch die Pandemie. In der Befragung 2021 gab dies erfreulicherweise nur noch ein Viertel (25,8 Prozent) an. Zum anderen lässt sich auch ein verstärkter Zusammenhalt in der Gruppe feststellen, wobei auch hier die Zustimmungsrate von einem Drittel (33,0 Prozent im Jahr 2020) auf ein Viertel (25,4 Prozent im Jahr 2021) zurückging.

Als ein Vorteil erwies sich die „dörfliche“ Struktur der meisten Einrichtungen4 mit den meist großen Außenflächen und Begegnungsbereichen zwischen den Wohnhäusern. Diese wurde in der Pandemiezeit von den pädagogischen Fachkräften als besonders positiv wahrgenommen, wie es eine Fachkraft 2021 beschrieb:

„(das Kinderdorf hat) sehr viele Vorteile. Wir haben wirklich Außenbereiche, Spielplätze, wo die mal rausgehen konnten an die frische Luft, zwar begrenzt auf unseren Hausbereich, also da hat jeder so sein Revier gehabt, wo man hindurfte (…) also deutlich besser wie in der Stadt. (… es gab) viele Möglichkeiten, einmal über den Zaun mit den anderen (zu) quatschen.“

Diese Möglichkeiten dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, welch enormen Belastungen die Fachkräfte in den stationären Einrichtungen in dieser Zeit ausgesetzt waren (eine ausführliche Darstellung dieser Belastungen findet sich in Kaiser & Strobel-Dümer, 2022).

 

2.3 Die sozialen Netzwerke der Jugendlichen

Während der verschiedenen Wellen der Corona-Pandemie hat sich das soziale Leben der Jugendlichen sowohl deutlich reduziert (vgl. auch Heyer, 2022) wie auch digitalisiert. Die zahlreichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie betreffen dabei vor allem die peer-orientierten Sozialisationserfahrungen. Über zwei Drittel der Jugendlichen der SOS-Längsschnittstudie sagen 2020, dass sie Personen, die ihnen nahestehen, nicht mehr oft genug treffen. 40 Prozent fühlen sich von ihrer Umwelt regelrecht abgeschnitten. Vor allem aber vermissen die meisten (insgesamt 55 Prozent) die körperliche Nähe ihrer Freunde. Darunter leiden Mädchen etwas häufiger als Jungen. Diese Auswirkungen werden auch in anderen Studien bestätigt (Jenkel et al., 2020; ISM, 2021).

Unter diesen Jugendlichen finden wir auch eine Gruppe, die in der ersten Phase der Pandemie ihre persönliche Kontakthäufigkeit über die institutionellen Vorgaben hinaus auch selbst nochmals beschränkt haben. Teilweise kam von diesen Jugendlichen sogar die Forderung ihre Einrichtung nach außen komplett abzuschotten. Hier handelte es sich um Jugendliche, die starke Ängste vor einer Übertragung des Coronavirus hatten. Ein Jahr später, nach der dritten Coronawelle, sehen wir keine Entspannung, wohl aber einen Anpassungsprozess an die Krisensituation. Dies zeigt sich in leicht rückläufigen Zahlen. Bei der Befragung 2021 sagten knapp 49 Prozent, dass sie immer noch zu selten Personen, die ihnen nahestehen, treffen und über die fehlende körperliche Nähe klagen jetzt „nur noch“ 44 Prozent.

Erwartungsgemäß zugenommen hat die digitale Kommunikation der Jugendlichen. In der Befragung 2021 sagten über 60 Prozent (2020: 72 Prozent) der Jugendlichen, dass sie mit anderen vor allem über digitale Kanäle kommunizieren (siehe auch Andresen et al., 2020b; Langmeyer et al., 2020). Die Verlagerung von Freundschaften in den digitalen Raum bringt jedoch auch große Herausforderungen und Ambivalenzen mit sich. In den qualitativen Erhebungen erzählte die 17-jährige Tessy, welche Belastungsprobe sich für sie ergab und wie sie damit umging. Sie sagte:

„(…) mit den meisten Schulfreunden habe ich auch keinen Kontakt mehr, weil die einfach nie geschrieben haben. Und ich habe es auch nicht eingesehen selber immer zu schreiben. Und dann dachte ich mir halt so, versuchen wir mal über das Internet halt Freunde kennenzulernen.“

Dies ist ihr teilweise auch gelungen. Ihren neuen festen Freund lernt sie im virtuellen Raum kennen. Ähnliche Erfahrungen macht auch der 16-jährigen Moritz. Seine Freundin konnte vor der Pandemie bei ihm in der Kinderdorffamilie übernachten,

„… dann ging’s wieder auseinander, weil da kam auch wieder der Lockdown dazwischen; (…) Eigentlich konnte ich ja nichts dafür, dass sie nicht kommen durfte wegen Lockdown, aber sie hat mich mehr oder weniger dafür verantwortlich gemacht. (…) Und dann haben wir uns getrennt.“

Aber auch bei Moritz gibt es nicht nur negative Entwicklung. In einem Onlinespiel hat er eine Freundschaft geschlossen:

„wir haben dieselben Interessen (…), durch Zufall haben wir zusammen mal Fortnite gespielt. Und dann haben wir uns so gut verstanden, dass wir, glaub ich, den ganzen Lockdown zusammen gespielt haben. Und irgendwann ist uns dann halt aufgefallen, dass wir auf dieselbe Schule gehen (…) und dann haben wir uns auch getroffen. Wir haben uns jetzt nicht nur am Computer gut verstanden, sondern auch halt hier dann.“

Die Aussagen der Jugendlichen verdeutlichen, dass sich trotz der Kontaktbeschränkungen nicht nur negative Entwicklungen während der Corona-Pandemie in ihrem Netzwerk zeigen. Dieser interviewbasierte Befund zeigt sich auch in den schriftlichen Befragungen. Immer mehr der stationär untergebrachten Jugendlichen berichten, dass es seit der Corona-Pandemie auch einzelne Beziehungen gibt, die sich intensiviert haben (2020 sagen dies 33 Prozent; 2021 43 Prozent). Diese Befunde werden auch von zwei anderen Corona-Befragungen bestätigt (ISM, 2021, S. 42; Andresen et al., 2022, S. 10).

Wie sich die Qualität der Beziehungen zu Freunden außerhalb der Einrichtung durch die weiteren Folgen der Pandemie verändert, bleibt abzuwarten. Die Mehrheit macht sich hier eher weniger Sorgen. Es bleibt jedoch eine Gruppe von 22 Prozent, die darüber klagt, dass sie sich mit ihrem Freundeskreis nicht mehr so gut versteht wie vor der Pandemie. Dieser Wert von 2021 lag zudem nochmals 7 Prozent höher als jener von 2020. Dies betrifft gerade auch Jugendliche, die weniger stark über digitale Medien kommunizieren. Wenn man zudem weiß, wieviel Anstrengungen die Fachkräfte unternehmen, um manche Jugendliche außerhalb der SOS-Einrichtungen im lokalen Umfeld sozial zu verankern, kann man ahnen, wie viel dieser Integrationsarbeit durch die Pandemie zunichtegemacht wurde.

 

2.4 Vertrauen und Integration in die Gesellschaft der Erwachsenen

Auch im zweiten Jahr der Pandemie ist Corona noch immer ein präsentes Thema, dass etwa jeden fünften jungen Menschen stark beschäftigt (2020: 23,4 %; 2021: 18,1 %). Jedem zehnten macht die Situation sogar Angst (2020: 13,2 %; 2021: 11,0 %). Die Corona Pandemie kann dabei als ein exemplarisches Ereignis gelten, bei dem Jugendliche erleben, wie die Erwachsenengesellschaft, vor allem auch die Politik, mit ihren Bedürfnissen umgeht und sie und die anderen Menschen vor den Auswirkungen dieser Katastrophe zu schützen versucht. Diese (bislang zwei) Jahre werden das Vertrauen in die Krisensteuerung dieser Gesellschaft und auch die Integration in das demokratische Gemeinwesen mitprägen.

Die politischen Maßnahmen werden von den meisten Jugendlichen akzeptiert, wie auch von jungen Menschen insgesamt in Deutschland (TUI-Stiftung, 2020). Es ist jedoch auch zu erkennen, dass die Bereitschaft, die Einschränkungen mitzutragen, im Verlauf der Pandemie abnimmt. Sagen 2020 noch 64 Prozent der von uns befragten Jugendlichen, dass „die Anweisungen zur Einschränkung sozialer Kontakte von allen konsequent eingehalten werden sollten“, sind es 2021 noch 52 Prozent.5 In einer differenzierteren Analyse konnten wir zeigen, dass junge Menschen, die sich häufiger um ihre Herkunftsfamilie oder berufliche/schulische Zukunft sorgen, etwas stärker die Einhaltung der Maßnahmen fordern und verlangen, dass sich alles der Bekämpfung der Pandemie unterordnen sollte. Das Absinken der Akzeptanz einschränkender Maßnahmen mag daran liegen, dass eine Form der Gewöhnung eingetreten ist und das Empfinden um die Pandemie weniger mit ausgeprägten Ängsten und Sorgen belegt ist. Möglich ist aber auch, dass es der Politik nicht mehr in gleichem Maß wie 2020 gelingt, junge Menschen für ihre Coronapolitik zu interessieren bzw. ihr die Coronapolitik verständlich zu machen. Der Anteil derjenigen, die sagen, dass sie sich gut über die politischen Entscheidungen zur Coronapolitik informiert fühlen, sinkt deutlich (von 63 auf 48 Prozent).

In den bisherigen Analysen junger Menschen in stationären Einrichtungen (vgl. auch Albert, 2019) zeigen sich zudem erste Hinweise, dass die Pandemie auch ihre Spuren in der Herausbildung von Wertorientierungen, als eine entscheidende Entwicklungsaufgabe im Jugendalter, hinterlässt. So bleiben Werte in Hinblick auf Familie, Beziehungen und Teilhabe, wie auch in der Gesamtbevölkerung, zwar am bedeutsamsten (Albert et al., 2019), es zeigt sich jedoch bei den Jugendlichen in stationären Einrichtungen im Vergleich zu 2014 ein klarer Bedeutungsverlust, während sie in der Gesamtbevölkerung bis 2019 weitestgehend konstant bleiben (Shell-Jugendstudie Vergleich von 2015 und 2019). Wie die Abbildung 1 zeigt, werden Werte dieses Wertekanons, aber auch Orientierungen, die eher hedonistisch-selbstverwirklichend besetzt sind, in 2020 als weniger wichtig bewertet.6 Ähnliche Ergebnisse zeigen sich in einer Studie aus dem Bundesland Brandenburg. Sie kommen zu dem Fazit, dass junge Menschen durch die Pandemie möglicherweise verhaltener in ihre Zukunft blicken (Sturzbecher et al., 2021). Spannend bleibt, ob sich der Trend auch in der Gesamtbevölkerung durchsetzen wird und die Pandemie sowie die damit verbundenen Herausforderungen langfristig zu Veränderungen in der Wertorientierung junger Menschen generell führt.

 

Abbildung 1: Ausgewählte Wertorientierung SOS-Längsschnittstudie 2020 (Wertorientierungen wurden angelehnt an das Speyerer Werteinventar als Schwerpunktthemen in den Erhebungen 2014 und 2020 erfasst.)

3. Die Pandemie vertieft die Benachteiligung dieser Jugendlichen

Die deutsche Gesellschaft gilt trotz aller Reformbemühungen der letzten Jahrzehnte als eine Gesellschaft der großen Unterschiede. Manche sprechen auch von einer gespaltenen Gesellschaft. Es gibt vielfältige soziale Gegensätze (Lessenich & Nullmeier, 2006). Einer der folgenreichsten Gräben durchzieht die Bildungslandschaft und trennt die höher und die niedriger gebildeten Schichten. Beispielsweise ist es in nur wenigen anderen westeuropäischen Gesellschaften so schwer wie in der BRD, aus dem Bildungsmilieu des Elternhauses aufzusteigen. Mit dem Bildungsstatus sind aber nach wie vor viele weitere Chancen im Leben der Menschen verknüpft. Neben den Auswirkungen der Pandemie auf Bildung und berufliche Perspektiven werden wir uns in diesem Abschnitt auch mit den Folgen der Pandemie für den Zukunftsoptimismus, die psychische Gesundheit und die Widerstandsressourcen der Jugendliche beschäftigen.

 

3.1 Bildungschancen

Breit diskutiert wird in der medialen Öffentlichkeit die Möglichkeit, dass sich infolge der Pandemie die Bildungsschere zwischen den weniger und den stärker gebildeten Jugendlichen weiter vergrößert. Die These ist, dass Jugendliche aus niedrigen Bildungsmilieus durch die pandemiebedingten anderen Formen der Beschulung noch weiter zurückgeworfen werden. Diese These wird erst in ein paar Jahren überprüfbar sein. Indizien dafür finden wir aber bereits jetzt. Zum einen sehen wir in den Interviews teilweise massive Probleme des Homeschoolings:

„Na ja, (das Homeschooling) ging. Kann man sich halt echt sehr schwer konzentrieren, weil dann ist man doch in dem gewohnten Umfeld, wo man dann leicht abschweift. Und dann, ja, gab’s häufig Internetprobleme, wo man dann die Lehrer auch nicht versteht. Ja, es ist kein Wunder, wenn dann irgendwie dreißig Kinder gleichzeitig im Netz sind, aber kann dann trotzdem ganz schön nervig werden.“ (Moritz, 16 Jahre alt)

„Es war wirklich nur die ersten paar Wochen im Online-Unterricht, wo ich mitgemacht hab. Und am Ende war es halt auch wirklich eine Überwindung bei den Online-Konferenzen – wo du eigentlich nur da sein musstest – dabei zu sein (…) dann bin ich am Ende nicht hinterhergekommen und hab die Motivation auch einfach nicht mehr gefunden, das aufzuholen.“ (Keith, 18 Jahre)

Für Keith bedeutete dies, dass er am Ende die Klasse wiederholen muss. Auch der 17jährige Fynn beschreibt massive Schwierigkeiten:

„Die (Pandemie) hat mir halt letztes Jahr zum Beispiel Schwierigkeiten in der Schule gemacht. Deswegen hatte ich dann auch Schulängste und alles. Und deswegen hat sie halt alles verändert gehabt. (…) Dadurch, dass wir solange Homeschooling hatten, hat mein Körper, sage ich mal, auch eine Angst entwickelt, eine soziale Angst halt in die Schule wieder zu gehen. (…) Also am Anfang war ich dann gar nicht mehr in der Schule, ich glaube, das waren zwei Monate oder so was. Und dann bin ich nach Stadt XX in die Kinder-KJP gegangen und war dann fünf Wochen da stationär.“ (Fynn, 17 Jahre alt)

Allerdings bestand in den stationären Einrichtungen, anders als bei vielen Familien zuhause, die Möglichkeit schnell(er) Unterstützungsmöglichkeiten vor allem im schulischen Bereich zu organisieren:

I: Fühlst du dich unterstützt?

A: Ja, sehr. Also ich weiß zum Beispiel, wenn ich jetzt merke, o Gott, ich hab in einem Fach durch den Lockdown so große Schwierigkeiten, dass ich da nicht klarkomm, dann wird für mich wahrscheinlich innerhalb von einer Woche eine Nachhilfe organisiert. Das hab ich auch schon als Zusicherung, dass ich da sofort dann Hilfe bekomm, wenn ich es brauche, und ich glaub, das nimmt mir auch viel Druck.“ (Moritz, 16 Jahre alt)

Entsprechend positiv bewertet die Mehrheit der Jugendlichen die Unterstützungs-möglichkeiten beim Lernen und Arbeiten in der Einrichtung (2021: Zustimmungsrate von 72,2 Prozent). Es gilt allerdings zu beachten, dass in beiden Erhebungsjahren gut ein Viertel der Jugendlichen mehr Unterstützungsbedarf hatte als vor der Pandemie und die Fachkräfte, ähnlich wie die Eltern, über den hohen Mehraufwand im schulischen Bereich klagten:

„Na ja, Homeschooling war ja dann in der ersten Welle …, also das war ja ein Witz mit Anlauf, also da ist ja schulisch überhaupt gar nichts passiert. Also da ist auch von der Schule her nichts gekommen, dass wir da irgendwie eine Unterstützung, Arbeitsmaterial (…) gekriegt haben. Das (Lernprogramm) ist ständig zusammengekracht. Es hat überhaupt gar nichts funktioniert. Wir haben uns dann wirklich, so die Grundschulkinder, eher noch drüber retten können, dass wir dann selber Arbeitsblätter entworfen haben, die dann noch hingesetzt haben, dass wir dann da einfach am Lesen, am Schreiben, am Rechnen bleiben. Ja, meine beiden großen Realschüler, die haben natürlich das komplett ausgenutzt und haben erst einmal gar nichts gemacht. Also das war natürlich dann schwer, dann wieder einzusteigen.“ (Pädagogische Fachkraft)

Insgesamt zeigt sich, dass die stationär betreuten Jugendlichen große Sorgen um ihre schulische und berufliche Zukunft haben. Während bei den meisten Coronafragen die Werte 2021 niedriger als 2020 ausfallen, steigt der Anteil derjenigen, die angaben, dass sie negative Auswirkungen der Pandemie auf ihre Schul-/Berufsbildung bzw. ihren Beruf befürchten, nochmals um fast 10 Prozentpunkte.

 

Abbildung 2: Ich befürchte, dass sich die Corona-Pandemie negativ auf meine Schul- oder Berufsbildung oder meinen Beruf auswirkt.

3.2 Zukunftsoptimismus

Die Jugendlichen wurden in der Corona-Zusatzbefragung, wie auch in der regulären Längsschnitterhebung, nach ihren Zukunftsperspektiven gefragt. Die Frage nach der persönlichen Sichtweise ihrer Zukunft, die den Jugendlichen ab 16 Jahren gestellt wurde, erlaubt den Vergleich mit der für alle Jugendlichen repräsentativen Shell Jugendstudie (Albert et al., 2019). Was sich im Vergleich bereits in den vergangenen Jahren zeigt, ist, dass junge Menschen, die in stationären Einrichtungen leben, weit weniger optimistisch in die Zukunft blicken als Jugendliche der Gesamtbevölkerung (Albert et al., 2019).

In der zeitlichen Perspektive zeigt sich im Vergleich zu vor der Pandemie, ein Rückgang im Optimismus, der im weiteren Verlauf anhaltender Einschränkungen relativ konstant bleibt (vgl. Abb. 3). Interessant ist, dass die Jugendlichen in der Befragung 2021 geringfügig zuversichtlicher sind, aber der Anteil derjenigen, die die Zukunft eher düster sehen, ebenfalls ansteigt. Dies ist insbesondere erwähnenswert, da die Daten aus vorangegangen Erhebungen eher vermuten lassen, dass der Anteil der Optimisten sinkt, während der Anteil der Pessimisten auf einem Niveau verharrt. Möglicherweise kommt hier auch ein positiver Effekt der Krisenbewältigung zum Tragen. Einschränkend bleibt hier festzuhalten, dass die Frage nach der Zukunftsperspektive eine sehr allgemeine Sichtweise erfasst und kaum Blickwinkel der einzelnen Lebensbereiche erfasst. Dass sich hier durchaus ein differenzierter Blick lohnt, zeigt die Studie „Jugend in Brandenburg 2020 – Auswirkungen der Corona-Pandemie“ (Sturzbecher, 2021). Sie gibt Hinweise darauf, dass sich die Zufriedenheit der Lebensperspektiven mit der Pandemie in Abhängigkeit der Lebensbereiche sowohl positiv als auch negativ entwickeln kann. Ob sich der Trend bei Jugendlichen in der stationären Betreuung fortsetzt, kann mit der Erhebung 2022 näher analysiert werden. Dann wäre zu klären, inwiefern die mit der Pandemie einhergehenden Bedingungen dazu beitragen und diesen Unterschied bestärken.

 

Abbildung 3: Zukunftsoptimismus in Prozent (grün= eher zuversichtlich, rot= eher düster, gelb= gemischt, mal so mal so) – Angaben der Jugendlichen über 16 Jahren

3.3 Die psychische Gesundheit und die Widerstandsressourcen

Je länger die Pandemie anhält, desto höher ist das Risiko psychischer Folgen für junge Menschen. Darauf deuten beispielsweise die Ergebnisse der bevölkerungsrepräsentativen COPSY-Studie hin, die junge Menschen in ganz Deutschland zu ihrer psychischen Gesundheit bereits in der dritten Erhebungswelle befragt (Ravens-Sieberer et al., 2022). Für junge Menschen in der stationären Betreuung sind die Befunde im Vergleich eher ambivalent und bisher ist keine klare Entwicklung zu erkennen. So lassen sich in Bezug auf das psychische Wohlbefinden – weder vor der Pandemie noch im Verlauf – größere Veränderungen erkennen. Lediglich der Indikator „sich müde und erschöpft zu fühlen“ zeigt, dass ein Anhalten der Einschränkungen für viele jungen Menschen nachhaltige Wirkung hat.

Abbildung 4: Warst Du müde und erschöpft?

Auch auf die aktuelle Lebenszufriedenheit wirkt sich die Pandemie negativ aus. So sinkt die Lebenszufriedenheit von 2018 zu 2020 vor allem für männliche Jugendliche und Jugendliche, die älter als 16 Jahre sind. Dagegen bleibt das Risiko für psychische Auffälligkeiten, gemessen mit dem Strengths and Difficulties Questionnaire (Goodman, 1997), im Wellenvergleich 2018 zu 2020 unverändert und in Hinblick auf die Gesamtbevölkerung auf einem allerdings sehr hohen, riskanten Niveau. Auch der Blick auf die Widerstandsressourcen, die wir mit dem Konzept und Instrument der Handlungsbefähigung messen, zeigt bislang keinen Rückgang. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil die Gruppe der stationär untergebrachten Jugendlichen über deutlich niedrigere Handlungsbefähigungswerte verfügt als die Durchschnittsjugendlichen. Ein weiteres Absinken hätte massive Auswirkungen für den weiteren Lebensverlauf.

 

3.4 Die Herkunftsfamilie als Ressource

Die Herkunftsfamilie gilt als eine wichtige emotionale und materielle Ressource im Lebensverlauf. Viele der Beziehungen der stationär untergebrachten Jugendlichen zu ihrer Herkunftsfamilie sind aufgrund der nachhaltigen massiven Probleme der Mütter und Väter fragil und prekär. Vor allem die Wünsche nach Anerkennung und (Besuchs-)Kontakten werden immer wieder enttäuscht. Dennoch verbleibt bei vielen der stationär lebenden Kinder und Jugendlichen der sehnliche Wunsch nach mehr Kontakt und Nähe zur Herkunftsfamilie. Um die Herkunftsfamilie als Ressource auch im späteren Leben zur Verfügung zu haben, ist es wichtig, dass während der stationären Betreuung der Kontakt nicht abreißt.

Wir sehen, dass sich wegen der Pandemie in der Befragung 2021 viele Jugendliche Sorgen um die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Herkunftsfamilie machen (53,1 Prozent trifft zu und trifft teilweise zu, 2020 lag der Wert um 9 Prozent höher). Die pandemiebedingte Situation hat die Kontakt- und Besuchshäufigkeiten objektiv verschlechtert. Die (regelmäßigen) Besuche von und bei der Herkunftsfamilie wurden immer wieder limitiert. Erfreulich ist, dass es trotzdem keine große pandemiebedingte Veränderung hinsichtlich der Kontakthäufigkeit zur Herkunftsfamilie gibt. Wir sehen bei allen drei Mitgliedern der Herkunftsfamilie nur einen leichten Rückgang. Hier haben die digitalen Kommunikationswege einiges offensichtlich abgefedert.

Abbildung 5: Wie häufig siehst Du Mitglieder Deiner Herkunftsfamilie derzeit? (2018 n=417, 2020 n=456)

Allerdings muss man bei diesem Befund noch Vorsicht walten lassen. Wir verfügen zunächst nur über den Vergleich von vor Corona und nach der ersten Pandemiewelle 2020. Erst mit der nächsten regulär anstehenden Längsschnittbefragung 2022 werden wir sehen, ob diese Aussage, dass die Beziehungen zur Herkunftsfamilie durch die Pandemie nicht geschwächt wurden, weiter gilt.

 

3.5 Eine verpasste7 Jugendzeit?

Für ältere Jugendliche in stationärer Heimunterbringung fällt die Pandemie in eine Zeit des Übergangs in die Selbstständigkeit, in der die jungen Volljährigen ohnehin mit vielen Herausforderungen – zum Teil zeitgleich – konfrontiert sind: beispielsweise der Übergang von Schule ins Berufsleben, die Wohnungssuche und die ersten längeren Partnerschaften. Der folgende Interviewausschnitt der Bezugsbetreuerin zeigt beispielhaft die negativen Auswirkungen der Pandemie auf das Leben des 17-jährigen Fynn auf:

„(Er) ist ein sehr ruhiger junger Mann, dem es schwerfällt, Erwachsenen zu vertrauen oder auf Erwachsene zuzugehen. Die Corona-Pandemie hat ihn dann nochmal ein gutes Stück zurückgeworfen auch in seiner Selbständigkeit, also er ist da in ein großes Loch gefallen.“

Neben der Verselbstständigung ist die Jugend auch eine Phase des Experimentierens. Identitätsbildung in der Adoleszenz lebt von der Möglichkeit des Ausprobierens und des Sich-Austestens. Die Einschränkungen der Pandemie führten aber genau dazu, dass viele Jugendlichen dies so nicht leben konnten. Die Fachkraft des 16-jährigen Moritz beschrieb dies treffend im Herbst 2021 so:

„In den eineinhalb Jahren, ist trotz allem viel Jugendzeit für ihn verloren gegangen: das Weggehen, mal da die Erfahrung zu machen, Partys zu feiern, ja, auch eine Freundin, überhaupt die Gelegenheit zu haben, jemanden kennenzulernen. Schule fällt weg, Gruppen sind weggefallen (…) Also jetzt im Sommer frägt er darf ich im Herbst wieder mal auf Partys gehen? (…) Jetzt natürlich, im Herbst schnellen die Zahlen wieder nach oben, keiner weiß, wie es weitergeht. (…) Da fehlte viel, da fehlte echt viel, da muss er viel wegstecken.“

Welche Auswirkungen Corona auf den Übergang in die Selbstständigkeit hat, untersuchen die Kolleg:innen des SPI in unserem Forschungsverbund. Auch hier erwarten wir bereits interessante erste Hinweise in der nächsten, 2022 stattfindenden Careleaver Befragung. Die Folgen der Pandemie auf das Erleben der Jugendphase und die jugendliche Identitätsbildung wird uns im Rahmen des Längsschnitts ebenfalls weiter beschäftigen.

 

4. Fazit und Ausblick

Wir finden ein differenziertes und vor allem ambivalentes Bild. So massiv die Corona-Pandemie den Alltag der Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe beeinflusst hat, so erstaunlich moderat sind in einigen Bereichen ihre Auswirkungen. Dies betrifft die sozialen Netzwerke ebenso wie das Gemeinschaftserleben, den Zukunftsoptimismus und die Widerstandsressourcen. Auch die oft mit Sorge beklagte Zunahme an psychischen Folgen bei Jugendlichen können wir vorerst nicht beobachten. Allerdings sind das alles noch Momentaussagen, da zum Zeitpunkt der zweiten Befragung die Pandemie nicht beendet bzw. endemisch geworden ist. Möglicherweise gibt es auch bei den Effekten der Pandemie ein „long Covid“ Phänomen und wir sehen in den nächsten Jahren vermehrt kritische Auswirkungen im psychischen und sozialen Bereich.

Deutlich wird, dass die künstlichen Gemeinschaften der Jugendlichen in ihren Wohngruppen durch die Pandemie zwar unter Stress gesetzt wurden, aber zugleich auch eine wichtige Bewältigungsressource bildeten. Man hat Corona nicht als individuelles Schicksal, sondern gemeinsam erlebt und sich vor allem in den Lockdown-Phasen gegenseitig unterstützt. Auch die kreative und tatkräftige Unterstützung ihrer Fachkräfte war sehr hilfreich. Bei allen, auch gelungenen, Anpassungsprozessen an die nicht enden wollende Corona-Pandemie bleiben jedoch auch Problemfelder. Dies betrifft vor allem auch den beruflichen Bereich. Wir sehen hier nicht nur keine Entspannung, sondern einen Gegentrend zu vielen anderen Entwicklungen. Bei der Befragung 2021 verschärfen sich die beruflichen Sorgen der Jugendlichen in stationärer Betreuung im Vergleich zu 2020 nochmals. Die qualitativen Analysen erzählen von massiven Rückständen und Defiziterleben. Und dies in einem Bereich, indem die von der Kinder- und Jugendhilfe stationär betreuten Jugendlichen auch ohne Corona bereits im unteren Drittel der Bildungsabschlüsse angesiedelt sind.

Die Entwicklung bei den Wertorientierungen bietet ebenfalls Anlass zur Sorge. Die Jugendlichen haben weniger jugendtypische Erlebnisräume und offensichtlich sinken auch die entsprechenden hedonistisch-selbstverwirklichenden Werteorientierungen. Die Feststellung von Andresen et al. (2022, S. 4), „dass nicht wenige junge Menschen den Eindruck haben, sie hätten ihre Jugend verpasst und sich fragen, ob sie dies je nachholen können“, könnte eine erste Erklärungsgrundlage für diesen sich andeutenden Wertewandel sein. Wir teilen die Einschätzung (Andresen et al., 2022, S. 16), dass die „Pandemie für junge Menschen mehr als nur eine zeitlich begrenzte Krise ist. Sie ist für sie zum Alltag geworden, der sich in ihre Jugend eingeschrieben hat“ mit einem offenen Ausgang, was die weitere Bewältigung und die Folgen betrifft.

 

Endnoten

1. Insgesamt sind 29 Einrichtungen von SOS-Kinderdorf (Wohngruppen, Kinderdorffamilien, Jugendwohngruppen) in das Forschungsprojekt eingebunden. Die Einrichtungen sind über das Bundesgebiet verteilt und werden von über 150 Jugendämtern beschickt. An den Coronabefragungen haben 2020 n=439 und 2021 n=402 Jugendliche teilgenommen.

2. Sofern nicht anders angegeben (= n.s.), sind alle in den nachfolgenden Kapiteln berichteten Unterschiede statistisch signifikant.

3. https://jugendhilfeportal.de/artikel/fluktuations-problem-umfrage-fuer-fachkraefte-in-der-heimerziehung [15.9.2022]

4. Die meisten der Wohngruppen, Kinderdorffamilien und Jugendeinrichtungen befinden sich nicht in Groß- oder Mittelstädten, viele tatsächlich eher auf dem Land in dorfähnlichen Umgebungen.

5. Wir haben auch das Item „Ich informiere mich täglich über die neuesten Entwicklungen zur Corona- Pandemie.“ erhoben. 2020 haben 33,1 % und 2021 noch 22,1 % darauf mit „trifft zu“ geantwortet.

6. Siehe beispielsweise „sich und seine Bedürfnisse gegen andere durchsetzen“, „Das Leben in vollen Zügen genießen“, „Von anderen unabhängig sein“.

7. Andresen et al., 2022

 

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Autor:innen

Dr. Florian Straus

straus@bitte-keinen-spam-ipp-muenchen.de

Leitung des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung

 

Kathrin Weinhandl

weinhandl@bitte-keinen-spam-ipp-muenchen.de

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Praxisforschung und Projektberatung

 

Ulrike Mraß

mrass@bitte-keinen-spam-ipp-muenchen.de

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Praxisforschung und Projektberatung

 

Melike Pusti

pusti@bitte-keinen-spam-ipp-muenchen.de

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Praxisforschung und Projektberatung



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