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Kitas in der Pandemie – Erfahrungen aus einem Vor-Beben

Klaus Bremen

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 28 (2023), Ausgabe 1]

 

Zusammenfassung

Der Beitrag greift die Perspektive der SARS-CoV-2-Pandemie als Vor-Beben auf: Anhand der Erfahrungen aus dem Kita-Krisenmanagement während der Corona-Pandemie in Nordrhein-Westfalen wird gezeigt, dass die in der Kita-Versorgung verantwortlichen Akteure und die Institutionen nicht oder nur mangelhaft vorbereitet sind auf künftige Beben durch Natur- und Klimaveränderungen. Das geht einher mit der Annahme, dass der heutige traditionelle Sozialstaat deutlicher systemischer Veränderungen bedarf, um die Resilienz der sozialen Infrastruktur zu erhöhen bzw. um als Ressource in dem Übergangsprozess zu karbonfreiem und an begrenzten Naturressourcen orientiertem Wirtschaften wirken zu können. Der Verfasser plädiert dafür, die konkreten Erfahrungen aus dem Krisenmanagement des Vor-Bebens als Lernprozess auszuwerten: Die Erfahrungen geben konkrete Hinweise darauf, wie sich Institutionen und Akteure in der sozialen Infrastruktur verändern müssen, um sich auf „starke“ Beben durch Natur- und Klimaveränderungen einzustellen.


Schlüsselwörter
:
Sozialstaat, Resilienz Kita-Versorgung, Vor-Beben, change management

 

Summary

Childcare services during pandemics. Trembling before the quake


The article takes up the perspective of the SARS-CoV-2 pandemic as a pre-quake: Based on experiences from daycare crisis management during the corona pandemic in North Rhine-Westphalia, it is shown that the actors responsible in daycare care and the Institutions are not or only insufficiently prepared for future earthquakes caused by natural and climate changes. This goes hand in hand with the assumption that today's traditional welfare state requires clear systemic changes in order to increase the resilience of the social infrastructure or to be able to act as a resource in the transition process to a carbon-free economy based on limited natural resources. The author advocates evaluating the concrete experiences from the crisis management of the pre-quake as a learning process: The experiences give concrete indications of how institutions and actors in the social infrastructure have to change in order to adapt to earthquakes caused by natural and climate changes.


Keywords
: welfare state, resilience of daycare, pre-tremors, change management

Die Perspektive: Die SARS-CoV-2-Pandemie als Vor-Beben

Es waren Entscheidungen zur Eindämmung und Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie, die in historisch bislang nicht bekannter Weise nicht nur in Nordrhein-Westfalen tief in die Strukturen, Abläufe und die qualitativ veränderte Funktion der Versorgung durch Kindertageseinrichtungen (Kitas) und in diesen Teil der sozialen Infrastruktur eingegriffen haben – zum Beispiel mit einem Betretungsverbot für Kinder und Eltern, die nicht in Unternehmen und Einrichtungen der kritischen Infrastruktur arbeiteten, mit Betriebseinschränkungen und Vorgaben zum Infektionsschutz, mit behördlichen Anforderungen zu regelmäßigen Tests der Kinder und der Mitarbeiter:innen.

Diese auf menschlichem Handeln und Entscheidungen beruhenden Eingriffe in die Kita-Versorgung werden im Folgenden aus der Perspektive eines Vor-Beben und als Erschütterungen in diesem Teil der sozialen Infrastruktur interpretiert – eine Sichtweise, die auf einen Satz des Astro-Physikers und Journalisten Harald Lesch zurückgeht, der den Klimawandel als „eine Corona-Pandemie über Jahrzehnte“ (Lesch, 2021) bezeichnet hat.

Der Terminus des Vor-Bebens stammt aus der Geologie: Ein Vor-Beben vermag als deutliche Warnung Hinweise auf größere Erschütterungen durch ein folgendes Beben geben – immer vorausgesetzt, die in der Regel kleineren Wirkungen eines Vor-Bebens werden aufmerksam wahrgenommen und berücksichtigt. Dann vermögen Folgerungen aus einem Vor-Beben Schäden von Personen und Sachen zu verringern oder sogar vollständig zu verhindern (Durand, 2020).

Diese Ausführungen folgen der Einschätzung von Lesch, dass der SARS-CoV-2-Pandemie größere Beben durch den Klimawandel folgen werden. Die dabei eingenommene Perspektive versteht sich ausdrücklich als zukunftsoptimistisch: Sie interpretiert die Erfahrungen während der SARS-CoV-2-Pandemie als spezifische Lernerfahrung für alle Beteiligten und geht davon aus, dass ein solches Vorgehen unterstützt, sich auf diese größeren Beben im Verlauf von Natur- und Klimaveränderungen einzustellen.

Aus der SARS-CoV-2-Pandemie zu lernen, heißt: nicht vor größeren Beben zu kapitulieren, Klimawandel nicht nur als wirtschaftliche und technische Herausforderung zu verstehen, sondern auch die soziale Infrastruktur und den Sozialstaat auf Zeiten des Klimawandels vorzubereiten.

Methodisch stellt sich diese Aufgabe

  • auf der Mikro-Ebene in jeweils spezifischen Teilen der sozialen Infrastruktur und als Aufgabe dort zu ändernder konkreter Praxis und Haltung der Beteiligten, zum alltäglichen professionellen Handeln,
  • auf der Meso-Ebene für die rechtliche und institutionelle spezifische Struktur zu bestimmender Bestandteile der sozialen Infrastruktur, zum Beispiel die rechtlichen und institutionellen Grundlagen der Kita-Versorgung,
  • auf der Makro- und der systemischen Ebene für die Sozialgesetzgebung insgesamt, das Institutionengerüst, die Ausrichtung und das Selbstverständnis des heutigen und des hier als „traditionell“ charakterisierten Sozialstaats. Angesichts der Natur- und Klimaveränderungen nimmt diese Rede von einem „traditionellen“ Sozialstaat den historischen Charakter von Sozialstaatlichkeit in Deutschland in den Blick. Die bis heute geltenden Strukturen und die sozialen Sicherungsmechanismen des traditionellen Sozialstaats entstammen dem spezifischen historischen Kontext der frühen Industrialisierung Deutschlands und sind in den besonderen gesellschaftlichen, sozialen und Natur-Verhältnissen einer frühen kapitalorientierten Wirtschaft und Waren-Gesellschaft entstanden. Die Bedingungen haben sich seit den Zeiten des deutschen Kaiserreichs gewandelt und dem hat sich der traditionelle Sozialstaat auch unter historisch verschiedenen Staatsverfassungen anzupassen vermocht. Seit den 1970er Jahren beginnen sich die Bedingungen von Sozialstaatlichkeit in Deutschland epochal zu verändern – durch Veränderungen im Innern der Gesellschaft und den Veränderungen von Natur und Umwelt und dem Klimawandel. Insbesondere durch den zunehmenden Anpassungsdruck an die begrenzten Natur-Ressourcen und den Übergang in ein karbonfreies Wirtschaften entwickeln sich qualitativ veränderte gesellschaftliche – und zugleich soziale – Situationen sowie neue Herausforderungen und veränderte Aufgaben für den künftigen sozialen Staat.

 

Die stille Revolution in den Familien und die veränderte Funktion von Kitas

Schon mit ihrem zahlenmäßigen Ausbau haben sich Kindertageseinrichtungen (Kitas) in Deutschland zu einem bedeutsamen Teil der Daseins-Vorsorge in den Kommunen entwickelt.

Zugleich bleibt vielfach in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen unbeachtet, dass mit der zahlenmäßigen Veränderung zugleich eine qualitative Veränderung verbunden ist, die exemplarisch ist auch für Veränderungen in anderen Teilen der sozialen Infrastruktur im heutigen Sozialstaat.

Nach dem „Kinderbetreuungsreport 2018“ lag der Betreuungsbedarf von Eltern mit Kindern unter drei Jahren bundesweit bei 45 Prozent und bei Eltern mit Kindern über drei Jahren bundesweit bei 97 Prozent (Alt et al., 2018, S. 92-95).

Diese Bedarfe spiegeln die „stille Revolution“ des Familien-Lebens in Deutschland: Eine gesicherte Kita-Betreuung gehört in den heutigen Lebensverhältnissen zu den Schlüssel-Fragen in der Lebensplanung junger Familien – vor allem dann, wenn beide Eltern einer Berufstätigkeit nachgehen und Beruf und Familie vereinbaren wollen (Alt et al., 2018, S. 94).

Der heutige Sozialstaat hat sich mit dem Rechtsanspruch von Kindern auf Förderung durch eine Kindertageseinrichtung (Kita) (§ 24 SGB VIII) bemüht, auf geänderte Lebens- und Erwerbsbiografien von Frauen, Veränderungen im Familienleben und demografische Veränderungen in den Arbeitsmärkten zu reagieren.

Der Kita-Besuch ändert auch für einen zahlenmäßig stetig größer werdenden Anteil der heutigen Kinder-Generationen deren Lebens- und Erfahrungssphären: „Die Kita ist im frühen 21. Jahrhundert zu einem alltäglichen Ort des Aufwachsens geworden – für alle Kinder“ (Rauschenbach et al., 2019, S. 5). Kitas werden „immer deutlicher zu einem frühen und eigenständigen institutionellen Bildungsort für Kinder in den ersten Lebensjahren“ (Rauschenbach et al., 2019, S. 6).

 

„Ein System in der Welt der Menschen so stark und gesundmachen wie wir es irgendwie können“ (Franzen): Resiliente Versorgungssysteme

Als „alltäglicher Ort des Aufwachsens“ werden heutige Kitas angesichts der künftigen Natur- und Klimaveränderungen in besonderer Weise dann „Zukunftseinrichtungen“ innerhalb der sozialen Infrastruktur – allein schon deshalb, weil die heutigen Kita-Kinder die Generationen sind, in deren Lebenszeit sich Natur- und Klimaveränderungen als besondere Herausforderungen ergeben.

Das macht der Isländer Andri Snaer Magnason beispielhaft an den Veränderungen des Wassers deutlich: „Die meisten Gletscher außerhalb der Pole werden beträchtlich schmelzen, der Meeresspiegel wird steigen, die Erdtemperatur wird sich erhöhen, begleitet von Dürren und Überflutungen (…)“ (Magnason, 2020, S. 11). Dabei verlassen in diesen Natur-Veränderungen die größten Kräfte der Erde eine geologische Zeitskala von Millionen von Jahren und bewegen sich auf der menschlichen Zeitskala: So wird sich der pH-Wert des Ozeans in den nächsten Jahrzehnten stärker verändern als in den letzten 50 Millionen Jahren. Diese Veränderungen beim Wasser werden sich während der Lebenszeit eines Kindes abspielen, das heute auf die Welt kommt und das – wie Magnasons eigene Großmutter – 95 Jahre alt wird (Magnason, 2020, S. 11). So fordert das Lebensinteresse der heutigen Kinder in den Kitas, in der Zukunft eine weitere Erderwärmung zu verhindern, zumindest zu verlangsamen.

Aus den Wirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Kita-Versorgung lässt sich zugleich ablesen, dass krisenhaft verlaufende Natur-Veränderungen immer auch eine soziale Bedeutung haben und sich zum Beispiel bei Kindern in ihre Lebensbiografie einschreiben. Dabei ist die die SARS-Cov-2-Pandemie selbst schon als Krise zu deuten, die Folge humaner Eingriffe ist und Auswirkung als dadurch hervorgerufene Natur-Veränderung hat.

Denn nach heutigem Erkenntnisstand hatte die Pandemie mit hoher Wahrscheinlichkeit als Zoonose einen tierischen Ursprung: Dem SARS-CoV2-Virus war es gelungen, von einem tierischen Organismus, der Hufeisen-Fledermaus, über einen Zwischen-Wirt auf einen menschlichen Organismus überzuspringen (Thal, 2020). Solche Übersprünge werden in der Regel durch eine als Gewohnheit angenommene Unwissenheit der menschlichen Spezies gegenüber den Folgen eigener Eingriffe in die Natur erleichtert.

Ein den Klimawandel nur „verhinderndes“ wirtschaftlich orientiertes oder technisches Handeln ist als Perspektive nicht hinreichend: Schon bloßes wirtschaftliches bzw. technisches Verhindern erfordert verändertes soziales Handeln und Verhalten der Bevölkerung. Allgemeiner: Die ökologische Transformation erfordert zugleich eine auf die mit ihr verbundenen Herausforderungen ausgerichtete Gesellschafts- und Sozialpolitik und die Weiterentwicklung der sozialen Infrastruktur und Veränderungen im heutigen Sozialstaat. Dagegen unterstellt ein ausschließlich auf Verhinderung des Klimawandels ausgerichtetes wirtschaftliches oder technologisches Handeln, dass die heutige soziale Infrastruktur und der traditionelle Sozialstaat ausreichend gerüstet seien für krisenhaft verlaufende Zeiten von Natur- und Klimaveränderungen – eine mutige Annahme, die durch die Pandemie-Erfahrungen ebenso in Frage gestellt wird wie durch die Erfahrungen der Flutkatastrophe 2021 in der Eifel und an der Ahr.

Magnason spricht die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen an, wenn er feststellt, dass künftige Veränderungen „komplexer (sein werden) als die meisten Dinge, mit denen wir uns normalerweise beschäftigen. Sie übersteigen all unsere bisherigen Erfahrungen, sie übersteigen die Sprache und Metaphern, die wir benutzen, um unsere Realität zu verstehen“ (Magnason, 2020. S. 11). Der lange Lauf durch Zeiten von Natur- und Klimaveränderungen ist mithin ein langer Lauf durch neue Arten von Krisen und durch unbekannte Situationen.

Zumindest für den Augenblick ist sicher, dass es dazu in der sozialen Infrastruktur und zum Beispiel im Gesundheitswesen, der Pflege und eben auch im Kita-Bereich, stärker krisenresilienter Institutionen und entsprechend veränderter Haltungen der Akteure bedarf: „Um mit steigenden Temperaturen zurechtzukommen, wird jedes System, ob in der Welt der Natur oder in der Welt der Menschen, so stark und gesund sein müssen, wie wir es irgendwie machen können“ (Franzen & Freund, 2020, S. 36).

Das führt auf die Erfahrungen der Kitas in Zeiten der Pandemie zurück: Was lässt sich daraus lernen, damit die Kita-Versorgung als „System in der Welt der Menschen“ künftig widerstandsfähiger ist?

 

Kitas in Nordrhein-Westfalen

Die Organisation der Kita-Versorgung ist als Teil der sozialen Infrastruktur und als Element ihrer Kulturhoheit Angelegenheit der einzelnen Bundesländer und Aufgabe auf Ebene der Kommunen. Auf Bundes-Ebene ist diese Aufgabe mit dem SGB VIII nur durch eine Art Rahmengesetz sozialrechtlich geregelt: Es sind die Länder, die mit ihren länderspezifischen Ausführungsgesetzen die Versorgungsstruktur und die dort herrschende Kultur der Zusammenarbeit unterschiedlicher beteiligter Akteure vorgeben – Nordrhein-Westfalen mit dem Kinderbildungsgesetz (KiBiz).

Das Land Nordrhein-Westfalen setzt dabei auch mit dem aktuell geltenden KiBiz auf den in dem bundesweiten Gesetzesrahmen des SGB VIII angelegten Korporatismus und auf Strukturen, die in einem Sondergutachten der Monopolkommission als „bilaterales Kartell“ von Kirchen, Religionsgemeinschaften und Freier Wohlfahrtspflege kritisiert wurden (Monopolkommission, 2014, S. 128).

Dabei gilt schon seit 1924 und den Zeiten der frühen Weimarer Republik auch für die Kita-Versorgung in Deutschland der Vorrang von Angeboten sog. freier Trägern aus der zivilen Gesellschaft vor den Angeboten öffentlicher Träger und der Kommunen (Subsidiarität).

Allerdings ist die Vorstellung der Zivilgesellschaft wie sie schon zur Weimarer Zeit im Kinder- und Jugendhilferecht kodifiziert wurde und die sich bis in das heutige SGB VIII fortsetzt, eine Vorstellung, in der die Kita-Versorgung vor allem durch kirchliche Träger und die Träger-Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wahrgenommen wird. Folgerichtig sind es bis heute die Kirchen, die Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts und die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtpflege, die mit einer Art „automatischer Lizensierung“ als „freier Träger der Jugendhilfe“ rechtlich und in den Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe privilegiert sind.

Innerhalb der Freien Wohlfahrtspflege spielen mit Caritas und Diakonie als größten Kita-Trägern die Kirchen wiederum eine führende Rolle – mit der höchsten Anzahl der von ihnen getragenen Einrichtungen und dort beschäftigter Mitarbeiter:innen und den höchsten Zuwendungssummen öffentlicher Förderung (Wikipedia, 2022b).

Neuere Kita-Gründungen, wie die von Eltern-Initiativen oder von innovativen Sozialunternehmen, müssen sich diesen Träger-Verbänden anschließen – oder sie verlieren diese rechtlichen Privilegien des SGB VIII.

Am 11. März 2020 stufte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Ausbruchsgeschehen mit dem neuartigen SARS-CoV-2-Virus als weltweite Pandemie ein (Wikipedia, 2022c): In Nordrhein-Westfalen waren es damit diese Closed-Shop-Strukturen (Monopolkommission) privilegierter Kita-Träger, die sich der Herausforderung durch die Pandemie stellen mussten.

 

Kita-Welt in Nordrhein-Westfalen


Einwohner:innen: 17,9 Mio.

Erwerbstätige: 9,581 Mio.

Erwerbstätige in Kindertageseinrichtungen: 114.014

Anzahl der Kinder unter sechs Jahren: 1,034.122

Anzahl der Kitas: 10.586

Kinder in Kitas: 644.745

Betreuungsquote Kinder über drei Jahre: 89,9 Prozent

Betreuungsquote Kinder unter drei Jahre: 19,4 Prozent

Übersicht 1: Daten aus Bertelsmann Stiftung, 2021

 

 

Krisen-Eigenschaften der SARS-CoV-2-Pandemie

Als massenhaftes Infektionsgeschehen bringt die Pandemie ein neues und kollektiv wirkendes Risiko für die Bevölkerung mit sich: Sie ist nicht einfach ein individualisiertes Risiko, in dem es zum Beispiel um eine individuell auftretende Erkrankung, um individuelle Pflegebedürftigkeit oder individuelle Arbeitslosigkeit als Risiken geht. Ihre Eigenschaft als kollektiv wirkendes Risiko bildet sich bis heute in der Belastung von Intensivstationen ab und in den damit verbundenen Diskussionen um die Triage. Das Pandemie-Geschehen lässt sich auch nicht ohne weiteres unter die „traditionellen“ soziale Risiken rubrizieren, gegen die sich der traditionelle Sozialstaat gewappnet sieht, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit aufgrund wirtschaftlicher Krisen. Gerade auch als kollektives Risiko besteht die Gefahr, dass die Pandemie zu größeren gesellschaftlichen Risiken kumuliert – bis hin zum Anstieg von Inflation und Staatsverschuldung.

Auch eine weitere Unbekannte wirkte bundesweit und in Nordrhein-Westfalen: Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Pandemie stand dem vorhandenen Experten-Wissen über diese Viren-Gruppe nur ein eingeschränktes medizinisches Behandlungs- und Therapie-Knowhow gegenüber. Es fehlten zum Beispiel ein wirksamer Impfstoff und geeignete Medikamente. Einrichtungen der sozialen Infrastruktur, wie Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Arztpraxen, verfügten in diesen ersten Wochen nicht einmal über eine ausreichende Anzahl an Standardausrüstungsgegenständen für eine Epidemie, zum Beispiel Schutzkleidung und Masken.

 

SARS-CoV-2 in Nordrhein-Westfalen

 

Einwohner:innen: 17,9 Mio.

Gesamtzahl aller gemeldeten Infektionen: 4.721.496

Infektionsrate: 26,3 Prozent

Todeszahl: 24.354

Übersicht 2: Daten nach Siekmann, 2021

 

Damit fielen ausgerechnet Ärztinnen und Ärzte und ein großer Teil des medizinischen Expertentums als handlungsfähige Akteure zu Beginn der Pandemie aus – sonst ja eine der tragenden Säulen traditioneller Sozialstaatlichkeit. So blieb die Bevölkerung auf eigenes Verhalten und eigenverantwortliches Handeln verwiesen. Auch in Nordrhein-Westfalen begann damit eine der vermutlich größten Selbsthilfe-Aktivitäten in der Geschichte des Landes: Gegenüber einem kollektiven Risiko begann die Mehrheit dieses Kollektivs und der Bevölkerung, sich mit Masken, Abstand und einfachen Hygieneregeln zu schützen. Bis heute hält diese „stoische Vernünftigkeit“ der Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland an.

 

Die besondere Schutzbedürftigkeit heutiger Kitas

Unter der Perspektive eines Vor-Bebens stellt sich die Frage, welchen besonderen Schutz Kitas als Teil der sozialen Infrastruktur angesichts dieser Herausforderung durch die Pandemie brauchen – eine Frage, die sich nur mit einem Blick auf das besondere soziale Leistungsgeschehen in Kitas beantworten lässt. Der Gesetzgeber fordert von Kitas die Förderung der Entwicklung von Kindern: Diese Entwicklungsförderung findet in Kitas in einer Phase der kindlichen Entwicklung statt, in der sich die organischen Fähigkeiten weiter differenzieren und sich mit der Willens-Entwicklung (Otto Rank) die Persönlichkeits-Merkmale zu entwickeln beginnen (Müller, 1998). Das gibt Kitas einen eigenständigen Bildungs- und Förderauftrag, der sich von dem Auftrag der Schulen und der Entwicklung von Kindern bei Eintritt der Schulpflicht unterscheidet: Kitas sind daher weder fachlich noch rechtlich einfach nur „Vor-Schule“ oder eine Art „Schule light“. Im Gegenteil: Dieses traditionelle Verständnis von Kitas kehrt sich in der Fachwelt zunehmend um: „Ich vertrete die Auffassung, dass die restliche Schulzeit, ja unser ganzes restliches Leben, sich eher am Vorbild Kindergarten orientieren sollte“ (Resnick & Robinson, 2020, S. 24). Der US-amerikanische Bildungsforscher Mitchell Resnick vom MIT ist dabei überzeugt, „dass Lernen im Kita-Stil genau das ist, was Menschen aller Altersgruppen hilft, die notwendigen kreativen Fähigkeiten zu entwickeln, die sie benötigen, um in der sich schnell wandelnden Gesellschaft von heute erfolgreich zu sein“ (Resnick & Robinson, 2020, S. 20).

In dieser Phase von Kita-Lernen und früher Entwicklung von Kindern spielen soziale Kontakte und Beziehungen zu den Peers und den Erwachsenen in der Kita eine ausschlaggebende Rolle: Lernen und ein Lern-Setting werden für Kinder bedeutungsvoll, wenn sie den kindlichen Kontakt-Bedürfnissen und zugleich ihren Kontakt-Fähigkeiten entspricht und Lernen organisch „face-to-face“ stattfinden kann. Die damit verbundenen Tätigkeiten der Betreuung, Pflege und frühen Entwicklungsförderung tragen den Charakter von Lebenssorge-Tätigkeiten („care“), die heute im Setting Kita professionell ausgeübt werden (vgl. Aulenbacher & Dammayr, 2014). Im Sinne des Sozialrechts sind solche professionell ausgeübten Tätigkeiten der Lebenssorge persönliche soziale Dienstleistungen (§ 11 SGB I): Ihre Besonderheit besteht eben darin, dass sie nur durch entsprechend qualifizierte Mitarbeiter:innen vorwiegend face-to-face und im Setting einer sozialen Gruppeneinrichtung erbracht werden können. Professionelle Fachkräfte müssen Kinder dafür in ein kontaktvolles Lern-Setting einladen können und sie ermutigen, ihre Welt und sich selbst zu entdecken und sie zu neuen Erfahrungen inspirieren (Hüther, 2016).

Heutige Kitas sind daher schutzbedürftig als spezifisches Dienstleistungs-Setting und als Betrieb professionell erbrachter Lebenssorge-Tätigkeiten (care). Geschützt werden muss die Erreichbarkeit des Face-to-Face-Lernsettings für die Kinder und für die Kita-Teams: „Schutz-Ziel“ muss sein, dass Kita-Türen offenbleiben und Kita-Teams anwesend sind und handlungsfähig bleiben. Diese Aufgabe des Schutzes als Teil sozialer Infrastruktur liegt in öffentlicher Verantwortung und bei den Kommunen bzw. den jeweiligen Bundesländern.

 

Navigationsprobleme: Wie Kommunen und das Land ihrem Schutzauftrag nachkommen1

In Nordrhein-Westfalen wurden die ersten Fälle von SARS-CoV-2-Infektionen am 24. bzw. 25. Februar 2020 in Gangelt im Kreis Heinsberg festgestellt – nur drei Monate nach der ersten Infektion in China (Wikipedia, 2022a).

Für die von einer konservativ-liberalen Koalition getragene Landesregierung tritt eine Situation ein, die aus ihrer Sicht jetzt rascher Entscheidungen bedurfte: So beschließt die Landesregierung zwei Wochen später ein erstes Corona-Maßnahmenpaket, in dem sie zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte unter anderem den „Lock-Down“ der Kita-Versorgung in Nordrhein-Westfalen anordnet.

Es ist die Entscheidung, die Kita-Türen zu schließen und den Betrieb vieler Kitas einzustellen.

Diese Entscheidung beruht im Wesentlichen auf zwei Argumentationen:

  1. einer vor allem medizinisch-infektiologisch orientierten Argumentation und dem Infektionsschutz: Die Schließung der Kitas als Gemeinschaftseinrichtungen soll verhindern, dass sich das SARS-CoV-2-Virus weiterverbreitet.
  2. einer an der Aufrechterhaltung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung orientierten Argumentation: In der Krisen-Situation durch die Pandemie soll eine mögliche Überlastung der medizinischen Infrastruktur verhindert werden.

Damit wird das Gesundheitsministerium in Nordrhein-Westfalen zugleich zum Haupt-Akteur auch für den Kita-Teil der sozialen Infrastruktur: Auf der Rechtsgrundlage des Infektionsschutzgesetzes spricht das Landesgesundheitsministerium für die Zeit vom 16. März bis zum 24. April 2020 ein Betretungsverbot aus für die Räumlichkeiten von Kitas, Kindertagespflegestellen und heilpädagogischen Kitas. Gleichzeitig werden von diesem Betretungsverbot Eltern mit Berufen ausgenommen, deren Tätigkeit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Bevölkerung und der Aufrechterhaltung zentraler Funktionen des öffentlichen Lebens dient. Kinder von sog. Schlüsselpersonen der öffentlichen Infrastruktur werden im Rahmen eines sog. Notbetriebs der Kitas weiterhin betreut.

Was in der damaligen Situation nach Infektionsschutz und an der gesundheitlichen Versorgung orientierten Handlungsschritten aussieht, sind aus heutiger Perspektive eher Navigationsprobleme:

  • So beruhten die vor allem medizinisch-infektiologisch begründeten Gesichtspunkte zum Zeitpunkt der Entscheidungen der Landesregierung auf Informationen, Erkenntnissen und einer Studienlage, die wenig Auskunft über Infektionsgefahren durch Kita-Kinder oder durch Mitarbeiter:innen hätte geben können.
  • Es gibt keine öffentlich zugänglichen Hinweise darauf, dass zu diesem Zeitpunkt für die Verbotsentscheidung der Landesregierung auch andere als medizinisch-infektiologische Kriterien intensiver in Betracht gezogen und bewertet wurden und zum Beispiel die besondere Schutzbedürftigkeit des Settings Kita in der Entscheidungsfindung eine größere Rolle gespielt hätte.
  • Es gibt vor allem auch keine öffentlich zugänglichen Hinweise darauf, dass eine differenzierte Folgenabschätzung eines Betretungsverbots durch die zuständigen Behörden erfolgte.

Solche Entscheidungen, die tief in die soziale Infrastruktur und in die Kita-Versorgung eingreifen, hätten allerdings das allgemeine Infektionsschutz-Bedürfnis der Bevölkerung mit den besonderen Schutz-Bedürfnissen der Einrichtung Kita und den Schutzbedürfnissen ihrer Anspruchsgruppen abzugleichen – also mit den Schutzbedürfnissen der Kinder, Hochschulen und Wissenschaft, Eltern, Familien, private Lebensgemeinschaften, Mitarbeiter:innen, Kita-Träger, Kostenträger. Nur aus einem solchen Abgleich lassen sich informierte Entscheidungen entwickeln, die als Krisen-Szenarien verantwortlichen politischen Entscheidungen unterlegt werden könnten.

Dagegen wird im Verlauf der Pandemie zunehmend deutlich: Die Sichtweise der SARS-CoV-2-Pandemie als medizinisch-infektiologisches Problem stellt eher eine Engführung der Entscheidungskriterien dar. So wird sich – wenn auch spät – die Konferenz der für die Kita-Versorgung zuständigen Fachministerien von Bund und Ländern in den Ländern auf eine Haltung verständigen, sich als Fachminister:innen innerhalb der Landesregierungen verstärkt für einen möglichst wenig eingeschränkten Kita-Betrieb zu engagieren (Jugend- und Familienministerkonferenz, 2021).

 

Hinter verschlossenen Türen: Korporatistisches Krisen-Management

Im weiteren Verlauf der SARS-CoV-2-Pandemie bleibt es in Nordrhein-Westfalen für die Kitas bei einem öffentlichen Krisen-Management „mit eingeschränktem Blick“, das auf Sicht fährt und auf vorhandene korporatistische Strukturen setzt. Und es bleibt bei der engeren medizinisch-infektiologischen Sicht und hinsichtlich der zuständigen Institution – beim Gesundheitsministerium des Landes. Zugleich verlagern sich detaillierte Entscheidungen der für die Kita-Versorgung verantwortlichen Akteure und Shareholder der Kinder- und Jugendhilfe hinter die verschlossenen Türen eines auf Landesebene tätigen korporatistischen Beratungs- und Abstimmungsgremiums. In diesem Gremium wirken einerseits die Kommunen und Land in ihrer Doppel-Rolle als Aufsichtsbehörden und Kostenträger mit und zugleich die nach § 75 Abs. 3 SGB VIII lizensierten „traditionellen“ Kita-Träger (Kirchen, Freie Wohlfahrtspflege).

Regelhaft sind neuere Kita-Träger aus der Zivilgesellschaft ebenso wenig vertreten wie Eltern, Familien oder Kita-Leitungen als bedeutsame Anspruchsgruppen der Kita-Versorgung. Der zuständige Familienminister (und damals zugleich der Vorsitzende der Freien Demokraten in NRW!) Dr. Joachim Stamp setzt in dem von ihm mitverantworteten Krisenmanagement auf Strukturen eines „bilateralen Kartells“ und einen „closed shop“ (Monopolkommission, 2012/2013, S. 128). Die Beratungen der Shareholder-Seite der Kitas finden dabei weder öffentlich statt noch sind Vorlagen oder Beschluss-Dokumente regelhaft öffentlich einsehbar: Das Beratungs- und Abstimmungs-Gremium verfügt in Nordrhein-Westfalen nicht einmal über einen eigenen Internet-Aufritt. Auch eine Kontrolle durch die Medien in Nordrhein-Westfalen findet nur eingeschränkt statt: Zwar bildeten die Beratungsergebnisse dieses Gremiums im Verlauf der Pandemie häufiger Grundlage der Statements des NRW-Familienministers Dr. Stamp in der Landespressekonferenz, vermutlich war vielen NRW-Medien-Vertreter:innen aber nicht einmal die bloße Existenz dieses korporatistischen Abstimmungsgremiums und seine Bedeutung im Pandemie-Management bekannt.

In der SARS-CoV-2-Pandemie nehmen in diesem korporatistisch verfassten Gremium die Vertreter:innen der Kommunen ausschlaggebenden Einfluss. Ihre Interessenlage ist unter anderem dadurch geprägt, dass die Kommunen nach dem SGB VIII erstzuständig sind für die Umsetzung des Rechtsanspruchs und die Finanzierung der Kitas. Dabei achten die kommunalen Vertreter:innen aufgrund der zum Teil schwierigen Finanzsituation der Kommunen in Nordrhein-Westfalen darauf, dass mit den Aufgaben in der Pandemie keine zusätzlichen Finanzierungsbedarfe auf ihrer Ebene entstehen bzw. dass dafür Mittel von Bund und Land bereitgestellt werden.

Über die von den Kommunen als Eigenbetrieb oder als ausgelagerte gemeinnützige GmbH getragenen Kitas wirken indirekt auch berufsständische Beschäftigten-Interessen auf die kommunalen Vertreter:innen, denn insbesondere in den größeren Städten in Nordrhein-Westfalen und in den kommunalen Kitas weist die Gewerkschaft einen höheren Organisationsgrad auf. Arbeit und Entscheidungen dieses Gremiums werden im Folgenden anhand ihrer Wirkung auf die Anspruchsgruppen der Kitas dargestellt und damit aus der Perspektive derjenigen, in deren Leben diese Entscheidungen eingreifen. Zu diesen externen Anspruchsgruppen der Kitas gehören insbesondere die Kinder, ihre Eltern und ihre Familien bzw. privaten Lebensgemeinschaften: Sie haben einen Anspruch darauf, dass ihre Interessen angemessen von Kosten-Trägern und Kita-Trägern und der Shareholder-Seite berücksichtigt werden.

 

Auswirkungen des Pandemie-Managements auf Anspruchsgruppen der Kitas

Kinder: Soziale und gesundheitliche Auswirkungen

Insbesondere mit dem Betretungsverbot wurden die Kinder abrupt abgeschnitten von sozialen Kontakten zu ihren Peers und den Erwachsenen aus den Kita-Teams und verloren mit der regelmäßigen Kita-Besuchsmöglichkeit bedeutsame Lern-Settings. Das hat soziale und psychologische Folgen wie zum Beispiel eine verzögerte Sprachentwicklung von Kindern oder ein verzögertes oder ganz ausbleibendes soziales Lernen (vgl. zusammenfassend: Kränzl-Nagl & Beham-Rabanser, 2020). Eine ganze Reihe von Kindern sehen sich bei ihrer Rückkehr in den familiären Binnenraum mit Erfahrungen von körperlicher und seelischer Misshandlung und Gewalt konfrontiert, die nicht selten von überforderten Familien-Mitglieder ausgeht. Im Verlauf der Pandemie wird dann auch die Fachvereinigung von Kinderärzten auf mögliche Folgen des Zutrittsverbots und eines eingeschränkten Kita-Betriebs hinweisen.

 

Kinder: Beteiligung nur bei schönem Wetter?

In der pädagogisch-fachlichen Diskussion spielen in Nordrhein-Westfalen dabei seit Jahren von Seiten der Landesjugendämter die Beteiligung und Partizipation der Kinder in den NRW-Kitas eine bedeutsame Rolle. In einer Arbeitshilfe des Landschaftsverbands Rheinland aus dem Jahr 2018 wird Annedore Prengel mit dem Leitsatz zitiert: „Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen zu finden“ (Landschaftsverband Rheinland, 2018, S. 7). Offensichtlich setzte die Pandemie-Erfahrung die Umsetzung solcher pädagogischen Vorsätze weitgehend aus: Weder Kinder noch mögliche Erwachsene in Anwalts-Funktion erhielten die Gelegenheit, ihre Sichtweisen als Anspruchsgruppe der Kitas mitzuteilen. Es ist nicht öffentlich bekannt geworden, dass die verantwortlichen Shareholder der Kita-Versorgung in der Navigation durch die Pandemie diesen pädagogischen Leitsatz angewandt und Kinder nach ihrer Sicht der Pandemie-Maßnahmen befragt hätten.

 

Eltern, Familien, private Lebensgemeinschaften: Alltags-Katastrophen

Zunächst mit dem Betretungsverbot und dann mit den Phasen eines eingeschränkten Kita-Betriebs brach für die Mehrheit der Familien und privaten Lebensgemeinschaften, die eine Kita zur Betreuung ihrer Kinder mitnutzen, die Pandemie massiv in ihren Alltag ein – häufig disruptiv und von einem auf den anderen Tag. Die Erfahrungen des Kita-Zutrittsverbots glichen dabei Erfahrungen mit einem Katastrophen-Ereignis: Im Alltag ist von der einen zur anderen Minute nichts mehr wie es war (vgl. zusammenfassend: Institut für Demoskopie Allensbach, 2020). Vor allem berufstätige Mütter und Väter müssen ihr Arbeitsleben, ihren Familien-Alltag und ihr privates Leben quasi über Nacht neu organisieren. In ersten Statements in sozialen Medien reagieren junge berufstätige Mütter und Väter nahezu traumatisiert auf ihre Erfahrungen, dass mit dem Betretungsverbot der Kitas ihr Familienleben und ihre Lebens- und Berufsplanung auf tönernen Füssen steht. Einige der Auswirkungen auf diese Familien werden erst allmählich deutlich – unter anderem die Depressionen bei betroffenen jungen Eltern.

Die neue Krisen-Normalität bringt schon bald die Re-Traditionalisierung von Männer- und Frauen-Rollen mit sich: Es sind vor allem die Frauen, die ihre Arbeitszeit zugunsten der jetzt in der privaten Sphäre vorzunehmenden Lebenssorge-Tätigkeiten von Betreuung, Pflege und Entwicklungsförderung der Kinder reduzieren. Erst allmählich gelingt es den Familien, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen und in ihrem privaten Umfeld mithilfe von Großeltern, Freunden und Nachbarn die Betreuung der Kinder zu organisieren.

Während der Pandemie gründet sich mit den Gruppen wie der „Initiative Familien“ (https://www.initiativefamilien.de) dann eine neue Vertretung von Eltern, die vor allem über die sozialen Medien auf die Lage der Familien aufmerksam machen. Die Gründung zeigt zugleich, dass es die in Nordrhein-Westfalen landesgesetzlich vorgesehenen Elternbeiräte offensichtlich nicht ausreichend vermochten, Eltern-Interessen öffentlich zu formulieren.

Zu den Langzeit-Wirkungen des besonderen Krisenmanagements in Nordrhein-Westfalen in der Elternschaft gehört, dass das Pandemie-Management das Vertrauen der Eltern in eine zuverlässige Kita-Versorgung deutlich angegriffen hat.

 

Hochschule und Wissenschaft: Ohne Kritik

Zwar sind Verlauf und Entwicklung der Pandemie in den Kitas in Deutschland einem umfassenden Monitoring unterworfen, an dem als zuständige Fach-Institution das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in München beteiligt ist (vgl. https://www.corona-kita-studie.de/), was weiterhin fehlt ist allerdings die kritisch-wissenschaftliche Begleitung und Auswertung des öffentlichen Krisenmanagements und eine kritische Auseinandersetzung mit der Praxis der zuständigen Akteure und Institutionen während der Pandemie.

 

Mitarbeiter:innen der Kitas und in den Kita-Teams: Wesentlicher Resilienz-Faktor

In Bezug auf die internen Anspruchsgruppen der Mitarbeiter:innen der Kita-Teams und der Kita-Leitungen hatte die Bertelsmann-Stiftung dem Land Nordrhein-Westfalen schon vor dem Betretungsverbot einen profunden Personalmangel in den Kitas bescheinigt: Nach ihren Berechnungen fehlen bis zum Jahr 2030 rd. 15.000 Mitarbeiter:innen in den Kita-Teams (Bertelsmann Stiftung, 2021). Das Vor-Beben der SARS-CoV-2-Pandemie trifft damit einen Teil sozialer Infrastruktur, der zum Zeitpunkt dieser Pandemie ohnehin schon personell unterausgestattet ist.

Mit dem Ende des Betretungsverbots und der Rückkehr zu einem eingeschränkten Regelbetrieb ergeben sich bei einer ohnehin unzureichenden Personalausstattung zugleich weitere und zusätzliche Aufgaben für die Kita-Teams:

  • Die Vorgabe einer zeitweise geltenden strikt getrennten Betreuung in den jeweiligen Kita-Gruppen setzt der Personaldisposition durch die Kita-Leitungen enge Grenzen und führt zur höheren Belastung der einzelnen Kita-Mitarbeiter.
  • Durchgehend bleiben deutlich erhöhte Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen umzusetzen.
  • Kita-Teams müssen auf jene Kolleginnen und Kollegen verzichten, die wegen ihres Alters oder aufgrund von Vorerkrankungen als besonders infektionsgefährdet gelten.

Diese Auswirkungen treffen auf Kita-Mitarbeiter:innen, die in ihrer Mehrheit entweder erst gar nicht organisiert sind oder mithilfe ihrer Mitgliedschaft in der Gewerkschaft das Interesse an einer höheren Vergütung geltend machen. Erst in jüngster Zeit gründen sich Verbände von Kita-Fachkräften, die stärker die Vertretung fachlich orientierter Interessen in den Mittelpunkt stellen (vgl. https://www.kitafachkraefteverband-nrw.de/).

Bis heute stehen die Kita-Teams unter einem außergewöhnlichen Aufgaben- und Arbeitsdruck, der in über zwei Jahren Pandemie zu einer Art kollektiver Erschöpfung und im Einzelfall zum Burn-Out geführt hat: Das ist vergleichbar mit der Situation der Teams in der Pflege.

Erst spät im Verlauf der Pandemie und erst im Sommer 2021 startete das zuständige Familienministerium ein sog. Alltagshelfer:innen-Programm, das zur Entlastung der Kita-Teams dienen sollte. In dem „Zukunftsvertrag“ der neuen regierungsbildenden Koalition von CDU und Grünen in Nordrhein-Westfalen wird die Fortsetzung dieses Programms angekündigt.

 

Kita-Leitungen

Obwohl der nordrhein-westfälische Familienminister Dr. Stamp mehrfach vor der Landespressekonferenz erklärte, dass er sich persönlich mit Kita-Leitungen getroffen habe, ist festzuhalten, dass in dem Pandemie-Management der Landesregierung sowie der Landesjugendämter die Erfahrungen und die Expertise von Kita-Leitungen für Entscheidungen während des Pandemie-Management keine Rolle spielten und ihre Sichtweisen regelhaft und institutionell nicht gefragt waren.

Wie Kita-Leitungen eigene Erfahrungen und die Situation der Kitas während der Pandemie bewerten, wurde trotz ausbleibender Beteiligung im Krisenmanagement dennoch bekannt – durch eine externe Umfrage, die im Umfeld des „Deutschen Kitaleitungskongresses“ in Auftrag gegeben wurde (Deutscher Kitaleitungskongress, 2022). Von den befragten Leitungskräften werden klare Vorgaben durch das Land (83,1 %), zusätzliches Personal (56,5 %) und die Verbesserung der digitalen Ausstattung von Kitas (41,5 %) als wichtigste Maßnahmen gesehen, die zu einer Verbesserung der Gesamtsituation in Zeiten der Corona-Pandemie beitragen.

 

Bis hierher: Ein Fazit

Das Narrativ der Pandemie als Infektionsereignis, das unerwartet und plötzlich über die NRW-Kitas gekommen ist, bleibt auch bei den dort verantwortlichen Akteuren wesentliche Legitimation für ihr Handeln gegenüber der Öffentlichkeit und den Kita-Anspruchsgruppen. Mit diesem Narrativ ist verbunden, dass sich niemand auf eine solche Situation hätte vorbereiten können und dass kein anderes Handeln in der Pandemie möglich gewesen sei. Was die Bewältigung der SARS-CoV-2-Pandemie durch die Verantwortlichen im Land, bei den Landesjugendämtern und in den Kommunen angeht, so bleiben Zweifel an diesem Narrativ angebracht. Allein schon, dass rechtlich eine ganze Reihe von Kitas vom Betreuungsverbot ausgenommen waren und trotz Pandemie ihren Betrieb, die Betreuung von Kindern von Eltern mit systemrelevanten Aufgaben, weitergeführt haben, widerlegt beispielsweise das Narrativ der Alternativlosigkeit der verhängten Maßnahmen.

Auch wenn für diesen Teil der sozialen Infrastruktur das Wissen zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Pandemie begrenzt war: Spätestens heute liegen nach vielen Monaten der Pandemie viele Informationen, Studien und zunehmend Erfahrungsberichte vor. Lernen aus dem Vor-Beben heißt dann: Informationen und Krisenerfahrungen systematisch und mit wissenschaftlicher Unterstützung sowie den beteiligten Akteuren und Anspruchsgruppen in einem größeren Rahmen auszuwerten und zu diskutieren. Damit dies gemeinwohlorientiert erfolgen kann und bezogen auf eine Vorbereitung der Beteiligten auf größere Beben erfolgt, wäre die Organisation einer solchen Krisenauswertung Aufgabe des neuen Landtags Nordrhein-Westfalen: Allerdings kommt in dem Zukunftsvertrag von CDU und Grünen eine solche Aufarbeitung erst gar nicht vor.

 

Auf veränderte Risiken vorbereiten

Das Management der SARS-CoV-2-Pandemie als Krisenmanagement öffentlicher Infrastruktur war auch im Kita-Bereich für alle beteiligten Akteure eine gänzlich neue Erfahrung und weist damit schon auf jene Situationen, die Magnason anspricht, wenn er darauf hinweist, dass Veränderungen bevorstehen, die „komplexer (sein werden) als die meisten Dinge, mit denen wir uns normalerweise beschäftigten. Sie übersteigen all unsere bisherigen Erfahrungen, sie übersteigen die Sprache und Metaphern, die wir benutzen, um unsere Realität zu verstehen“ (Magnason, 2020, S. 11).

Das rückt dann für die in der Kita-Versorgung verantwortlichen öffentlichen Akteure wie das Land, die Landschaftsverbände, Kommunen und Jugendämter mögliche und veränderte Risiken und Herausforderungen durch Natur- und Klimaveränderungen auf die Agenda – eine Entwicklung, die durch die Flutkatastrophe in der Eifel und die Zerstörung und Beschädigung von rd. 150 Kitas verstärkt wird.

Lernen aus dem Vor-Beben könnte da heißen: Die Akteure müssen sich auf der Grundlage verfügbarer Informationen und Erfahrungen im Vorhinein mit möglichen besonderen Risiken und Herausforderungen beschäftigen und sich insbesondere auf damit verbundene komplexe Entscheidungssituationen vorbereiten. Dabei lässt sich auch aus internationalen Diskussionen lernen und von Ländern, die bereits intensiver mit Umweltkrisen- und Naturkatastrophen konfrontiert waren – zum Beispiel Australien: Engagiert ziehen dort Akteure in Behörden und den zuständigen Institutionen aus ihren Erfahrungen Schlussfolgerungen für künftiges Handeln (vgl. exemplarisch den Knowledge-Hub des „Australian Institute for Desaster Resilience“ – https://knowledge.aidr.org.au/). Dagegen haben Szenarien möglicher Gefährdungen für soziale Infrastruktur-Einrichtungen durch Krisen-Ereignisse in Deutschland bislang noch Seltenheitswert.

 

Gewohnte Organisationsspiele verändern

In Nordrhein-Westfalen reagierten die verantwortlichen Akteure in der Kita-Versorgung mit ihrem gewohnten korporatistischen Entscheidungsspiel auf die SARS-CoV-2-Pandemie:

  • statt gründlicher Information Intransparenz,
  • statt Austausch der Sichtweisen closed shop,
  • statt Beteiligung meist am Wochenende erscheinende Kommuniqués des Familienministeriums,
  • statt Aktivierung von Anspruchsgruppen ihr mangelnder Einfluss auf das Geschehen in der Kita-Versorgung.

In der Pandemie bestimmen vor allem Bestandsinteressen der Shareholder das Handeln – vor allem die erkennbare Sorge, dass Erwartungen der Anspruchsgruppen das in Nordrhein-Westfalen das personell unterausgestattete Versorgungssystem Kita endgültig überfordern könnten. Vermutlich war es vor allem diese Sorge, die mögliche andere kreative Wege des Pandemie-Managements verhinderte, so zum Beispiel, wie Beteiligte aus den Anspruchsgruppen ihre Handlungsmöglichkeiten einsetzen können, um die Kita-Versorgung als System in der Welt der Menschen stark und gesund zu machen.

Lernen aus dem Vor-Beben könnte da stattdessen heißen: Um die Widerstandsfähigkeit betroffener Familien und Lebensgemeinschaften zu unterstützen, gilt es, die von einem solchen Ereignis betroffenen Menschen mitzunehmen, sie gründlich zu informieren, ihre Sichtweisen wahrzunehmen, ihre Fähigkeiten und Kräfte als Energie zur Bewältigung des Ereignisses anzuerkennen und zu aktivieren.

 

Möglichkeiten der Vielfalt nutzen

Dagegen stellen faktisch geschlossene Kita-Türen und die Einstellung ihres Betriebs gerade in Krisen-Zeiten eine Aufkündigung der Aufgabenteilung zwischen öffentlich verantworteter sozialer Infrastruktur und der privaten Sphäre von Familien und privaten Lebensgemeinschaften durch die verantwortlichen Akteure und Institutionen dar – bleibt es allein auf eine solche Maßnahme beschränkt.

In krisenhaft verlaufenden Natur- und Klimaveränderungen sind aber ein solcher „Rückzug“ des heutigen Sozialstaats und die Re-Privatisierung von Lebenssorge in die häusliche Sphäre kontraproduktiv. Um den Sozialstaat als System in der Welt der Menschen stark und gesund zu machen, sind vor allem verlässliche Systeme persönlicher sozialer Dienstleistungen notwendig und eine funktionierende soziale Infrastruktur.

Von außen betrachtet, schienen unter den verantwortlichen Akteuren auf der Seite von Kosten-Trägern und traditionellen Kita-Trägern die Interessen der „großen Tanker“ und jener Kita-Träger zu dominieren, die eine größere Anzahl von Kita-Plätzen vertreten. Deren Einfluss und insbesondere die schwierige Personal-Situation in dieser Kita-Trägergruppe sorgte dafür, dass alle Kitas in Nordrhein-Westfalen in einer Art „Geleitzug“-Management länger in einer Phase des eingeschränkten Regelbetriebs verblieben. Das „Geleitzug“-Management ist dem korporatistischen Setting geschuldet, in dem solche Entscheidungen getroffen werden: Um Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit solcher Settings zu demonstrieren, müssen alle Beteiligten jenen Träger-Gruppen folgen, die die größten personellen und organisatorischen Probleme mit einer Wieder-Öffnung der Einrichtungen hatten – unabhängig von jeweils eigenen Möglichkeiten, räumlich, personell oder organisatorisch Kinder und Mitarbeiter:innen gegen eine Infektion zu schützen.

Das flächendeckende Handeln der Landesregierung im Kita-Bereich band sich an jene Kitas, die räumlich, personell oder organisatorisch nicht so ohne Weiteres in der Lage waren, aus einem eingeschränkten Betrieb herauszutreten2.

Immerhin geschah dies im Verlauf der Pandemie gegen den zunehmenden Widerstand des verantwortlichen Familienministers, der sich den lauter werdenden Protesten von Eltern stellen musste und zugleich eingebunden war in die Beratungen der Bund-Länder-Konferenz der Familienministerien, die sich intensiver mit möglichen Folgen von Kita-Schließungen oder eines nur eingeschränkten Kita-Betriebs beschäftigte.

Lernen aus dem Vor-Beben muss heißen: Für Zeiten der Klima- und Naturveränderungen Aktivitäten und Planungen vorzubereiten, die geeignet sind, zu verhindern, dass der Kita-Betrieb ersatzlos eingestellt wird. Die Möglichkeiten der Vielfalt zu nutzen, schließt ein:

  • die Abkehr vom Prinzip des flächendeckenden Handelns,
  • höhere Entscheidungs- und Gestaltungskompetenzen der Kitas vor Ort,
  • aussagefähige Kriterien und eine eigene Personalausstattung, mit denen die zuständigen Behörden vor Ort die Hygiene- und Infektionssituation in den Kitas beurteilen können,
  • Unterstützung für das Handeln der Anspruchsgruppen durch Informationen und ein laufendes Monitoring.

 

Am eigenen Schopf aus der Krise?

Die Möglichkeiten der Vielfalt zu nutzen kann auch für Kitas bedeuten, in Krisen auf digitale Medien zurückzugreifen. So gelang es Kitas während der Pandemie, virtuell und über das Internet mithilfe von Video-Conferencing, You-Tube-Videos oder Mails den Kontakt zu Kindern und ihren Familien und privaten Lebensgemeinschaften zu halten. Allerdings sollten virtuelle Medien auch in Krisen-Ereignissen in der Kita-Arbeit behutsam und anhand fachlicher Kriterien eingesetzt werden – zum Beispiel, wenn sie dazu beitragen können, Familien und private Lebensgemeinschaften, Freunde oder Nachbarn zu unterstützen, die zeitweise in der privaten Sphäre Aufgaben der Betreuung und Förderung der Kinder übernehmen. Oder wenn sie helfen, reale Face-to-Face-Begegnungen vorzubereiten bzw. zu ermöglichen. Solche Handlungsmöglichkeiten müssten fachlich gut vorbereitet und weiter ausgearbeitet werden: Sie bedürfen zum Beispiel der umfassenden Vorbereitung und Beteiligung der Eltern, um sie zum Beispiel für Selbsthilfe- und Selbstorganisationsaktivitäten von Familien und privaten Lebensgemeinschaften nutzen zu können. Zudem müssen auch Kitas technisch ausreichend ausgestattet und die Kita-Teams entsprechend qualifiziert werden.

 

Widerstandsfähige Kitas brauchen widerstandsfähige Kita-Teams

Ein wesentlicher Resilienz-Faktor von Kitas als Einrichtungen persönlicher sozialer Dienstleistungen und aller Einrichtungen von professionellen Lebenssorge-Tätigkeiten bleibt die personelle Besetzung in ihren Teams.

Damit stellt die von der Bertelsmann Stiftung für Nordrhein-Westfalen festgestellte unzureichende Personalausstattung der Kitas nicht nur einen Qualitätsmangel dar: Sie ist im Hinblick auf künftige Beben und Krisen-Ereignisse eine Schwächung ihrer institutionellen Widerstandsfähigkeit. Um diese Widerstandsfähigkeit zu stärken, spielen für die personelle Ausstattung von Kita-Teams die politisch-parlamentarische Beschlussfassung und die von Kommunen und Land im Rahmen des Kinderbildungsgesetzes zur Verfügung gestellten Finanzmittel für die Kitas eine bedeutsame Rolle. Aber mindestens ebenso bedeutsam ist die Qualität des Verwaltungshandelns, die Qualität des öffentlich verantworteten Personalmanagements und zum Beispiel die Ausgestaltung der Infrastruktur für die Ausbildung, die Anzahl bereitgestellter Ausbildungsplätze oder Aktivitäten zur Steigerung der Attraktivität der Kita-Berufe.

Insbesondere in diesem Punkt sind in Nordrhein-Westfalen deutliche Handlungsmängel erkennbar: Mit dem Verlauf der Pandemie wird die Lage auf dem NRW-Arbeitsmarkt in Bezug auf Beschäftigte im Kita-Bereich immer angespannter. Im Jahr 2022 erklärten zum Beispiel 84 Prozent von befragten Kitaleitungen, dass sich der Personalmangel seit 2021 weiter verschärft habe (Deutscher Kitaleitungskongress, 2022, S. 6). Schon vor dem Pandemie-Geschehen wurde im Familienministerium ein intern erstelltes und umfassendes Konzept zur Verbesserung der Kita-Personalsituation verworfen3.

Aus Gesprächen im August 2021 mit hochrangigen Mitarbeiter:innen des Familienministeriums wurde deutlich, dass das Ministerium eigenen Planungen keine belastbaren Personalbedarfszahlen zugrunde legt und Kommunen und Land keine auf Daten gestützte Vorsorge für ausreichende Personalausstattung der Kitas getroffen hatten. An die Stelle eines umfassenden Konzepts für die Ausbildung einer ausreichenden Anzahl von Fach- und Ergänzungskräften für die Kita-Teams treten stattdessen Einzelmaßnahmen wie eine finanzielle Förderung praxisintegrierter Ausbildung oder ein Alltags-Helfer:innen-Programm.

Ähnlich wie in anderen Bereichen, zum Beispiel der Pflege, bleibt auch im Kita-Bereich die Personal-Ausstattung hinter dem zurück, was von der Fachwelt für erforderlich angesehen wird – eine „System-Grenze“ des traditionellen Sozialstaats, der auf (individuelle) Geldleistungen fokussiert bleibt.

Lernen aus dem Vor-Beben heißt da: Der lange Lauf durch Klima- und Naturveränderungen braucht widerstandsfähigere – und damit: verlässliche – Systeme professionell erbrachter Lebenssorge-Tätigkeiten und persönlicher sozialer Dienstleistungen und ein öffentliches Dienstleistungs-Management durch einen künftigen sozialen Staat, der der Qualität öffentlichen Personalmanagements einen deutlich gewichtigeren – und: sozialstaatlichen – Stellenwert einräumt.

 

Vor den Beben

Die Erfahrungen im Bundesland Nordrhein-Westfalen und aus dem öffentlichen Krisen-Management der SARS-CoV-2-Pandemie im Bereich Kitas zeigen exemplarisch: Insbesondere wenn es um professionell erbrachte Lebenssorgetätigkeiten (care) und persönliche soziale Dienstleistungen geht, ist die soziale Infrastruktur des traditionellen Sozialstaats nicht ausreichend auf Krisensituationen vorbereitet, die verstärkt mit Natur- und Klimaveränderungen verbunden sein werden. Als Erinnerung: Es ist jener Teil sozialer Infrastruktur, der in der Alltagsbewältigung insbesondere der Anspruchsgruppen von Eltern und Familien eine besondere Bedeutung hat – siehe oben! Wenn es also darum geht, die Kita-Versorgung als System in der Welt der Menschen so stark und gesund zu machen, wie wir es irgendwie können (Franzen), dann bedarf es in Nordrhein-Westfalen der Weiterentwicklungen der für diese Versorgung verantwortlichen Institutionen und ihrer Zusammenarbeit, es bedarf neuer Beteiligungsmöglichkeiten und zugleich veränderter Haltungen der Akteure.

In der Gesetzgebung und als bundesrechtliche Grundlage bietet das SGB VIII mit der dort vorgesehenen Zusammenarbeit von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Kita-Trägern und -Shareholdern eine im Prinzip höchst aktuelle Grundlage: Es gilt, diese Grundlage zu nutzen und den Kitas als Zukunftseinrichtungen mit einem veränderten NRW-Landeskitagesetz die institutionelle Grundlage zur Bewältigung möglicher kommender Beben zu geben.

Das umfasst,

  • das in NRW herrschende Verständnis von Zivilgesellschaft, die in der Jugendhilfe durch die Kirchen, Religionsgemeinschaften und die Freie Wohlfahrtspflege repräsentiert wird, für Zeiten von Natur- und Klimaveränderungen zu aktualisieren und neue Kita-Träger mit einzubeziehen,
  • korporatistisch orientierte Formen von Beratung und Entscheidungsfindung und Bestandswahrung durch ein informiertes, szenariengestütztes und auf Beteiligung ausgelegtes Entscheidungsmanagement zu überwinden und
  • rasch wirkende Verfahren zur Beteiligung von Anspruchsgruppen vorzusehen.

Ebenso wichtig wie die Veränderung des NRW-Landeskitagesetzes sind Veränderungen in den staatlichen und institutionellen Rahmenbedingungen der Kita-Versorgung und die deutlich verstärkte Werbung und Ausbildung von Fachpersonal und eine für die Auszubildenden kostenfreie Ausbildung. Attraktive Arbeitsorte werden die Kitas vor allem auch dann, wenn sie sich in ihrer fachlichen Qualität weiter entwickeln können. Das „Lernen für Zeiten im Beben“ sollte ab sofort Bestandteil dieser Qualitätsentwicklung werden.

 

Endnoten

  1. Die Informationen, Einschätzungen und Schlussfolgerungen zum Krisenmanagement der damaligen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen beruhen auf der Beteiligung des Verfassers an Prozessen des Krisenmanagements in seiner Funktion als Vorsitzender des Deutschen Kitaverbandes, Landesverband Nordrhein-Westfalen, und zugleich auf bislang nicht dokumentierten Informationen und Auskünften anderer Krisen-Beteiligter.
  2. Mündliche Information durch Mitglieder des Gremiums.
  3. Mündliche Information durch Beteiligte.

 

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Autor

Klaus Bremen

neu.kuemmern@bitte-keinen-spam-klaus-bremen.de

Klaus Bremen M.A. ist verfügt über langjährige Berufserfahrung im sozialen Bereich: Derzeit ist er Geschäftsführer der „Kinderhut Projektgesellschaft“ und zugleich ehrenamtlich engagiert als Vorsitzender des Deutschen Kitaverbands, Landesverband Nordrhein-Westfalen. Er arbeitet aktuell an einer Publikation, die sich mit den Anforderungen an einen künftigen sozialen Staat in Zeiten des Klimawandels beschäftigt (www.klaus-bremen.de).

 

 



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