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„Es ist normal, verschieden zu sein“ – Ein Bericht über ein Schulpräventions-Projekt an Erfurter Schulen

Eckhard Giese, Anke Brückner, Daniel Güther, Ulrike Holzschuh, Christina Otto & Christiane Schreiber
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 12 (2007), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Psychisch Kranke und ihre Angehörigen leiden unter einer starken gesellschaftlichen Abwertung. Anti-Stigma-Kampagnen bieten die Möglichkeit zu einem adäquateren Umgang mit psychischer Erkrankung. Es werden die positiven Erfahrungen eines speziell für Jugendliche konzipierten Präventionsprogramms berichtet und mögliche Weiterentwicklungen vorgeschlagen.

Schlüsselwörter

Stigmatisierung, Psychiatrie-Erfahrene, Präventionsprogramm, Schule

Summary

People with mental illness and their relatives suffer discrimination. Anti-Stigma-Campaigns may offer possibilities to stop discrimination towards mentally disturbed persons. Good experiences with a new prevention programme for students and some ideas to improve this programme will be reported in this article.

Key words

Stigmatisation, mental illness, prevention programme, school

1. Einleitung

1.1. Psychiatrie und Stigma

„Psychiatrie“ ist ein Thema, das in der breiten Öffentlichkeit auf wenig Interesse stößt, da die meisten Bundesbürger persönlich keine Verbindung dazu aufbauen, sich nicht damit auseinandersetzen und somit das Thema der psychischen Störungen möglichst ignorieren.

Andererseits suchen rund eine Million Bundesbürger jährlich einen Psychiater oder Psychotherapeuten auf und jeder 3. Bundesbürger geht ein- oder mehrmals in seinem Leben aufgrund seelischer Störungen zum Arzt.1  Psychische Störungen stellen mittlerweile die häufigste Ursache für Frühberentungen dar (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde 2004). Sollte es sein, dass seelische Störungen deutlich verbreiteter sind, als wir auf den ersten Blick zu erkennen vermögen? Scheuen psychisch erkrankte Menschen die Öffentlichkeit, da sie vor den Folgen der Unwissenheit ihrer Umgebung Angst haben? Fürchten sie zu Recht auf Ablehnung zu stoßen?
Tatsache ist, dass z. B. die Schizophrenie mit 1 % Lebenszeitprävalenz ähnlich stark in der Bevölkerung verbreitet ist wie die körperliche Erkrankung Diabetes, die ohne Probleme im Alltag wie in den Medien erörtert wird. Die Medienberichterstattung zu psychischen Störungen ist auffallend oft metaphorisch („Die Wirtschaftspolitik der Regierung ist schizophren“) und eher selten wissenschaftlich fundiert oder informativ (Hoffmann-Richter 2002).2 Da bspw. eine potentielle BILD-Geschichte entweder von „Wunder“, „Sieg/Niederlage“ oder „Verbrechen“ erzählen soll,3 kann man leicht ahnen, unter welcher Rubrik sich die meisten einschlägigen BILD-Berichte zum Thema Psychiatrie einordnen lassen. In Medienberichten werden Geschichten erzählt, die fast ausschließlich negativ gefärbt sind, z. B. wird über Attentate berichtet, die von psychisch Kranken begangen wurden, oder die Ausbrüche aus der Forensik werden medial ausgeschlachtet. Es entsteht bei den MediennutzerInnen die schwer aufzulösende Assoziation ´psychisch krank = gemeingefährlich´, die durch die Kriminalstatistik widerlegt werden kann.
Diskriminierung und Abwehr gegenüber psychisch Kranken haben häufig massive Folgen für die Betroffenen, die so gravierend sein können, dass das Stigma als „zweite Krankheit“ (so der Baseler Sozialpsychiater Asmus Finzen) gesehen wird: der Stress, der aufgrund der Bemühungen, die psychische Erkrankung zu verheimlichen und aufgrund der wirklich erlebten oder auch befürchteten Ablehnung durch das soziale Umfeld entsteht, erschwert die Gesundung und ist für einen auch gesundheitspolitisch/ volkswirtschaftlich relevanten Anteil von Rückfällen ursächlich.4 Auch die Angehörigen von psychisch Kranken und die Professionellen in psychiatrischen Institutionen sind dem Stigma ausgesetzt. Erstere müssen gegen fast zwangsläufige Schuldzuweisungen kämpfen. Selbsthilfegruppen erweisen sich als der am meisten erfolgversprechende Weg, nicht nur den schwierigen Alltag mit einem psychisch kranken Familienmitglied zu meistern, sondern auch der sozialen Isolation zu entgehen.
Das eher geringe Ansehen der Psychiatrie, das auch Ausdruck traumatisierender Erfahrungen der Bevölkerung mit dieser ist, sowie die Furcht, die schon allein der Gedanke an die Psychiatrie bei vielen auslöst, zwingen alle psychiatrisch Tätigen, die dem Paradigma einer alltagsnahen integrativen Sozialpsychiatrie verpflichtet sind, die Auseinandersetzung mit dem Stigma ´Psychisch krank´ auf die Tagesordnung zu setzen. Anti-Stigma-Kompetenz ist daher Bestandteil einer zeitgemäßen Behandlungsstrategie. Das Bemühen um einen Imagewandel, der freilich von tatsächlichen Verbesserungen der psychiatrischen Versorgung, von der Respektierung der Menschenwürde und einer praktisch erfahrbaren Nutzerorientierung getragen sein muss, kommt auch den psychiatrisch Tätigen selbst zugute.

1.2. Anti-Stigma-Kampagnen

Es gibt weltweit Anti-Stigma-Programme mit einer Vielzahl lokaler Initiativen und Herangehensweisen.5 Durch den Weltverband für Psychiatrie (WPA) wurde in Deutschland der Verein „Open the doors“ gegründet, der durch lokale Aktivitäten die Bevölkerung hinsichtlich dieses Themas aufklärt. Ein von der Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (dgsp)vertretener Ansatz einer Anti-Stigma-Kampagne „von unten“ betont das Alltagsengagement in der psychiatrischen Arbeit, den trialogischen Austausch unter den beteiligten Gruppen und in diesem Zusammenhang lokale Gesprächsforen wie die Psychoseseminare.

Wichtiger Teil der Anti-Stigma-Programme ist die Präventionsarbeit. Hierunter lassen sich viele Projekte zusammenfassen, die deutschlandweit durchgeführt werden. Besonders erwähnenswert ist die auffallend professionelle Öffentlichkeitsarbeit des Leipziger Vereins „Irrsinnig menschlich“. Im Rahmen unseres Projektes fand ihr Film „Ich bin schizophren, aber nicht verrückt“ publikumswirksame Verwendung.

Präventionsarbeit hat beispielsweise die adressatenspezifische Aufklärung Jugendlicher zum Inhalt. In Erfurt sind weite Teile der Öffentlichkeit nach dem Schulmassaker am dortigen Gutenberg-Gymnasium für Ausgrenzung, Isolation und Überforderung von Jugendlichen durch die Schulen sensibilisiert. Unter Beteiligung der Öffentlichkeit wurden zwei wissenschaftliche Tagungen unter den Titeln „Stadt unter Schock“ sowie „Schule – Ort zum Leben?“ veranstaltet (Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.stadt-unter-schock.de), während die fachwissenschaftliche Analyse der psychotraumatologischen Versorgung der Opfer noch aussteht.
Aufklärung in der Schule stellt eine gute Möglichkeit dar, Unwissenheit durch Wissen zu ersetzen und Vorurteile abzubauen. Jugendliche bekamen durch unser Projekt die Möglichkeit, über seelische Störungen ihrer Altersgruppe mehr zu erfahren. Hierzu zählen beispielsweise die Essstörungen, Depressionen, Sucht, ADS, HKS, Angststörungen, autoaggressives sowie selbst verletzendes Verhalten. Aus den Gesprächen mit den Jugendlichen haben wir erfahren, dass einige selbst oder Angehörige von diesen Problematiken betroffen sind.

1.3. Trialogische Psychiatrie

Der Begriff Trialogische Psychiatrie bezeichnet den Austausch zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, den Angehörigen psychisch Kranker sowie den in der Psychiatrie Tätigen. Das Erfahrungswissen insbesondere der beiden erstgenannten Gruppen wird im Idealfall integrativer Bestandteil der Behandlung; ihre Beteiligung an wichtigen Aushandlungsprozessen bis hin zur Landespsychiatrieplanung soll die Entwicklung einer subjektorientierten nutzerbasierten Hilfegestaltung fördern. Die hierin angedeutete Abkehr von Expertenmacht und Entmündigung stellt einen echten Paradigmawechsel gegenüber einer traditionellen Behandlungspraxis dar, deren Umsetzung nur schrittweise erfolgen kann (Bombosch; Hansen; Blume 2004). Die Mitwirkung einer Reihe von Fachleuten aus der Erfurter ambulanten wie stationären psychiatrischen Versorgung an unserem Projekt stellt sich in den Dienst einer solchen nutzerorientierten Öffentlichkeitsarbeit – den Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt!

Die trialogische Beziehung basiert auf dem Interesse an einer Weiterentwicklung der psychiatrischen Arbeit sowie einem gleichberechtigten Austausch aller am Prozess Beteiligten. Angestrebt wird ein selbst bestimmtes Leben mit dem Ziel, „die Fähigkeit der Psychiatrie-Erfahrenen und der Angehörigen zur Selbsthilfe und Selbstverantwortung anzuerkennen“ (Storck 2004).

1.4. Seelische Probleme im Jugendalter

Aktuelle Studien (Vgl. z.B. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002: 219) legen nahe, dass sich der Gesundheits- und Krankheitsstatus von Jugendlichen in Deutschland verschlechtert hat. Neben den chronischen körperlichen Erkrankungen wie beispielsweise Asthma, Epilepsie, Neurodermitis, Herzfehler, Drüsenerkrankungen und Diabetes mellitus stiegen in den letzten Jahren auch Symptome seelischer und psychosomatischer Störungen an. Durchschnittlich leiden etwa 10 bis 12 % der Kinder im Grundschulalter und cirka 15 bis 20 % der Jugendlichen an psychischen Erkrankungen in Leistungs-, Wahrnehmungs-, Gefühls-, Kontakt- und andere Entwicklungsbereichen. Sie beeinflussen folglich die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und schränken zugleich das psychische, physische und soziale Wohlbefinden des Einzelnen ein. Ursachen für die erhöhten psychischen Anfälligkeiten werden in der individuellen gesundheitlichen Disposition aber auch in der gesellschaftlichen Situation gesehen (Merkens, Zinnecker 2003, S. 383). Berufliche Zukunftsängste, Schwierigkeiten im Elternhaus oder im schulischen Bereich können demzufolge Auslöser für seelische Nöte und Krisen sein, mit denen sich Jugendliche auseinandersetzen müssen. Ob die Bewältigung der Belastungen eigenständig oder mittels Unterstützung erfolgt, ist vom individuellen Umfeld der Jugendlichen abhängig.
Insgesamt legen diese Daten nahe, dass die Beschäftigung mit dieser Thematik auch in den Schulen dringend geboten ist; die an unserem Projekt beteiligten LehrerInnen haben in vielfacher Hinsicht die Befunde bestätigt.

2. Konzeption des Projektes

Das Projekt wurde erstmals wurde im Sommersemester 2001 an der Fachhochschule Erfurt, Fachbereich Sozialwesen ins Leben gerufen. Vorab wurden die Grundlagen durch Erhebungen in der Erfurter Bevölkerung und durch Öffentlichkeitsarbeit in Fachgremien der Psychiatrie und der Stadt gelegt. Auf einer Konferenz wurden die Ergebnisse der damaligen Projektarbeit vorgestellt und mit den relevanten Gruppen in einem Round-Table-Gespräch diskutiert.6 Die diesen Bericht vorlegende Projektgruppe, die weitere sieben Mitglieder umfasste, konstituierte sich im März 2003, um unter dem Motto „Es ist normal, verschieden zu sein“, ein Schulpräventionsprojekt zu konzipieren. Angeregt durch den Projekterfolg wurde in Kooperation mit dem Landesfilmdienst Thüringen e.V. eine weitere Filmwoche im Wintersemester 2003/2004 durchgeführt.

Grundlegende Einstellungen und Meinungen formieren und manifestieren sich im Jugendalter. Jugendliche sind in der Lage, ihre eigenen Denk- und Handlungsmuster zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Andererseits können bestehende Wissenslücken in dieser Lebensspanne leicht durch gesellschaftliche Vorurteile gefüllt werden und sich in stigmatisierenden Einstellungen widerspiegeln.
Vor diesem Hintergrund beinhaltet der Grundgedanke unseres Konzeptes eine intensive altersgemäße Aufklärung von 14- bis –18-jährigen Jugendlichen sowie im Besonderen die Auseinandersetzung mit der Stigmatisierung und Ausgrenzung von psychisch erkrankten Menschen. In diesem Rahmen sollen Jugendliche zuallererst angeregt werden, sich mit sich und ihren Klassenkameraden auseinanderzusetzen. Wir beabsichtigen mit unserem Projekt, Wissen über psychische Störungen zu erweitern und bestehende Fragen durch Psychiatrie-Erfahrene selbst, deren Angehörigen sowie Professionellen beantworten zu lassen. Neben der Vermittlung von Informationen über Beratungs- und Anlaufstellen, die in Krisenzeiten Hilfe anbieten können, steht das Gespräch über seelische Probleme und Konflikte in der Lebenswelt der Jugendlichen im Mittelpunkt. Statt mit Appellen für einen humanen Umgang mit „den psychisch Kranken“ zu werben, erscheint es uns im Rahmen des Projektes wichtig, an den persönlichen Neigungen und Erfahrungen der Jugendlichen anzusetzen und so Abwehr vor dem Unbekannten in Neugier und Interesse umzuwandeln.

Als Kooperationspartner konnte der Landesfilmdienst Thüringen e.V., unter der Leitung von Frank Röhrer gewonnen werden. Dies verschaffte uns außerhalb von Schule und Hochschule die Möglichkeit, unter etwas persönlicheren räumlichen Bedingungen an einem „dritten Ort“ eine medienpädagogische Einbettung zu erreichen und die guten Verbindungen des Landesfilmdienstes mit dem Erfurter Schulamt und zur Lehrerschaft zu nutzen.

Das oben beschrieben trialogische Handeln spiegelt sich auch in unserem Projekt wider. Für die ProjektteilnehmerInnen soll diese Art des Zusammentreffens nicht nur eine bloße Wissensvermittlung darstellen, sondern auch einen gemeinsamen Austausch über persönliche Erfahrungen, Einstellungen und bestehenden Kenntnissen in diesem Themenbereich ermöglichen. Die SchülerInnen treten in diesem Rahmen selbst aktiv in den Mittelpunkt und werden zu ExpertInnen. In dieser Situation empfinden die Studierende die professionelle Unterstützung durch MitarbeiterInnen aus dem Bereich Psychiatrie und seitens der Psychiatrie-Erfahrenen und teilweise der Angehörigenvertreter als eine große Bereicherung und Unterstützung.

3. Durchführung der Projekttage

Die Realisierung des Projektes steht für uns im Zeichen der Offenheit gegenüber den Fragen, Gedanken und Meinungen der Jugendlichen. Um diese zum Ausgangspunkt zu machen, erarbeiteten wir im Vorfeld Fragebögen, um unter den SchülerInnen persönliche Einstellungen, Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf die Thematik „Psychiatrie und Öffentlichkeit“ zu erheben. Diese Fragebögen werden in den einzelnen Schulklassen verteilt und von den SchülerInnen ausgefüllt. Sie ermöglichen uns einen ersten Überblick und zugleich eine spezifische Vorbereitung auf die entsprechenden Schulklassen. Die Ergebnisse werden in die gemeinsamen Diskussionen mit den SchülerInnen einbezogen und stellen dementsprechend einen weiteren wesentlichen Bestandteil in der Realisierung des Projektes dar.

Die Durchführung der einzelnen Projekttage erfolgte in den Räumen des Landesfilmdienst Thüringen e.V.
Zu Beginn der einzelnen Projekttage werden die TeilnehmerInnen von den Verantwortlichen begrüßt, der Programmablauf wird erklärt und es findet eine kurze Einstimmung auf die Thematik statt. Im Anschluss sehen die Jugendlichen einen Zusammenschnitt aus dem Film „Ich bin schizophren, nicht verrückt!“, der das Lebensschicksal schizophren erkrankter Menschen und deren Alltagsbewältigung näher beschreibt. Der als zweites gezeigte Film „Jugendliche in der Psychiatrie“, gibt Einblick in eine stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamburg und ermöglicht damit eine Begegnung mit alterstypischen Störungen.
In Kleingruppenarbeit werden Eindrücke, Gefühle und Gedanken zu den Filmen diskutiert. Die Kleingruppenarbeit stellt in unserem Konzept einen wesentlichen Bestandteil dar. Mit diesem Ansatz besteht die Möglichkeit, Jugendliche intensiver in die Thematik „Psychiatrie und Öffentlichkeit“ einzubeziehen. Sie können in den Kleingruppen Meinungen und Fragen, aber auch eventuell bestehende Vorurteile äußern. Die Jugendlichen werden durch Gesprächsbeiträge von Klassenkameraden, sowie den anwesenden „Profis“ zum Nachdenken und zur Reflexion eigener Denkmuster angeregt, über Ängste hinsichtlich psychischer Erkrankungen und über Identifikationsmöglichkeiten mit den Jugendlichen in den gezeigten Filmen zu sprechen. In den gemeinsamen Gesprächen tauschen sich die Beteiligten intensiv über individuelle Erfahrungen mit seelischen Konflikten oder Krisen aus und sammeln Ideen, wie sie sich mit den daraus folgenden Belastungen auseinandersetzen können.

Nach dieser Kleingruppenarbeit versammeln sich alle ProjektteilnehmerInnen im Plenum. Um den SchülerInnen ein Gefühl zu vermitteln, welche psychischen Belastungen ein Mensch mit einer schizophrenen Erkrankung im alltäglichen Umgang erlebt, führen wir mit ihnen die Wahrnehmungsübung „Stimmen hören“ durch.

Immer drei Jugendliche setzen sich so zusammen, dass eine Person in der Mitte sitzt und die beiden anderen jeweils an der rechten und linken Seite, wobei sie mit dem Blick zu der Person in der Mitte schauen. Die Person auf der rechten Seite zählt von 100 in Zweierschritten abwärts, die Person auf der linken Seite zählt von 0 in Einerschritten aufwärts. Dabei bauen die beiden Personen in unregelmäßigen Abständen bewusst Fehler beim Zählen ein (z.B. 100…98…80… 96… bzw. 1…2…5…4... usw.). Die Person in der Mitte bekommt einen beliebigen Text, den sie laut vorlesen und später inhaltlich wiedergeben soll. Gleichzeitig soll sie die Fehler der beiden Zählenden durch Heben der entsprechenden Hand signalisieren. Diese Übung dauert 30 Sekunden und wird insgesamt dreimal durchgeführt, so dass jeder der drei Personen in der Mitte sitzen kann.
Im Anschluss wird gemeinsam über die individuellen Eindrücke und Empfindungen bei dieser Übung gesprochen. In unserer letzten Projektdurchführung empfanden die SchülerInnen diese Übung als anstrengend. Zuzuhören, die Fehler zu erkennen, diese fast gleichzeitig zu signalisieren sowie aufmerksam den Text zu lesen, ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Aus ihren Feedbacks konnten wir entnehmen, dass die SchülerInnen sich entweder nur auf den Inhalt des Textes oder auf die eingebauten Fehler konzentrierten. Sie filterten somit, welchen Reizen sie sich aus der Umwelt aussetzen. Schizophrene Menschen besitzen jedoch diese Filterfunktion nicht oder nur vermindert und nehmen dementsprechend alle Sinneseindrücke ungefiltert und zugleich bis zu dreimal intensiver als „gesunde“ Menschen auf. Mit dieser Selbsterfahrungsübung lässt sich ansatzweise vorstellen, wie sich ein schizophrener Mensch fühlt und welche Belastungen auf ihn einwirken.

Nach dieser Übung stellen die SchülerInnen in kurzer Form den Verlauf und die gewonnenen Ergebnisse der Kleingruppen dar. Im Anschluss widmen wir uns Fragen, die in den jeweiligen Kleingruppen erarbeitet und ansatzweise diskutiert wurden. Beispiele für solche Fragen sind: „Warum werden Menschen psychisch krank?“, „Wie entstehen psychische Erkrankungen?“, „Wie merkt man, dass man selbst psychisch krank ist?“, „Welche Heilungschancen bestehen z.B. bei einer schizophrenen Erkrankungen?“, „Wie hilft man Magersüchtigen?“, „Was bedeutet Schizophrenie?“. Diese Fragen wurden durch die Professionellen beantwortet, die damit eine kompetente und lebensnahe Unterstützung gewährleisteten. Parallel ließen wir auch die Ergebnisse aus den Fragebögen einfließen.

4. Auswertung und Perspektiven

Mit 12 Schulklassen aus Erfurt und Umgebung wurde das Projekt umgesetzt. 86 Schülerinnen und 53 Schüler (insgesamt 139 SchülerInnen) dieser Klassen nahmen an der Fragebogenerhebung teil, sodass Einstellungen der Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 8 bis 12 (Regelschule und Gymnasium) zu seelischen Problemen eingeschätzt werden können.

Tab.1: Schülerinnen und Schüler schätzen folgende Verhaltensweisen als psychisch krank ein (vor der Durchführung des Präventionsprogramms)


63 % der SchülerInnen (81 % der Schüler und 76 % der Schülerinnen) wissen, dass jeder psychisch krank werden kann. Unter den häufigsten Nennungen zur Frage nach seelischen Problemen fanden sich: Depression, Schizophrenie, Ängste, Wahnvorstellungen, Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten.
53 % (43 % der Schüler und 58 % der Schülerinnen) kennen jemanden mit seelischen Problemen. Bei eigenen seelischen Problemen würden sie sich vorrangig an Familie und Freunde wenden. Dem/der VertrauenslehrerIn würden sich nur sehr wenige SchülerInnen bei derartigen Problemen anvertrauen. Dies haben die SchülerInnen unter anderem so begründet: mangelndes Vertrauen, Angst, dass die Probleme in der Schule bekannt werden oder zu große Distanz zwischen SchülerInnen und LehrerInnen. Das Wissen über Beratungsstellen und Einrichtungen ist bei SchülerInnen sehr gering.
Um Einstellungsveränderungen der SchülerInnen nach dem Schulpräventionsprojekt einschätzen zu können, führten wir einen Pre-Post-Test mit den am Projekt teilnehmenden SchülerInnen durch. Bei den hier 119 SchülerInnen ist insgesamt festzustellen, dass sich das Wissen, wann bei bestimmten Verhaltensweisen von seelischen Problemen gesprochen werden kann, vertieft hat (vgl. Tabelle 2).

Tab. 2: Schülerinnen und Schüler schätzen folgende Verhaltensweisen als psychisch krank ein (nach der Durchführung des Präventionsprogramms)


Insgesamt ist zu sagen, dass die schon im Vorfeld integrationsfreundliche Einstellung zu Menschen mit seelischen Problemen bekräftigt bzw. leicht verstärkt worden ist. Dies ist auch zu erkennen anhand der Antworten zu den Aussagen: „Es ist am besten, psychisch Kranke zu meiden.“ und „Wir sollten in unserer Gesellschaft eine viel tolerantere Einstellung gegenüber psychisch Kranken einnehmen.“ (vgl. Tabelle 3)

Tab. 3: Vorher-nachher-Vergleich von Einschätzungen zur Integration psychisch erkrankter Menschen


Einige SchülerInnen verschriftlichten ihre Eindrücke zum Schulpräventionsprojekt. Der Projekttag wurde größtenteils als informativ und anschaulich beschrieben. Die Möglichkeit des Austausches von Meinungen vor allem mit den ExpertInnen wurde als positiv gewertet. Gewünscht wurde eine verstärkte Anwesenheit von Betroffenen. Die Zeit zu einer wirklich erschöpfenden Bearbeitung der Thematik war nicht gegeben, doch hat der Tag zum Nachdenken angeregt. Ein Schüler: „Anhand der behutsamen Einführung in die Problematik konnte man viel mehr Verständnis und Durchblick für die Situation betroffener Menschen erlangen.“

Positive Rückmeldung und Vorschläge zu Verbesserungen bekamen wir auch von Seiten der LehrerInnen, welche wir zu einer Nachbesprechung einluden. Das Projekt habe das Defizit an Informationen über seelische Probleme in unserer Gesellschaft ein wenig ausgleichen können. „Die (Psychisch Kranke, die Verf.) sind ja so wie wir“, hätten die SchülerInnen festgestellt. Interesse an dem Besuch psychiatrischer Einrichtungen sei aufgekommen. Der Umgang mit MitschülerInnen, die seelische Probleme haben, hat sich nach Aussage einer LehrerIn verändert. Eine Fortführung des Projektes wurde von mehreren Mitwirkenden gewünscht.
Die Rückmeldungen verdeutlichen, dass sich das Schulpräventionsprojekt als Annäherung und Einführung in die Thematik der seelischen Probleme als tragfähig erwiesen hat. Vorurteile und Stigmatisierung können nicht von heute auf morgen aufgelöst werden, aber unser Projekt und vergleichbare Ansätze können als Mosaiksteine auf einem längeren Weg der Stigmabewältigung Bedeutung erlangen.

5. Schlussfolgerungen

Es handelt sich um ein anspruchsvolles und zukunftsträchtiges Projekt im Spannungsfeld von Schule, Sozialpädagogik (Schulsozialarbeit) und Kinder/-jugendpsychiatrie. Das Konzept (Filmpräsentation und Kleingruppenarbeit und Plenum, jeweils unter Einbeziehung von Professionellen und Psychiatrie-Erfahrenen) hat sich als tragfähig erwiesen. Es ist möglich und wirksam, auf diesem Wege Jugendliche (und in gewissem Umfang auch ihre LehrerInnen) anzusprechen.

Das Oberthema könnte lauten: „Wohlbefinden in der Stadt“. Wie gestalten wir Schule, Freizeit, Medien etc. so, dass sie für Kinder und Jugendliche bekömmlich sind? So eingebettet, wird das Thema seelische Gesundheit über ein Integrationsmotiv hinaus zum Anliegen aller Bürger der Stadt. Bezogen auf unsere Hauptzielgruppe steht folgende Frage im Vordergrund: Kann man einen psychosozialen Immunschutz für die Jugendlichen erreichen?
Gleichwohl bleiben Stigmatisierungsprozesse im Zentrum des Projektanliegens. Das notwendige Wissen hierüber zu erwerben und in ein Praxisprojekt umzusetzen, ist innerhalb eines zweisemestrigen Projekts schwierig.
In der Gesamtbewertung zeigt sich, dass das Projekt für engagierte Hauptstudiumsstudierende der Sozialen Arbeit ein gutes Lernfeld darstellt. Sie sind gefordert, Wissen über seelische Probleme im Jugendalter zu erwerben und zu vermitteln; sie moderieren Kleingruppen und organisieren den Einsatz von Profis. Aufgrund ihrer geringen Altersdifferenz zu Jugendlichen sind sie auch für die Beziehungsaufnahme mit diesen prädestiniert. Eine unserer wesentlichen Zielsetzungen lautet: Wie können wir SchülerInnen motivieren, eigene Krisen und die von MitschülerInnen an- und auszusprechen (Stichworte: Peergroup-Kompetenz, Patenschaften, Mediennutzung)?
Die zweite Zielgruppe des Projekts sind die LehrerInnen. Es ist notwendig, verstärkt an den subjektiven und objektiven Gegebenheiten des Lehrerberufes anzuknüpfen. Stichworte hierfür sind: Berufsmotivation, Burnout, pädagogische und Beratungskompetenz von Lehrern. Insbesondere ist die Frage zu stellen, wie der Umgang mit seelischen Problemen und das Wissen über psychische Störungen in die Lehrpläne gelangt? LehrerInnen fühlen sich im Umgang mit depressiven; suizidalen, essgestörten, dissozialen Jugendlichen oft überfordert, und das vor dem Hintergrund eines durchaus vorhandenen Fortbildungsangebotes (bspw. seitens des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, ThILLM).

Dieses positive Zwischenresümee kann nicht verdecken, dass zukünftig folgende Aspekte genauer betrachtet werden müssen:
Wie kann es gelingen, Angebote der Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe, aber auch schulische Hilfsangebote zu entstigmatisieren, um Schwellenängste zu senken? Was bedeutet ein verstärkt geschlechtersensibler Ansatz im Projekt? Gibt es sinnvolle Wege der Einbeziehung von Eltern in eine dann ´vierseitige´ Projektarbeit?
Die Diskussion um die Ergebnisse der verschiedenen Schulevaluationsstudien (u. a. PISA) bewegt sich in Richtung Re-Pädagogisierung der Schule, die ein verstärktes Augenmerk auf Schlüsselkompetenzen, emotionale Entwicklung und Erziehung zur Konfliktfähigkeit legen soll. Im Sinne eines Pilotprojekts haben wir Ideen umgesetzt, die an andernorts gewonnene Erfahrungen anschließen und eines Tages in das Regelangebot des Erfurter bzw. Thüringer Schulunterrichts integriert werden sollten.

Literatur

Angermeyer, M.C. & Siara, C.S. (1994). Auswirkungen der Attentate auf Lafontaine und Schäuble auf die Einstellung der Bevölkerung zu psychisch Kranken. Nervenarzt, 65, S. 41-48.

Bombosch, J.; Hansen, H.; Blume, J. (Hrsg.) (2004). Trialog praktisch. Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Professionelle gemeinsam auf dem Weg zur demokratischen Psychiatrie. Bonn: Paranus Verlag.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002). Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Bonn.

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (2004). Gegen Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Erkrankter. Aktionsprogramm der WHO, der World Psychiatric Association (WPA), der Gesundheitsministerkonferenz der EG und vieler nationaler Fachgesellschaften. Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis 36(2), S. 341 - 367.

Hoffmann-Richter, U. (2002). Psychiatrie in der Zeitung. Bonn: Psychiatrie-Verlag.

Merkens, H. & Zinnecker, J. (Hrsg.) (2003). Jahrbuch Jugendforschung – Ausgabe 2003. Opladen: Leske + Budrich.

Storck, G.(2004). DGSP und der Trialog in der Psychiatrie. In: J. Bombosch; H. Hansen; J. Blume (Hrsg.). Trialog praktisch. Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Professionelle gemeinsam auf dem Weg zur demokratischen Psychiatrie. Bonn: Paranus Verlag.

Endnoten

  1. Schätzung der Aktion Psychisch Kranke (APK), Bonn.
  2. Vgl. hierzu das (i.w.S.d.W.) ausgezeichnete Buch „Psychiatrie in der Zeitung“ von Ulrike Hoffmann-Richter (Bonn 2002). Auf der Grundlage einer CD-Rom-Analyse kompletter Jahrgänge überregionaler Zeitungen wie FAZ, Frankfurter Rundschau und anderer kommt sie zu dem Schluss, dass über Körperkrankheiten im Durchschnitt wesentlich informativer berichtet werde als über psychische Störungen (wobei der Wissenschaftsteil der FAZ dank der regelmäßigen Mitarbeit der Baseler Sozialpsychiaters Asmus Finzen gut abschneidet).
    Entscheidend für das regionale Meinungsbild in Sachen Psychiatrie sind die örtlichen Tageszeitungen, und hier müssen Ansatzpunkte für die Veränderung des Meinungsklimas gesucht werden. Erfreulicherweise ist es uns immer wieder gelungen, Berichte über das hier dargestellte Projekt in die Erfurter Medien zu lancieren.
  3. Aus einem Vortrag des seinerzeit bei BILD-Deutschland zuständigen Redakteurs für Gesundheitsprobleme auf der Fachtagung des Thüringer Verbandes der Angehörigen psychisch Kranker in Jena 2001.
  4. Inhalt und Folgen der Stigmatisierung sind sehr gut beforscht. Es zeigt sich, dass die Vorbehalte gegenüber schizophrenen Menschen ähnlich stark sind wie gegenüber Alkoholkranken. Depressionen haben demgegenüber eine Karriere zur Volkskrankheit durchlaufen und vermutlich aufgrund der bekannten Symptomatik weniger Ängste auslösen. Die Erhebungen zeigen, dass mit zunehmender sozialer Nähe die Vorbehalte steigen (vgl. Angermeyer, M.C., Siara, C.S. 1994).
  5. Diese wurden eindrucksvoll dokumentiert auf dem Kongress „Together against Stigma“ in Leipzig 2001 (ein unveröffentlichter Bericht ist bei Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailgiese@bitte-keinen-spam-fh-erfurt.de anzufordern).
  6. Konferenz `Psychiatrie und Öffentlichkeit´. Unveröffentlichte Dokumentation, Fachhochschule Erfurt.

Autor

Eckhard Giese; Dr.phil., Dipl.-Psych.
Nach Praxiserfahrungen in der italienischen Psychiatrie und in der Berliner Jugendhilfe seit 1992 Professor mit den Schwerpunkten Sozialpsychiatrie, Umweltpsychologie/-pädagogik und Gender Studies am FB Sozialwesen der Fachhochschule Erfurt.
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailgiese@bitte-keinen-spam-soz.fh-erfurt.de



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