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Friedenspsychologie1

Gert Sommer
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 13 (2008), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Friedenspsychologie ist normativ gebunden: Zum einen mit ihren Strategien, Konflikte gewaltfrei zu bearbeiten, zum anderen mit ihren Zielen (soziale) Gerechtigkeit und Verwirklichung von Menschenrechten. Das Militär ist die wesentliche materielle Grundlage für gewaltförmige Konfliktaustragungen, und das westliche Militär hat die Aufgabe, die eigenen wirtschaftlichen Interessen abzusichern. Feindbilder sind wesentlich bei der psychologischen Vorbereitung von Kriegen. Es gibt eine Reihe von Methoden zur gewaltfreien Austragung von Konflikten, die aber kooperationswillige Konfliktparteien voraussetzen. Menschenrechte sind ein wichtiger Ansatz zur Konzeptualisierung eines positiven Friedens. Soziale Unterstützung bzw. soziale Netzwerke können für verschiedene Bereiche der Friedenspsychologie relevant sein.

Schlüsselwörter

Friedenspsychologie, gewaltfreie Konfliktaustragung, militärische Sicherheitsstrategie, Feindbild, Menschenrechte, „humanitäre Intervention“.

Summary

Peace psychology is tied to norms. Its strategies are non-violent conflict resolutions and its targets are (social) justice and the realisation of human rights. The military is the main foundation of violent conflict strategies, and the military of Western states has the function to assert economic interests. Enemy images are important in the preparation of wars. A great number of non-violent conflict strategies do exist, but they require parties who are willing to cooperate. Human rights are an important approach to specify the concept of positive peace. Social support and social networks might be relevant for different aspects of peace psychology.

Key words

peace psychology, non-violent conflict management, military security strategy, enemy image, human rights, “humanitarian intervention”.

1. Einleitung

Der Ost-West-Konflikt beherrschte nach dem 2. Weltkrieg Jahrzehnte lang die internationale Politik. Die Aufrüstungen insbesondere der USA und der UdSSR hatten solche Ausmaße angenommen, dass der Einsatz auch nur eines Teiles der Waffenarsenale - insbesondere der Kernwaffen - das wahrscheinliche Ende der Menschheit herbeigeführt hätte. Nach Beendigung des West-Ost-Konfliktes war die Hoffnung weit verbreitet, dass die Bedeutung der Vereinten Nationen zunehmen und die Relevanz von Rüstung und Militär drastisch abnehmen würden. Die frei werdenden Mittel und Gelder sollten für humanitäre Aufgaben eingesetzt werden.

Diese Hoffnung erfüllte sich bislang nicht. Dazu trug wesentlich bei, dass die USA als allein verbleibende Weltmacht nicht bereit war, zumindest einen Teil ihrer Macht und Ressourcen an die Vereinten Nationen ab zu geben.

Die weltweiten Militärausgaben betragen über 1.000 Mrd. US-$ jährlich, davon fallen etwa zwei Drittel auf das westliche Militärbündnis NATO. Dieses Geld, die im Militär verschwendeten Ressourcen und die Kompetenzen der im und für das Militär arbeitenden Menschen fehlen, um wesentliche Menschheitsprobleme zu lösen:

  • 800 Millionen Menschen leiden an Hunger, obwohl weltweit Nahrungsmittel im Überfluss produziert werden;
  • etwa 100.000 Menschen - davon 30.000 Kinder - sterben täglich an Hunger und leicht behandelbaren Infektionskrankheiten
  • 2,1 Mrd. Menschen sind arm, sie müssen mit weniger als 2 US-$ täglich auskommen;
  • über 1 Mrd. Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser mit den entsprechenden Krankheits- und Todesfolgen.

Das neueste SIPRI-Jahrbuch (2007) zeigt auf, dass für die Erreichung der Milleniums-Ziele der Vereinten Nationen (u.a. Bekämpfung von Hunger, Armut und Analphabetismus, Hilfe bei AIDS) nur etwa 10% der Militärausgaben zur Verfügung gestellt werden. Nach einer Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung und des Europarats (2005, S. 346) würden schon etwa 40% der jährlichen Militärausgaben ausreichen, um die drängenden Menschheitsprobleme wie Beseitigung von Hunger und Mangelernährung, Versorgung mit sauberem Trinkwasser, Sicherung einer basalen Gesundheitsversorgung, Beseitigung von Obdachlosigkeit, Schuldenerlass für die Entwicklungsländer, Verhinderung der Bodenerosion, Bereitstellung sauberer und sicherer Energie, Beseitigung von Analphabetismus und Stabilisierung der Bevölkerungszahlen angemessen zu bewältigen.
Die Menschheit ist aufgrund ihres akkumulierten Wissens und der technologischen Möglichkeiten in der Lage, jedem Menschen die Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben bereit zu stellen (z.B. Ziegler, 2005). Dazu gibt es realisierbare Pläne sowohl von den Vereinten Nationen als auch von wissenschaftlichen und Nicht-Regierungs-Organisationen. Diese werden bislang jedoch entweder gar nicht oder aber nicht konsequent umgesetzt, weil es hierfür - auf nationaler und internationaler Ebene - an politischem Willen fehlt.

Viele Konflikte zwischen Gruppen, Ethnien und Ländern werden gewaltförmig ausgetragen. Daher ist die Relevanz von Friedenswissenschaften, also auch Friedenspsychologie offenkundig. Friedenspsychologie befasst sich mit den Themen Frieden und Krieg. Sie ist normativ gebunden an das Ideal des Friedens (z.B. Christie, Wagner & Winter, 2001; Sommer & Fuchs, 2004 ). Dazu gehören zum einen die Mittel, Konflikte gewaltfrei auszutragen, und zum anderen die Ziele Frieden, soziale Gerechtigkeit und Verwirklichung der Menschenrechte. Diese beiden Bestimmungsmerkmale sind essentiell: Gewaltfreie Konfliktaustragungen allein sind unzureichend, wenn als Ergebnis dieser Prozesse z.B. Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen gefestigt werden. Es ist daher sinnvoll, zwischen negativem Frieden - d.h. Abwesenheit von Krieg und gewaltsamen Konflikten - und positivem Frieden - d.h. Bemühen um Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten - zu unterscheiden; dem entsprechend ist die Differenzierung in direkte und indirekte (strukturelle) Gewalt - Ausbeutung, Armut, soziale Ungerechtigkeit - bedeutsam (vgl. Galtung, 1975).

Bei Gewalt im nationalen und internationalen Bereich können ökonomische und kulturelle Interessengegensätze als zentral angesehen werden. Die Relevanz von Psychologie liegt darin, dass diese Gegensätze und ihre Wahrnehmung auch psychologisch hergestellt und vermittelt werden. Psychologische Variablen können erheblich zu Aufrechterhaltung und Eskalation von Konflikten beitragen . Dabei geht es aber nicht darum, das höchst komplexe Phänomen „internationale und innerstaatliche Gewalt“ psychologisch zu verkürzen (zu „psychologisieren“), sondern relevante Beiträge des „subjektiven Faktors“ aufzuzeigen (z.B. Steinweg & Welmann, 1990).

2. Konflikte

Konflikte und Konfliktaustragungen sind die zentralen Konzepte der Friedensforschung. Konflikte können definiert werden als unvereinbare Ziele, Werte und/oder Handlungstendenzen bei mindestens zwei beteiligten Parteien. Ursachen sind meist unterschiedliche Interessen und/oder soziale Lagen. Entscheidend ist die kognitiv-emotionale Verarbeitung eines Sachverhaltes; denn die Unvereinbarkeit muss von mindestens einer Konfliktpartei wahrgenommen und so verarbeitet werden, dass sie eine Änderung des unerwünschten Zustandes anstrebt. Konflikte beziehen sich häufig auf materielle Ressourcen (z.B. Land, Wasser, Öl; aber auch Bestimmung der internationalen Leitwährung), sie sind aber oft konfundiert mit eher psychologischen Themen wie soziale Identität, soziale Gerechtigkeit und Gruppenstolz (Kelman & Fisher, 2003). Sind grundlegende Bedürfnisse - z.B. nach Sicherheit - gefährdet, dann können Gefühle wie Furcht und Bedrohung, aber auch Misstrauen und Hass gegenüber dem (vermeintlichen) Verursacher entstehen und politisch relevant werden.

Von hoher Relevanz sind auch kollektive Mythen, wie z.B. ein ausersehenes Volk (z.B. USA: God's own country) oder aber ein Opfer zu sein (z.B. Bar-Tal, 2005). Beim Opfer-Mythos ist die Attribuierung üblich, dass die Gewalt des Gegners die alleinige Ursache des Problems, die der eigenen Seite aber nur eine berechtigte Reaktion ist. Solche Mythen können Friedens gefährdend werden, wenn sie durch tief verwurzelte „Erzählungen“ und/oder „wissenschaftliche Erkenntnisse“ realitätsfern überhöht werden und das politische Handeln dominieren.

Gewaltförmige und gewaltfreie Konfliktaustragung

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es ein weitgehend nicht hinterfragtes ius ad bellum: Ein Herrscher - Fürst, König, Präsident etc. - hatte das Recht, einen Krieg gegen einen anderen Staat zu beginnen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn deswegen anzuklagen. Bereits nach dem 1. Weltkrieg gab es u.a. mit dem Völkerbund ein Umdenken. Ein bedeutender Durchbruch im Völkerrecht gelang aber erst mit den Vereinten Nationen nach dem bis dahin kaum vorstellbaren Ausmaß an Gräueltaten und Opfern des 2. Weltkrieges: Die Charta der Vereinten Nationen nennt in Art. 1 das Ziel,

„den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten ... durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen und beizulegen.“

Gewaltanwendung bei der Austragung von Konflikten wird in der UN-Charta explizit verboten mit einigen wenigen Ausnahmen, insbesondere dem Recht auf Verteidigung. Die Souveränität der einzelnen Staaten hatte nach diesem Konzept höchste Priorität. Andererseits verweist schon die UN-Charta auch auf die Bedeutung von Menschenrechten. Daraus ergibt sich ein bedeutender Konflikt zwischen der staatlichen Souveränität einerseits und der Verwirklichung von Menschenrechten andererseits, wenn diese in einem Staat systematisch und grob verletzt werden. Oder anders ausgedrückt: Ein Konflikt zwischen dem Prinzip der Gewaltvermeidung und dem Prinzip der Gerechtigkeit. Zur Regelung diese Konfliktes gibt es bislang - nach geltendem Völkerrecht - nur eine prozedurale Lösung: Der UN-Sicherheitsrat kann feststellen, dass der internationale Friede gefährdet ist und dann im Extremfall den Einsatz militärischer Gewalt beschließen.

Inhaltlich wird dieser Konflikt mit dem Konzept der „humanitären Intervention“ bearbeitet, das auf der Lehre vom „gerechten Krieg“ aufbaut (Haspel & Sommer, 2004). „Humanitäre Intervention“ wird definiert als militärischer Angriff auf einen Staat - gegen dessen Willen und ohne dass von ihm eine Bedrohung für andere Staaten ausgeht - mit dem Ziel, massive Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Dies scheint wünschenswert angesichts der Gräuel, die im letzten Jahrzehnt in vielen Staaten stattfanden, u.a. in Somalia, Bosnien, Kongo oder Osttimor. Auch wenn damit gegen das grundsätzliche Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen verstoßen wird, so scheint dies doch legitim, da Menschenrechtsverletzungen beendet werden sollen.

Zur Rechtfertigung einer „humanitären Intervention“ wurden Kriterien entwickelt, die sich u.a. an den Prinzipien der Gewaltvermeidung und Verrechtlichung von Konfliktaustragungen orientieren. Wesentliche Kriterien sind (vgl. Haspel & Sommer, 2004):

  1. Es muss ein rechtfertigender Grund vorliegen, z.B. massive Menschenrechtsverletzungen.
  2. Eine kompetente Autorität muss die Intervention billigen; das ist derzeit der Weltsicherheitsrat.
  3. Der Krieg muss das äußerste Mittel (ultima ratio; last resort) sein, zivile Konfliktbearbeitungen haben absoluten Vorrang.
  4. Es muss Verhältnismäßigkeit gewahrt werden, d.h. unnötiges Leid und unnötiger Schaden sind zu vermeiden.
  5. Frieden muss das erkennbare Ziel der Intervention sein.

Gegen das Konzept „humanitäre Interventionen“ gibt es aber auch viele Bedenken:

  • Es werden Angriffskriege auf fremde Territorien gerechtfertigt und damit das völkerrechtlich bedeutsame grundsätzliche Gewaltverbot sowie das Prinzip der Souveränität des Staates gebrochen.
  • Der UN-Sicherheitsrat als völkerrechtlich einzig legitimierte Instanz hat selbst erhebliche legitimatorische Probleme, u.a. seine undemokratische Zusammensetzung, das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder und deren Beteiligung an illegalem Waffenhandel und Völkerrechtsbrüchen.
  • Die Kriterien für „humanitäre Interventionen“ sind nicht eindeutig definiert und ermöglichen somit Missbrauch; ein zum Angriff entschlossener Staat muss nur seine z.B. ökonomischen oder geostrategischen Interessen geschickt „humanitär“ begründen, um einen „legitimen“ Angriffskrieg zu führen.

Das Konzept wird sehr selektiv angewendet, insbesondere gegen schwächere und international isolierte Staaten.

Kriege führen meist zu erheblichen zusätzlichen Leiden und Schäden. Die Anwendung der o.g. Kriterien führt z.B. zu dem Ergebnis, dass der Jugoslawien-Kosovo-Krieg keinesfalls als gerechtfertigt angesehen werden kann (z.B. Chomsky, 2000; Haspel, 2002).

Zudem kann die Auseinandersetzung mit dem Konzept „humanitäre Interventionen“ dazu führen, dass die eigentlich wichtigen Alternativen vernachlässigt werden, nämlich zivile Interventionen, frühzeitige Konfliktentschärfung und Umlenken von militärischen Ressourcen in zivile Aufgaben.

Kriege führen

Friedenspsychologie muss sich auch mit der Vorbereitung, Durchführung und Auswirkung von Kriegen befassen, um daraus friedenspsychologisch relevante Schlussfolgerungen zu ziehen. Bedeutsame Themen in diesem Bereich sind u.a. (vgl. Sommer & Fuchs, 2004) Sicherheitspolitik und Militärdoktrinen, Feindbilder und Propaganda, psychologische Kriegsführung, Militarismus, Sozialisation im Militär, Sozialisation im Krieg, Folgen von gewaltförmigen Konfliktaustragungen für Individuen und Gesellschaften.
Im Folgenden werden wir uns zunächst kurz mit wichtigen grundlegenden Überzeugungen befassen, nämlich dem Nutzen des Militärs, der Berechtigung von Kriegen und der impliziten oder expliziten Überzeugung von der Höherwertigkeit der westlichen Kultur und Gesellschaftsstruktur.

Militär und Sicherheitspolitik

Nahezu alle Länder bzw. Regierungen dieser Erde sind davon überzeugt, dass das eigene Militär unverzichtbar ist. Auch wenn die eigene Armee in der Regel als „rein defensiv“ hingestellt wird: Die weltweite Existenz von Armeen belegt, dass militärische Gewalt und Kriege als selbstverständliche Optionen der Konfliktaustragung gesehen werden. In einem kaum vorstellbaren Ausmaß werden Gelder, Rohstoffe und menschliche Intelligenz im militärischen und Rüstungsbereich investiert (s.o.). Dies ist erstaunlich, denn das Militär ist jene Sozialisationsagentur, in der Menschen systematisch dazu gebracht werden, Befehlen von Vorgesetzten zu gehorchen und Menschen gezielt zu töten - also das allgemein gültige Tötungstabu zu überwinden (z.B. Kliche, 2004). Somit widerspricht es grundsätzlich fundamentalen demokratischen und humanitären Überzeugungen. Zudem produzieren die mit dem „rein defensiven“ Militär geführten Kriege unermessliches Elend und häufig weiteres Gewaltpotential: zum einen innerhalb der durch den Krieg brutalisierten Gesellschaften, zum anderen zwischen den Kriegsparteien, da mit Krieg in der Regel keine beidseitig akzeptablen Konfliktlösungen ausgehandelt werden.

Im Selbstverständnis westlicher Demokratien dient deren Militär hauptsächlich dazu, Frieden, Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte zu verteidigen. Eine angemessene Analyse relevanter Dokumente führt aber notwendigerweise zu anderen Schlussfolgerungen: Das westliche Militär hat die wesentliche Aufgabe, die eigenen wirtschaftlichen Interessen abzusichern bzw. durchzusetzen. Dazu einige Belege aus einschlägigen Dokumenten.

  1. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr formulierten schon 1992, also kurz nach dem Zusammenbruch der real-sozialistischen Staaten: „... vitale deutsche Sicherheitsinteressen“ sind die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der ungehinderte Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“. Dem entsprechend meinte der SPD-Verteidigungsminister Struck die deutsche Freiheit am „Hindukusch“ verteidigen zu müssen und er sah im weltweiten Einsatz der Armee die wichtigste Neuerung durch Rot-Grün (Frankfurter Rundschau, 24.6.2005).
  2. Der - wegen der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden bislang nicht in Kraft getretene - Verfassungsvertrag der Europäischen Union enthält eine – für eine Verfassung einmalige - Verpflichtung zur Aufrüstung: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Art. I-41; vgl. die sehr detaillierte Analyse von Fuchs, 2004).
  3. Die National Security Strategy (NSS 2002) der USA unter Präsident Bush enthält die folgenden zentralen Aussagen:
    - Die weltweite Dominanz der USA ist zu festigen;
    - die USA handeln, wenn erforderlich, unilateral;
    - ein starkes Militär ist von zentraler Bedeutung, sog. Präventivkriege sind möglich;
    - wesentliche Ziele der Politik sind Öffnung von Märkten und gesicherter Zugang zu Öl;
    - bei der Energiesicherung kommt der Golfregion eine besondere Bedeutung zu.

Der Historiker H.A. Winkler bezeichnete eine – bislang viel zu kurz gekommene - kritische Auseinandersetzung mit diesem Dokument als „Überlebensfrage für die UNO wie für die NATO“ (Frankfurter Rundschau, 15.2.03).

Die hier pointiert aufgezeigte Bedeutung des Militärs ist in der Bevölkerung zu wenig bekannt und bei den bislang etablierten Parteien und den relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu wenig umstritten. Dies mag auch daran liegen, dass z.B. der Bundeswehr zu deren Legitimation nach Ende des Ost-West-Konfliktes zunehmend nicht-militärische Aufgaben zugewiesen wurden, z.B. (Wiederauf-)Bau von Schulen und Straßen. Dadurch erscheint das Militär nicht wenigen Menschen als geradezu soziale und humanitäre Institution.

Zudem wird zur Begründung des Militärs - und auch von Kriegen - mit Feindbildern ein wichtiges psychologisches Konzept aktiviert.

Feindbilder

Kriege werden psychologisch durch Propaganda und Feindbilder vorbereitet (Jäger, 2004; Sommer u.a., 1992; Sommer 2004). Dabei kommt Massenmedien eine große Bedeutung zu. Die Bürger sind bei den Bildern, die sie sich von internationalen Ereignissen machen, weitgehend abhängig von Tatsachenbehauptungen und Interpretationsmustern, wie sie von Politikern, Journalisten und anderen Meinungsbildnern verbreitet werden. Dadurch wird Realität sozial konstruiert.

Um ein Feindbild zu etablieren, können u.a. folgende Strategien der Propaganda eingesetzt werden: unerwünschte Informationen unterschlagen oder in ihrer Bedeutung abwerten; erwünschte Informationen wiederholen und aufwerten; Ereignisse verkürzt darstellen; Interpretationen im Sinne des Feindbildes mitliefern.

Feindbilder haben die zentrale Funktion, Rüstung und Kriege zu rechtfertigen. Darüber hinaus stabilisieren sie Herrschaftssysteme, da sie von eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten ablenken oder deren Ursachen dem „Feind“ zuschreiben. Schließlich haben Feindbilder die wesentliche Funktion der Selbstbild-Erhöhung (Nolting, 1992): Da der Feind als minderwertig und gefährlich dargestellt wird, wird automatisch das Selbstbild erhöht. So konnte etwa Ivie (1980) am Beispiel des Vietnam-Krieges zeigen, dass die Johnson-Regierung die USA als zivilisiert und Nord-Vietnam als unzivilisiert darstellte mit den Hauptmerkmalen Freiheit vs. Gewalt, rational vs. irrational und Verteidigung vs. Angriff – dieses oder ein sehr ähnliches Muster sei zudem für die gesamte Geschichte der USA nachweisbar.

Die gezielte (Des-)Informationspolitik wird in autoritären oder diktatorischen Regimen meist durch direkte Zensur der Medien erreicht; in Krisensituationen ist sie aber auch immer wieder in demokratischen Ländern mit „freier“ Presse zu beobachten (z.B. Chomsky, 2003). Dabei kommt es nicht nur zu einseitigen Darstellungen, sondern immer wieder auch zur Verbreitung von Propagandalügen:

Beispiele: Kriege gegen Irak und Jugoslawien

  1. Kurz vor Beginn des Golfkrieges 1990/91 wurde der irakische Machthaber Saddam Hussein plötzlich erheblich negativer in den westlichen Medien dargestellt als in den Jahren zuvor, er mutierte zum „neuen Hitler“. Dazu trug wesentlich ein u.a. im UN-Weltsicherheitsrat vorgetragenes und weltweit von Medien verbreitetes Ereignis bei, nach dem irakische Soldaten in Kuwait Babies aus Brutkästen gerissen und ermordet haben - dies erwies sich später als von der New Yorker PR-Agentur „Hill and Knowlton“ im Auftrag der kuwaitischen Regierung realisierte Lüge zur psychologischen Vorbereitung des Krieges (MacArthur, 1993).
  2. Der gegen das Völkerrecht verstoßende Kosovo-Jugoslawien-Krieg 1999 war von historischer Bedeutung, da Deutschland erstmals nach dem 2. Weltkrieg militärisch direkt an einem Krieg teilnahm, und dies ohne UN-Mandat. Der Krieg wurde von der NATO damit begründet, dass durch Jugoslawien ausgeübte Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Vertreibungen, beenden werden sollten. Faktisch aber wurden die Vertreibungen mit Kriegsbeginn und auch nach Kriegsbeendigung erheblich intensiviert. Eine besondere Bedeutung zur Kriegsbegründung erhielt das „Massaker von Racak“, bei dem jugoslawischem Militär fälschlich unterstellt wurde, Zivilisten ermordet zu haben (Becker & Brücher, 2001).

Die psychologischen Mechanismen zur Vorbereitung von Kriegen ähneln sich: Durch selektive Informationen oder Propagandalügen wird ein Feindbild geschaffen bzw. intensiviert, das die Kernelemente Gefährlichkeit und Minderwertigkeit des Gegners enthält (Sommer, 2004). Dabei sind bildliche Darstellungen besonders bedeutsam, da sie intensive Emotionen auslösen können. Die o.g. Beispiele wurden bewusst gewählt: Sie demonstrieren, dass die Bevölkerung auch in (westlichen) Demokratien systematisch so fehl informiert werden kann, dass sie Kriege akzeptiert.

Für Friedenspsychologie und Gemeindepsychologie sind die Sozialisation im Krieg (Kizilhan, 2004) und der Wiederaufbau nach gewaltförmigen Konfliktaustragungen (Wessells, 2004) relevant. Bei Kriegen kann sich in den betroffenen Gesellschaften eine „Kultur der Gewalt“ entwickeln. Individuelle Gewalt wird dann u.a. dadurch gefördert, dass diese in der Gemeinschaft und der Bezugsgruppe sozial unterstützt wird und dass sich entsprechende soziale Normen entwickeln (Röhrle, 1994). Soziale Netzwerke können durch zivilisatorische Umbrüche (Röhrle, 1980) und in noch größerem Ausmaß durch Kriege zerstört werden (Korac, 2006). Dies geschieht schon durch die Abwesenheit der Soldatinnen und Soldaten von ihren Familien, aber auch durch gewaltsamen Tod: In kriegerischen Auseinandersetzungen sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts etwa 90% der Todesopfer Zivilisten (z.B. Vietnam- oder Irak-Krieg).

In Kriegen erfahren Menschen unermessliches Leid, u.a. durch Tod von wichtigen Bezugspersonen, körperliche Verstümmelung, Vertreibung, Folter und sexualisierte Gewalt. Beim Wiederaufbau sind daher nicht nur die Wiederherstellung der Infrastruktur wichtig, sondern auch das Bearbeiten von Ängsten, Traumata, Hass und Gewaltneigung, die mit Kriegen und Völkermord einhergehen (Gurris, 2004). Dabei ist insbesondere in nicht-westlichen Gesellschaften das Heilen auf Gemeindeebene von großer Bedeutung, d.h. Gemeinde bezogene, kulturell verankerte und die lokale soziale Unterstützung nutzende Ansätze (Gutlove & Thompson, 2006; Wessells, 2004).

Friedenspsychologisch relevant in diesem Bereich sind insbesondere Aktionen, mit denen die Bevölkerung angemessen über den Konflikt, seine Hintergründe, die Interessen der Konfliktparteien und Möglichkeiten zur gewaltfreien Lösung informiert wird bzw. aktiv sich zu informieren versucht. Dabei kann ein breites, wenig dichtes Netzwerk hilfreich sein, da unterschiedlichere Informationen zugänglich werden, die möglicherweise sogar zunächst den eigenen Anschauungen widersprechen (Röhrle, 1994). Für den Abbau von Feindbildern ist eine systematische Kontakt- und Informationsaufnahme zum „Feind“ relevant. Wichtig können auch Aufgaben und Probleme sein, die nur gemeinsam gelöst werden können. Auch bei diesen beiden Aspekten sind die o.g. Netzwerkmerkmale relevant. Zusätzlich wird die enge Beziehung zwischen sozialer Unterstützung und sozialen Kompetenzen relevant (Röhrle & Sommer, 1994), da die erfolgreiche Problembearbeitung verschiedene soziale Kompetenzen erfordert. Darüber hinaus sind die Vermittlung fundamentaler Einstellungen wie Empathie und soziale Gerechtigkeit bedeutsam. Eine Aufklärung über eigene Feindbilder und die Inhalte eigener Militärdoktrinen kann auch als Ideologiekritik verstanden werden: Die vorgeblich positiven Aufgaben und Ziele des Militärs werden problematisiert.

3. Frieden gestalten

Relevante psychologische Themenbereiche bei der Gestaltung von Frieden sind u.a. (vgl. Sommer & Fuchs, 2004) Engagement für Frieden, gewaltfreier Widerstand, Zivilcourage, moralische Kompetenz, zivile Intervention, Vertrauensbildung, Verhandeln, Mediation, interaktive Konfliktlösung, Versöhnung nach Konflikten, interkulturelles Lernen, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte.

Wir haben oben als ein Kernelement der Friedenspsychologie das Mittel der gewaltfreien oder konstruktiven Konfliktaustragung genannt, das wir im Folgenden mit einigen relevanten Methoden kurz erläutern.

Konstruktive Konfliktaustragung

Zur Sicherung des Friedens werden Methoden benötigt, die für die Konfliktbeteiligten kurz- und langfristig zu akzeptablen Lösungen führen und die fundamentalen Bedürfnisse der Betroffenen befriedigen.

Aus der umfangreichen psychologischen Forschung können folgende allgemeine Empfehlungen für gewaltfreie und konstruktive Konfliktaustragungen abgeleitet werden (Sommer, 1998):

  • Akzeptieren der Konfliktgegner als gleichberechtigte Menschen mit eigenen und begründeten Interessen;
  • Empathie;
  • die eigenen Anliegen und die der Gegenseite ernst nehmen;
  • hemmende Emotionen ausdrücken und bearbeiten;
  • Vermeiden von Zeitdruck; Kompromissbereitschaft in kompromissfähigen Bereichen;
  • Abbau von Feindbildern.

Ziel ist eine Interpretation des Konfliktes als gemeinsames Problem, das kooperativ und gleichberechtigt gelöst werden kann mit einer für die beteiligten Konfliktparteien kurz- und langfristig akzeptablen Lösung.

Verhandlungen. Die üblichste Methode zur Konfliktaustragung sind Verhandlungen; diese werden insbesondere bei intensiven und lang dauernden Konflikten häufig als Konkurrenz konzeptualisiert, bei der es nur um die einseitige Durchsetzung der eigenen Interessen geht. Dabei dominiert das Nullsummendenken, nach dem der Nutzen der Gegenseite automatisch einen eigenen Verlust bedeutet (Gewinn-Verlust-Ausgang). Kooperatives Vorgehen dagegen konzeptualisiert Konflikte als gemeinsames Problem, bei dem eine für beide Seiten günstige Lösung angestrebt wird (Deutsch, 1976).

Abgestufte und gegenseitige Initiativen zur Spannungsreduktion (GRIT). Das GRIT-Modell (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension Reduction; Osgood, 1962) wurde als Antwort auf die atomare Hochrüstung der Supermächte USA und UdSSR entwickelt, indem konzeptuell die Rüstungsspirale in eine Abrüstungsspirale umgewandelt wird. Zentrale Elemente sind: öffentliche Ankündigung der gesamten Initiative; einen eindeutigen und überprüfbaren Schritt ankündigen, durchführen und den Gegner zu reziprokem Verhalten einladen; das Ausmaß der einzelnen Schritte soll die eigene Sicherheit nicht gefährden. Die psychologische Relevanz des GRIT-Modells liegt u.a. darin, dass die Sicherheitsbedürfnisse der beteiligten Parteien gewahrt werden, dass Vertrauen hergestellt und bei gutem Verlauf eine Deeskalationsdynamik begründet wird. Das Modell war vermutlich Grundlage der zeitweise erfolgreichen Verhandlungen zwischen US-Präsident Kennedy und UdSSR-Präsident Chruschtschow im Jahre 1963. Das Modell kann aber auch allgemein zur Vertrauensbildung in verfestigten Konflikten genutzt werden.

Mediation ist die Intervention einer - möglichst neutralen und von den Konfliktparteien akzeptierten - dritten Partei mit dem Ziel, die Konfliktparteien bei der Bearbeitung ihrer Konflikte zu unterstützen (Bastine & Wetzel, 2000; Bercovitch, Anagnoson & Wille, 1991; Mattenschlager & Meder, 2004). Wesentliche Aufgaben des Mediators sind Hilfen bei der Förderung einer produktiven Kommunikation, der Klärung der zentralen Konflikte, der Herausarbeitung der gemeinsamen Interessen und der Entwicklung von Problemlösungen.

Bei Interaktiver Konfliktlösung (bzw. Problemlöseworkshops) motiviert ein Team von Sozialwissenschaftlern die Vertreter der Konfliktparteien, die Konflikte - geleitet durch ein Problemlösemodell - zu diagnostizieren und Lösungsvorschläge zu machen (Fisher, 1997; 2004; Kelman, 1992; Rouhana & Kelman, 1994). Dabei werden - stärker als bei offiziellen Verhandlungen - die subjektiven Elemente des Konfliktes thematisiert. Die Mitglieder der Konfliktparteien sind Bürger mit hohem Ansehen; es ist angestrebt, dass diese Einfluss nehmen auf Regierung und öffentliche Meinung, um dadurch offizielle Verhandlungen zu ermöglichen und zu fördern. Psychologisch bedeutsam ist u.a., dass die Konfliktparteien ihr jeweiliges Selbst- und Feindbild korrigieren, Empathie entwickeln und die gemeinsamen Interessen herausarbeiten. Insbesondere Kelman und seine Mitarbeiter haben dieses Konzept viele Jahre im Israel-Palästina-Konflikt angewandt.

Ein breites Engagement der Bevölkerung für friedliche Ziele und Mittel kann zu politischen Veränderungen führen. Das Engagement hängt u.a. von folgenden Faktoren ab: individuelle Wertorientierung (z.B. Gewaltfreiheit, soziale Gerechtigkeit), erwarteter Nutzen, subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit, aber auch gesellschaftliche Bedingungen wie positive Modelle sowie konkrete und attraktive Angebote für kollektives Handeln (Preiser, 2004). Das individuelle Engagement kann erleichtert werden durch bereits erfahrene soziale Unterstützung (z.B. Back, 1992) oder durch die Erweiterung bzw. den Wechsel des sozialen Netzwerks (Röhrle, 1994). Die bislang weltweit größten Demonstrationen für eine friedliche Konfliktaustragung gab es im Vorfeld des dritten Golfkrieges (Sommer, 2003). Diese führten zwar nicht zum direkten Erfolg, da die USA und ihre „Koalition der Willigen“ den Krieg mit einem Bruch des Völkerrechts begannen. Das intensive und aufwendige Engagement von Bürgern und vielen Organisationen auf der ganzen Welt demonstriert aber den großen Wunsch nach einer friedlicheren und gerechteren Welt.

Gewaltfreier Widerstand ist neben dem expliziten Verzicht auf Gewalt u.a. gekennzeichnet durch öffentliches Eintreten gegen ungerecht empfundene Verhältnisse, Offenlegung der eigenen Absichten, Bemühen um Kommunikation mit der Gegenseite sowie Bereitschaft, negative Folgen des eigenen Handelns zu ertragen (Bläsi, 2004). Dabei kann individuelle Zivilcourage eine wichtige Voraussetzung sein (z.B. Kapp & Scheele, 1996). Die Methoden des gewaltfreien Widerstandes reichen vom Protest (z.B. Flugblätter verteilen, Plakate aufhängen, demonstrieren) über Verweigern der Zusammenarbeit (z.B. Streik, Verbraucherboykott) bis hin zum zivilen Widerstand (Verkehrsblockade, Anketten an relevante Objekte). Das Vorgehen kann dadurch erfolgreich sein, dass der Gegner – insbesondere aufgrund der Standhaftigkeit und der moralischen Überzeugung des gewaltfreien Widerstandes - seine bisherigen Überzeugungen und/oder sein bisheriges Verhalten ändert.

Friedensjournalismus. Medien spielen häufig – sei dies bewusst gewollt oder nicht – eine bedeutsame Rolle bei Vorbereitung und Durchführung von Kriegen (s.o. Feindbild). Friedensjournalismus dagegen hat das Ziel, den Einfluss der Medien zur konstruktiven Austragung von Konflikten zu nutzen (Kempf, 2004). Dabei können u.a. folgende Strategien eingesetzt werden: alle Beteiligten zu Wort kommen lassen, insbesondere versöhnungsbereite politische Eliten und Bevölkerungssegmente; Unwahrheiten und Leid beider Seiten thematisieren; Krieg als das zentrale Problem darstellen, nicht aber den „Feind“.

Wir haben als wesentliches Ziel der Friedenspsychologie Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte bezeichnet. Abschließend werden wir uns mit einem dieser Themen - Menschenrechten - ausführlicher befassen.

4. Menschenrechte

Das Referenzdokument für Menschenrechte ist die von der Generalversammlung der UNO am 10.12.1948 verkündete Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR): In deren Präambel werden die Menschenrechte „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ charakterisiert; sie sind somit ein wichtiger Maßstab zur Beurteilung gesellschaftlicher Realität. Inhaltlich bestehen sie aus fünf Teilbereichen:

  • bürgerliche Rechte, z.B. Recht auf Leben, Verbot von Folter, Asylrecht, Rechtssicherheit,
  • politische Rechte, z.B. Versammlungsfreiheit, Wahlrecht,
  • wirtschaftliche Rechte, z.B. Schutz vor Arbeitslosigkeit, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Anspruch auf Erholung und Urlaub,
  • soziale Rechte, z.B. Recht auf soziale Sicherheit, u.a. bei Arbeitslosigkeit und Krankheit; Recht auf ausreichende Lebenshaltung und ärztliche Betreuung und
  • kulturelle Rechte, z.B. Recht auf Bildung, obligatorischer und unentgeltlicher Grundschulunterricht.

Die AEMR ist ein bedeutsames Schriftdokument der Menschheitsgeschichte, da erstmals fundamentale Menschenrechte für alle Menschen definiert wurden (sog. Universalität). Wichtige frühere Dokumente - insbesondere die Virginia Bill of Rights (1776) und die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen (1789) - haben große Bevölkerungsgruppen, insbesondere Frauen und Sklaven, von Menschenrechten ausgeschlossen. Zudem haben die Vereinten Nationen immer wieder betont, dass die Menschenrechte unteilbar und interdependent sind (sog. Unteilbarkeit); d.h., es widerspricht der Idee der Menschenrechte, wenn nicht alle Menschenrechte als relevant und erstrebenswert angesehen werden. Neben der AEMR sind die entscheidenden Dokumente die - auf der AEMR aufbauenden - Zwillingspakte von 1966, die beide bislang von etwa 150 Staaten ratifiziert wurden: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Obwohl Menschenrechte im politischen Diskurs eine große Rolle spielen, sind sie in der Bevölkerung kaum bekannt (Sommer, Stellmacher & Brähler, 2005; Stellmacher, Sommer & Brähler, 2005). Dies betrifft insbesondere die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, die von westlichen Staaten häufig negiert werden oder denen ihr Status als Menschenrecht abgesprochen wird. Dem entsprechend werden in den führenden deutschen Printmedien Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen häufig einseitig thematisiert (Sommer, 1999). Zudem werden Menschenrechte häufig instrumentalisiert, bis hin zur „Begründung“ von Kriegen (s.o. „humanitäre Interventionen“). Dem entsprechend werden Menschenrechtsverletzungen vor allem dann thematisiert, wenn sie von Staaten begangen werden, die nicht zur eigenen „Wertegemeinschaft“ gehören.

Auf der anderen Seite beinhalten Menschenrechte ein großes Potential für den Frieden, da unterdrückte Menschen, Gruppen und Völker sich auf die entsprechenden Dokumente beziehen und deren Realisierung fordern können. Mit dieser Bedeutung für jeden Menschen wurde die von der UN-Generalversammlung ausgerufene Dekade der Menschenrechtserziehung (1995-2004) begründet:
“Each woman, man and child, to realize their full human potential, must be made aware of all their human rights – civil, cultural, economic, political and social.”

Die Inhalte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind zudem hervorragend geeignet, einen positiven Friedensbegriff zu präzisieren. Damit kann „Frieden“ sehr viel besser gefasst werden als mit der Abwesenheit von Krieg allein. Zudem wurde von der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Education, Science and Culture Organisation; UNESCO) wiederholt auf die enge Beziehung zwischen Menschenrechten, Frieden und Demokratie verwiesen.

5. Schlussbemerkungen

Die Friedenswissenschaften, eingeschlossen die Friedenspsychologie, haben vielfältige und bedeutsame Methoden zur gewaltfreien Austragung von Konflikten entwickelt. Diese werden aber häufig nicht eingesetzt, weil zumindest eine Konfliktpartei erhofft, durch Androhung bzw. Einsatz von Gewalt einseitig die eigenen Interessen durchzusetzen. Dies wird durch die Existenz des Militärs unter der Verfügungsgewalt von Nationalstaaten erleichtert. Die gewaltfreien Strategien setzen also kooperationswillige und -fähige Konfliktparteien voraus. Dies können Regierungen sein, die von Beginn an Gewalt vermeiden wollen. Dazu können aber auch zunächst gewaltbereite Regierungen gebracht werden, z.B. durch ein durchsetzungsfähiges Völkerrecht, internationalen Druck und/oder die eigene Bevölkerung.

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Anmerkung

1 Diesen Artikel widme ich meinem langjährigen Freund, Kollegen und Mitstreiter für eine menschlichere Welt, Bernd Röhrle zum 60. Geburtstag. Nachdem Bernd die Hälfte meiner Professorenstelle in Marburg übernahm, konnte ich mich etwas aus der Gemeindepsychologie zurück ziehen und verstärkt der Friedenspsychologie zuwenden.

Autor

Prof. Dr. Gert Sommer
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Fachbereich Psychologie
Philipps-Universität Marburg
Gutenbergstr. 18
D-35037 Marburg
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Geb. 1941, von 1977-2006 Professor für klinische Psychologie und Gemeindepsychologie am Fachbereich Psychologie der Universität Marburg. Langjähriger Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie (FFP) und stellvertretender Vorsitzender der Zeitschrift Wissenschaft & Frieden. Forschungsschwerpunkte: Soziale Unterstützung, Friedenspsychologie, bes. Menschenrechte und Feindbilder.



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