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„GELEBTE HINTERTREPPE“ – oder was aus Forschung werden kann

Beate Nothnagel, Rubina Vock & Ursula Füller
Unter Mitwirkung von Petra Berlan & Ramona Sternitzke
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 14 (2009), Ausgabe 1]


1. Einleitung

Der folgende Artikel beschreibt einen Workshop auf der Jahrestagung 2008 der Gesellschaft für Gemeindepsychologische Forschung und Praxis (GGFP) zum Thema „Vom schönen Leben. Hintertreppen für Sinnstiftung und Anerkennung“, der gemeinsam von ehemaligen Mitarbeiter/innen eines Forschungsprojekts, ehemaligen Psychologiestudent/innen und als chronisch psychisch krank bezeichneten Menschen, die in einem Heim leb(t)en, durchgeführt wurde. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich jedoch nicht nur auf den Workshop am Tagungswochenende, sondern skizzieren ebenso dessen Entstehung und die sich anschließende Entwicklung. Sein Titel „Gelebte Hintertreppe“ verweist auf die Bedeutung des Workshops: Angesichts der Erfahrungen von im Heim lebenden Menschen konnte es darin nicht um die Darstellung sinnstiftender Hintertreppen der psychosozialen Versorgungslandschaft gehen, vielmehr stellt der gesamte Workshop inklusive seiner Entstehungs- und Vorbereitungsgeschichte und seinen Folgeerscheinungen einen lebhaften Prozess dar, der von allen Beteiligten als „Hintertreppe“ zu Sinnstiftung und Anerkennung erlebt wurde und wird. Dieser Prozess, in dem wenig geplant werden konnte, der von spontanen Einfällen und Zufällen und vor allem vom hohen Engagement der im Heim lebenden Menschen getragen war bzw. ist, soll hier beschrieben und reflektiert werden. Zunächst wird das Forschungsprojekt vorgestellt, in dem sich alle Beteiligten kennen lernten.

2. Annäherung an eine fremde Welt

Im April 2004 startete das Forschungsprojekt „Bestandsaufnahme der Unterbringung chronisch psychisch kranker Menschen aus Berlin in Heimen – Steuerung und Betreuungsqualität“, das gemeinsam von der Freien Universität Berlin und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen und unter Begleitung eines Beirats, bestehend aus Praktikern der psychosozialen Versorgung Berlins, durchgeführt wurde.1 Ziel dieses Projektes war es, zum einen die Wege und die damit einhergehenden Begründungen zu beleuchten, die zu einer Heimunterbringung psychisch kranker Menschen geführt hatten, zum anderen ging es darum, anhand konkreter Einzelschicksale die Lebenswelt „Heim“ und die Beurteilung dieser Lebenswelt aus Sicht der betroffenen Menschen zu beschreiben. Im Rahmen von Qualifikationsarbeiten führten sechs Studierende2 der Psychologie an der Freien Universität Berlin umfangreiche biografische Einzelfallanalysen3 durch. Die Diplomand/innen begleiteten die im psychiatrischen (Pflege)Heim4 lebenden Menschen über viele Monate hinweg, wobei intensive Beziehungen entstanden, die zum Teil bis heute andauern5.

Als Diplomand/innen und Projektmitarbeiterin der Freien Universität Berlin hospitierten wir zunächst in verschiedenen Heimen, um langsam in die uns fremde Welt einzutauchen, den Alltag mitzuerleben und die dort lebenden Menschen kennen zu lernen. Dabei wurde uns der Unterschied dieser Lebenswelt zum eigenen Alltag, der nicht nur in der differenten Wohnsituation – in der Regel ein Leben auf „Stationen“, häufig in Zwei-Bett-Zimmern mit wenig Privatsphäre – bestand, schnell deutlich. Das Leben der in einem Heim wohnenden Menschen erlebten wir vor allem als kontrolliert, beobachtet und reglementiert6. Es schien wenig Spielraum zur individuellen Gestaltung zu geben; und die sozialen Kontakte erschienen uns auf ein unverbindliches und oberflächliches Nebeneinander der dort notgedrungen miteinander Lebenden beschränkt. Bei vielen waren die früheren freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen abgebrochen oder beschränkten sich auf ein Minimum. Unsere Wahrnehmung einer derart eingeengten und einengenden Lebenswelt provozierte ein Gefühl der Beklemmung und erweckte in uns den Wunsch, die Lebensbedingungen der dort lebenden Menschen zu verbessern – ja an ihrer „Befreiung“ mitzuwirken. Trotz unseres – aus der Lektüre verschiedener Enthospitalisierungsprozesse entstandenen theoretischen Wissens, dass viele der auf psychiatrischen Langzeitstationen versorgten Menschen ursprünglich nicht den Wunsch nach einem anderen Leben geäußert und sich eher als zufrieden mit ihrer Lebenssituation bezeichnet hatten (vgl. Dörner, 2001), standen wir den Äußerungen einiger Menschen, sie seien mit dem Leben im Heim zufrieden, zunächst eher verständnislos – zum Teil erschrocken – gegenüber.7 Verständlicher, fast sich notwendigerweise ergebend, erschien uns als Reaktion auf diese fremdbestimmte Lebenssituation das Sich-Wehren, was uns aber auch schnell die Grenzen und Teufelskreise der Lebenswelt „psychiatrisch spezialisiertes Heim“ aufzeigte.8 Ebenso fremd und unverständlich mochte den im Heim lebenden Menschen unser Anliegen erschienen sein, dort zu hospitieren, sie und ihre Lebensgeschichte näher kennen zu lernen.

Die Entscheidung, auf welche der im Heim lebenden Menschen wir uns mit unserer Arbeit konzentrierten, verlief sehr unterschiedlich. In einigen Fällen wurde die Auswahl von Mitarbeiter/innen des Heims aufgrund ihrer langjährigen Kenntnis der Personen und ihrer Einschätzung bzgl. deren „Geeignet-Seins“ vorgeschlagen, in anderen Fällen wurde die Auswahl völlig den Hospitierenden überlassen. Dass dieser Auswahlprozess aber nicht allein von den Hospitierenden bestimmt wurde, verdeutlicht die Äußerung von Petra Berlan,9 es sei ihr sofort klar gewesen, dass sie die Hospitantin näher kennen lernen und bei dem Projekt mitmachen wolle. Nach der Entscheidung, wessen Leben beschrieben werden soll, verschoben sich die Hospitationen im Heim hin zu konkreten Besuchen bei bzw. Verabredungen mit einzelnen Bewohner/innen. Dank der regelmäßigen Besuche und des gezeigten Interesses an ihrer Person und Geschichte erlebten manche der im Heim lebenden Menschen seit langem einmal wieder (zum Teil zum ersten Mal in ihrer Geschichte als „Heimbewohner/in“), dass andere Menschen ihnen und ihrem jetzigen Leben überhaupt Aufmerksamkeit schenkten.

3. Die Vorbereitungsphase – schon Workshop?

Im Juni 2008 sollte in Berlin die gemeindepsychologische Jahrestagung zum Thema „Vom schönen Leben. Hintertreppen für Sinnstiftung und Anerkennung“ stattfinden, und bereits Ende 2007 erreichte uns eine Anfrage von deren Planungsgruppe, ob nicht auch wir das Heimforschungsprojekt im Rahmen eines Workshops auf dieser Tagung vorstellen wollen. Ohne konkrete inhaltliche Vorstellungen und reichlich verunsichert sagten wir zu, allein mit der Erwägung im Hinterkopf, dass eine solche Tagung den in Heimen lebenden Menschen und ihren Erfahrungen die so sehr entbehrte Öffentlichkeit bieten könnte. Wir hofften, einige der in den Diplomarbeiten portraitierten Menschen für eine Mitgestaltung des Workshops gewinnen zu können und planten des Weiteren den Einbezug eines Leiters einer ambulanten Wohneinrichtung mit 24-Stunden Betreuung für schwerst und chronisch psychisch kranke Menschen, um Alternativen zur Betreuungsform „Heim“ vorstellen zu können.

Vor allem das Thema der Tagung bereitete uns Kopfzerbrechen, ja, es erschien uns widersinnig, hatten wir doch bei unseren Besuchen im Heim keine „Hintertreppen“ zu Sinnstiftung und Anerkennung entdecken können, mehr noch, schien uns das Leben in einem Heim eher ein Sinnbild für Nicht-Anerkennung und Nicht-Sinnstiftung zu sein. Wie also sollten wir einen Workshop gestalten, der den Teilnehmenden derartige „Hintertreppen“ aufzeigen konnte? Welche Beispiele gelungener Sinnstiftung und Anerkennung konnten wir anführen?

Mit diesen Zweifeln arrangierten wir ein erstes Treffen, an dem neben uns Petra Berlan10, Manfred Zaumseil und der Leiter einer ambulanten Wohneinrichtung teilnahmen. Gemeinsam überlegten wir, was und wo Hintertreppen in einem Heim sein könnten, welche Formen der Sinnstiftung und Anerkennung Heimstrukturen zulassen. Dabei wurden wir auch gemeinsam mit Petra nicht fündig. Ihre Erzählungen verdeutlichten sehr viel mehr die als Heimbewohnerin nicht erlebte Anerkennung. Zur Illustration bezog sich Petra auch auf die Erfahrungen einer Mitbewohnerin, worauf sich spontan die Idee anschloss, ob Petra sich auch deren Teilnahme am Workshop vorstellen könne. Zur Mitwirkung an unserem nächsten Treffen hatte Petra dann zu unserer großen Überraschung gleich drei weitere ihrer Mitbewohner/innen gewinnen können: Petras Freund, Volker Schröder, und Ramona Sternitzke sowie Erika Obermayer.11 Neben dem ersten Kennenlernen war auch bei diesem Zusammensein das vorrangige Thema die fehlende Anerkennung und die persönliche Erfahrung, als Heimbewohner/in auf einen „psychiatrischen Fall“ reduziert zu sein. Eindrücklich berichteten Petra, Ramona, Volker und Erika12 vom Erleben von Fremdbestimmung und auferlegter Unselbständigkeit, von ihrem Gefühl, im Heim laufend kontrolliert und bevormundet zu werden.

Die von Petra ausgehende Aktivität in der Anwerbung ihrer Mitbewohner/innen hatte unterdessen im Heim, in dem Petra und die anderen leben, für eine gewisse „institutionelle“ Aufregung gesorgt, und die Betreuenden legten der eigenständigen Organisation Petras zunächst einen Riegel vor. Die Mitarbeiter/innen des Heims waren weder von uns noch von Petra über unser Vorhaben informiert worden, sondern bekamen dies eher zufällig mit. Da sie nicht wussten, um was für eine Tagung es sich handelte und welchen Zweck die Treffen hatten, befürchteten sie, dass derartige Aktivitäten für die von ihnen Betreuten eine Überforderung darstellen könnten. Diese Bedenken konnten durch ein Gespräch Manfred Zaumseils mit dem betreuenden Arzt ausgeräumt werden.

 

 

Abbildung 1: Vorbereitungstreffen

Die Dynamik der ersten Treffen und die Probleme rund um Petras Eigeninitiative verstärkten unsere anfängliche Unsicherheit bezüglich der Gestaltung des Workshops, denn nun kamen Zweifel hinsichtlich unserer Rolle und der Bedeutung unseres Handelns hinzu, wie wir sie bereits aus der Hospitationsphase des Forschungsprojektes kannten: Welche Konsequenzen – auch auf institutioneller Ebene – hat die Einbindung im Heim lebender Menschen in diesen Workshop? Welche Erwartungen, Hoffnungen lösen wir mit diesen Treffen und dem Workshop bei Petra und den anderen aus? Können wir diesen Erwartungen gerecht werden und was geschieht nach der Tagung? Wie viel Verantwortung tragen wir in dieser Situation?

Und weiterhin hatten wir keine Antwort auf die Frage, wie sich im Rahmen des gesetzten Tagungsthemas der geplante Workshop gestalten ließ. Sicher nicht als Beispiel für eine erfolgreich praktizierte Hintertreppe für Sinnstiftung und Anerkennung. Folglich konnte dieser Workshop eher eine Plattform sein, auf der wir die Suche nach Sinn und Anerkennung gemeinsam und öffentlich fortführen wollten; eine Suche, die bereits mit den Begegnungen im Rahmen der Diplomarbeiten ihren Anfang genommen hatte und die durch die Vorbereitungstreffen für die einen fortgeführt, für die anderen begonnen wurde. Den Workshop und seine Vorbereitung begriffen wir nun als Chance, Sinn in den Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Behinderungen unter den gegebenen Bedingungen zu erleben und Anerkennung zu erfahren, Vielfältigkeit zu benennen und zu diskutieren. Dies allerdings sollte nicht nur am Beispiel einzelner Schicksale, sondern GEMEINSAM MIT den Heim-Erfahrenen geschehen. Diese gaben uns immer wieder zu verstehen, wie wichtig diese Treffen für sie waren, ja, dass gerade das Sprechen über ihre sehr schwierigen Lebensbedingungen für sie sinnvoll war und dass sie sich in unserer Runde endlich anerkannt fühlten. Für sie schien unsere Gesprächsrunde selbst eine mögliche Hintertreppe aus dem Alltag „Heim“ zu sein. Doch auch wir als „Professionelle“ hatten uns auf die Hintertreppe begeben: Unsere Unsicherheit bezüglich der Gestaltung des Workshops, die Unplanbarkeit seines Ablaufs und die Dynamik der Vorbereitungstreffen zwangen uns zum Loslassen professioneller Strukturen und damit auf eine Hintertreppe des herkömmlichen Professionalitätsverständnisses. Wir hatten also gemeinsam eine Hintertreppe betreten und waren dabei, sie zu leben, womit sich der Titel unseres Workshops quasi automatisch ergab.

Von der Unplanbarkeit

Unser erster Gedanke bezüglich der Einbeziehung heimerfahrener Menschen war, möglichst viele der in den Diplomarbeiten portraitierten Menschen als Teilnehmende und Gestaltende des Workshops zu gewinnen. Doch schon bald stellte sich Petras entschlossene Initiative, dank der sie sofort drei ihrer Mitbewohner/innen für die Mitwirkung am Workshop gewinnen konnte, als Glücksfall, ja sogar als maßgeblicher Schritt für die weitere Entwicklung des Workshops dar. Denn ein Einbezug der anderen in den Diplomarbeiten portraitierten Menschen konnte aus unterschiedlichen Gründen nicht realisiert werden. Entweder konnten die jeweiligen Ex-Diplomand/innen sich deren Mitarbeit in einer solchen Runde nicht vorstellen, oder sie konnten die dazu notwendige regelmäßige Begleitung nicht leisten.

Anders war dies im Fall einer heute 36-jährigen Frau, die zum Zeitpunkt der entstehenden Diplomarbeiten im selben Heim wie Petra lebte, mittlerweile aber in eine ambulant betreute therapeutische Wohngemeinschaft gezogen war.13 Auch zu ihr gibt es bis heute Kontakt. Trotz unserer Sorge, die Treffen mit Diskussionen zum Thema „Leben im Heim“ könnten für sie eine Überforderung darstellen, entschlossen wir uns, ihr eine Teilnahme am Workshop vorzuschlagen. Sie willigte erfreut ein, befand sich damit aber von Anbeginn an in einer Ambivalenz: Ihr Bedürfnis nach Anerkennung, als Teil einer Gemeinschaft „normaler“ Menschen wahrgenommen zu werden, kollidierte mit ihrer im Laufe der Jahre verkümmerten Selbstachtung, die ihr immer suggeriert(e), „zu dumm“ und „mind,erbemittelt“ zu sein, über keine Menschenkenntnis zu verfügen etc. Zwar nahm sie regelmäßig an den Vorbereitungstreffen teil, konnte sich aber nur schwer konzentrieren, brach einige Male die Treffen vorzeitig ab und wollte auch an der Tagung nicht teilnehmen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Teilnahme an unseren Treffen wie auch am Workshop und das damit einhergehende Angebot, gemeinsam über etwas zu sprechen, nicht für alle eine Möglichkeit der Anerkennung darstellt bzw. nicht von allen als eine solche genutzt werden kann.

Anders als geplant, bedeutete dies nun, dass an unserem Workshop nur Menschen teilnahmen, die alle aktuell in demselben Heim leben. Für die Diskussionen über mögliche Formen von Anerkennung und Sinnstiftung, über Umgangsformen, erlebte Beurteilungen der eigenen Person, für konkrete Schilderungen alltäglicher, als erniedrigend empfundener Erlebnisse bedeutete dies eine Konzentrierung auf ein einziges Heim.

Eine erneut überraschende Wendung nahm der Workshop, als wir feststellten, dass es sich bei drei der fünf Personen14, die sich zur Teilnahme angemeldet hatten, um Mitarbeiter/innen des Heimes handelte, in dem Petra, Ramona, Erika und Volker leben.15 Wir hatten zwar häufiger in den Vorbereitungstreffen eine mögliche Teilnahme von Heim-Mitarbeiter/innen an diesen Treffen thematisiert, waren aber davon abgekommen, da wir zunächst den im Heim lebenden Menschen einen eigenen Raum geben wollten. Eine solche Erweiterung der Gruppe wurde von den teilnehmenden Heimbewohner/innen durchaus in Erwägung gezogen und nicht aufgrund von Ängstlichkeiten abgelehnt. Skeptisch waren sehr viel mehr wir, denn wir befürchteten, die Teilnahme von Mitarbeiter/innen des Heims könnte für Petra und die anderen unangenehm sein und einen offenen Austausch gefährden. Diese Fürsorglichkeit erwies sich als nicht berechtigt: Als wir beim nächsten Vorbereitungstreffen von den Anmeldungen berichteten, sprang Petra spontan auf und rief freudig „Ja!“, womit sie ein Gefühl zum Ausdruck brachte, das auch die anderen empfanden. Mit diesen Anmeldungen erlebten sich Petra, Ramona, Volker und Erika als „normale“, erwachsene, einen Workshop vorbereitende Menschen, die von den Heim-Mitarbeiter/innen als gleichberechtigte Gegenüber wahr- und ernst genommen wurden.

4. Die Tagung – MITEINANDER SPRECHEN

Die Zusammensetzung des Workshops, wie sie sich nun ergeben hatte (Heim-Erfahrene, Heim-Mitarbeiter/innen und Forscher/innen), bot plötzlich die Möglichkeit, den Workshop im Sinne eines „Trialogs“ – fasst man diesen Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung und versteht darunter ein Zusammentreffen dreier Perspektiven – zu gestalten. Im Vordergrund standen die persönlichen Geschichten und Erfahrungen.

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde und Einführung in das Heimforschungsprojekt berichteten zunächst wir, die ehemaligen Diplomand/innen, über unsere Erfahrungen und Eindrücke, die wir während der Hospitationen gewonnen hatten. Neben dem Erlebten thematisierten wir auch unsere Erwartungen und – entsprechend dem Tagungsthema – unsere eigenen Erfahrungen von Anerkennung, die uns die Begegnungen mit den im Heim lebenden Menschen vermittelt hatten. Im Anschluss schilderte Petra, wie es für sie war, dass plötzlich völlig fremde Menschen im Heim auftauchten und an ihrer Geschichte interessiert waren. Dabei berichtete sie auch über Einschränkungen und Bevormundungen, die sie im Heim erlebt(e), und öffnete so die Runde für die Schilderungen der anderen Heim-Erfahrenen. Petra, Ramona, Erika16 und Volker erzählten von ihrem Leben im Heim mit seinen Pflichten aber auch Freiheiten, vor allem aber davon, wie sie sich in ihrem täglichen Tun stets kontrolliert fühlen. Im Heim fühlen sie sich wenig als Mensch und Individuum, da die eigene Persönlichkeit und die eigenen Bedürfnisse weder akzeptiert noch respektiert würden. Im Heim verliere man seine Individualität, verliere letztlich sich selbst. Anerkennung und Sinnstiftung würden ihnen – vor allem vom Pflegepersonal – im Heim nicht entgegengebracht. Neben diesen negativen Erfahrungen berichteten Petra, Ramona, Erika und Volker aber auch, warum das Heim für sie wichtig war: Es bot ihnen Schutz vor Selbstverletzung und Selbstzerstörung, gab ihnen Zeit ohne zu drängen. Nachdem Petra und die anderen das Leben im Heim aus ihrer Sicht dargestellt hatten, schilderten die Mitarbeiter/innen des Heims, wie sie ihre Arbeit dort erleben, wo sie Anerkennung, Sinn und Respekt erfahren, betonten aber auch deutlich, in welchen strukturellen Zwängen sie sich bewegen. Sie berichteten einerseits von einem regen Interesse der Menschen in der umliegenden Gemeinde am Heim und seinen Bewohner/innen, andererseits aber auch, wie schwierig es sei, Menschen einen Auszug aus dem Heim zu ermöglichen und sie im Rahmen der Eingliederungshilfe „unterzubringen“. Als persönlich bedrückend und schwierig schilderten sie den Umgang mit selbstverletzenden Verhaltensweisen der von ihnen Betreuten. Angesichts von Selbstgefährdungen gelte es stets, die eigenen Ängste auszuhalten, auch und gerade dann, wenn es darum gehe, nach derartigen Krisen wieder neue Freiheiten zuzugestehen.

Die Wahrnehmung der jeweils anderen Perspektive, die dieses MITEINANDER-SPRECHEN ermöglichte, tat allen spürbar gut. Das Aufeinandertreffen von Heim-Mitarbeiter/innen und Heimbewohner/innen außerhalb des institutionellen Rahmens bot die Chance, sich gerade nicht in den eingespielten Rollen „Mitarbeiter“ und „Bewohner“, sondern von Mensch zu Mensch zu begegnen. Auch war die Rollenverteilung von vornherein eine andere als die im Heim: Hier zählten die Heim-Erfahrenen zu den Akteuren. Die Mitarbeiter/innen und die anderen Teilnehmenden waren eingeladen, ihnen zuzuhören. Diese Situation ermöglichte – wie gerade von den Heim-Erfahrenen immer wieder betont wurde – ein eher gleichberechtigtes Miteinander. Petra und die anderen fühlten sich mit ihren Wahrnehmungen und Empfindungen auf eine Art und Weise ernst genommen, wie sie ihnen im Heim nie begegnete. Ganz deutlich illustriert dies Petras Äußerung bei der abschließenden Vorstellung der Workshops vor allen Tagungsteilnehmenden, die da lautete: „Hier konnte ich endlich mal erwachsen sein!“

 

 

Abbildung 2: Auf der Tagung

Auch wenn vieles am Workshop nicht geplant war und sich aus der Konstellation der Teilnehmenden ergab, so existierten doch gewisse Vorgaben. Dazu gehörte der Zeitplan der Tagung, der für den Abend eine Präsentation aller Workshops auf der Hintertreppe des Tagungsgebäudes vorsah. Wir hatten zum Ende des ersten Tagungstages alle Teilnehmer/innen unseres Workshops aufgefordert, die positiven und negativen Aspekte, die ihnen zum Thema „Leben im Heim“ einfielen, auf einem Blatt Papier zu notieren. Diese Stichworte spiegelten die im Tagesverlauf besprochenen Themen aus den unterschiedlichen Perspektiven wider. Aus der Bewohnerperspektive wurden vor allem die mangelnde Privatsphäre, das Kontrolliert-Sein, die soziale Ausgrenzung und mangelnde Anerkennung als negativ vermerkt, während der beschützende und Sicherheit bietende Charakter von Heimen und das Angebot an Therapiemöglichkeiten positiv erwähnt wurden. Als negative Aspekte der Mitarbeiterperspektive wurden die häufig knappen Personalressourcen, die mangelnde Zeit für den Einzelnen und die strukturellen Bedingungen genannt. Der Austausch mit den Kolleg/innen und das Engagement der Mitarbeiter/innen hingegen fanden positive Erwähnung. Diese so entstandenen Dokumentationen unseres Workshopgesprächs sammelten wir und hängten sie für alle Tagungsteilnehmer/innen sichtbar auf die Hintertreppe des Tagungsgebäudes.

Trotz der vielen negativen Empfindungen, über die Petra, Ramona, Erika und Volker berichtet hatten, kamen alle am Ende des Workshops zu dem Schluss, dass es ihnen heute ohne die Hilfe des Heims wesentlich schlechter ginge.

Die Gespräche gehen weiter

Schon in der Vorbereitungsphase entstand die Frage: Was kommt nach der Tagung? Können wir uns zum Ende der Tagung und angesichts gewachsener persönlicher Beziehungen so einfach voneinander verabschieden? Oder wollen wir uns mit Petra und den anderen Heim-Erfahrenen weiterhin regelmäßig treffen, und das dann „einfach so“? Wir fanden zunächst keine Antwort, außer, den Workshop in Form eines Nachtreffens in freundschaftlicher Atmosphäre im Garten einer ehemaligen Diplomandin abzuschließen, was auch wenige Wochen nach der Tagung geschah.

Eine weitere Überlegung betraf den Einbezug der Mitarbeiter/innen des Heims, denn zum Ende der Tagung hatten alle Beteiligten (Heim-Erfahrenen, Heim-Mitarbeiter/innen, Forscher/innen) das Bedürfnis geäußert, diese Form des Miteinander-Sprechens in weiteren Treffen außerhalb des institutionellen Rahmens „Heim“ fortzuführen. Doch trotz dieses Wunsches endete die Tagung, ohne dass konkrete Vorstellungen über die Ausgestaltung solcher Treffen entstanden waren, geschweige denn, weitere Treffen verabredet wurden. Zunächst kehrte jede der beteiligten Gruppen in ihren Alltag zurück.

Nach einer längeren Sommerpause stellten wir die ersten – und, wie es im Nachhinein scheint, viel zu komplizierten – Überlegungen bezüglich einer Weiterführung des begonnenen Trialogs an. Es schien uns nötig, die jeweiligen Gruppen (Heim-Erfahrene und Heim-Mitarbeiter/innen) getrennt nach ihren Zielvorstellungen bezüglich weiterer gemeinsamer Gespräche zu befragen. Wir verabredeten mit Petra, Ramona, Erika und Volker ein Treffen; ein weiteres mit den Mitarbeiter/innen des Heims war in einem zweiten Schritt geplant. Es kam jedoch anders als erwartet: Wieder einmal hatte Petra die Sache in die eigene Hand genommen und die Mitarbeiter/innen des Heims zu diesem Treffen gleich mit eingeladen. Ohne komplizierte Vorstrukturierung entstanden an diesem Abend wieder dieselbe persönliche Atmosphäre und dasselbe ungezwungene Miteinander wie während der Tagung. Und erneut war es Petras Initiative, die den Stein ins Rollen gebracht hatte, woraufhin wir uns als „Professionelle“ einmal wieder zum Rückzug veranlasst sahen und sehen. Die Koordination weiterer Treffen und deren inhaltliche Gestaltung wollen wir zukünftig in die Hände der Heim-Erfahrenen legen. Es sind im Wesentlichen Petra, Ramona, Erika und Volker, die einen gemeinsamen Weg bereiten, der unserer „professionellen“ Gestaltung und Strukturierung nicht bedarf und den wir gerne mit ihnen beschreiten.

5. „HIER BIN ICH MENSCH, HIER KANN ICH SEIN.“ - Ein Gespräch mit Petra und Ramona über den Workshop und die Folgetreffen17

Da Vorbereitungsphase, Workshop und Folgetreffen von einem hohen Engagement der im Heim lebenden Menschen getragen waren bzw. sind, muss auch dieser Artikel einen Einblick in deren Perspektive geben. Was ist es, das diese Treffen so wichtig macht? Wir denken, Petra und Ramona beschreiben in dem nun dargestellten Gespräch überaus deutlich die von ihnen empfundene Sinnhaftigkeit dieser Treffen.

Die Bedeutung des Workshops für Petra und Ramona muss vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit dem Heimalltag verstanden werden. Für diese Erfahrungen haben sie in unserem Gespräch folgende Bilder gefunden: Das Leben im Heim wird von beiden mit dem Leben auf einer einsamen Insel verglichen. Es gebe keine oder kaum Kommunikationsmöglichkeiten. Ramona fühlt sich im Heim als Nummer, als Akte, die verwaltet wird. Manchmal habe sie den Eindruck, als befinde sie sich im offenen Vollzug. Durch das Heim sei zwar der Rahmen geschaffen, doch dieser Rahmen sei leer, ohne Inhalte. „Aber mit einem starken Regiment!“, fügt Petra an. Auch sie meint, sie fühle sich manchmal wie im Knast oder wie ein Ufo, wie eine Außerirdische. „Sie behandeln uns als Kranke, so als wären wir doof!“ Die von ihr ebenso stark empfundene Nicht-Gleichberechtigung im Heim führt Ramona u.a. auch darauf zurück, dass sie ja im Heim lebe, die Angestellten dort aber nur zur Arbeit hinkämen. Individualität, sagt sie, falle im Heim flach. Sie glaube nicht, dass sie von den Angestellten im Heim als normaler Mensch wahrgenommen werde. „Das Einzelschicksal kennen die dort nicht.“

Im Kontrast zur oben skizzierten Lebenswelt „Heim“ stehen die Erfahrungen der beiden mit dem Workshop. Petra erzählt, sie sei sofort von dem Vorschlag, auf einer Tagung mitzumachen, begeistert gewesen, da sie sich von diesem Rahmen erwartet habe, ernst genommen zu werden, d.h. als Erwachsene behandelt zu werden. Auch sei es endlich einmal etwas Besonderes gewesen. Ramona wusste anfangs nicht, was sie erwarteten würde, es habe sie aber gereizt, von anderen zu hören, wie es ihnen im Heim ginge, oder zu erfahren, was die Gesellschaft mit solchen Einrichtungen bewirken wolle und wie sie selbst als Betroffene von dieser Gesellschaft gesehen werde. Nach anfänglichen Bedenken habe sie schnell Vertrauen gefasst, da sie ein ehrliches Interesse an ihrer Person wahrgenommen habe. Ramona fand sich in der Rolle derjenigen wieder, die Auskunft über ihr Leben im Heim gibt, denn „ihr als Außenstehende könnt ja nicht wissen, wie es sich an meiner Stelle anfühlt.“ Sie habe gespürt, dass da jemand war, der wirklich wissen wollte, was es für sie bedeute, im Heim zu leben. Sie betont: „Ich fühlte mich wieder als die Ramona Sternitzke, die ich bin!“ Sie habe bei den Treffen nicht das Gefühl gehabt, sie sei „die aus dem Heim“ und wir „die von Draußen“. Sie nahm uns als Gesprächspartner auf gleicher Ebene wahr. „Ich hab mich wieder wohl gefühlt. Ich habe im Management gearbeitet, aber davon bin ich jetzt Lichtjahre entfernt. Aber in den Gesprächsrunden war ich wieder die ‚Sternitzke aus dem Management’, also ein normaler Mensch. Ich wusste, dass ich auf gleicher Ebene akzeptiert und ernst genommen werde.“ Ramona hatte im Gegensatz zu uns keine Probleme mit dem Thema der Tagung. Sie sagt, die beiden Begriffe „Sinnstiftung“ und „Anerkennung“ seien für sie sehr wichtig gewesen. „Ich fand sie absolut passend. Das ist es, worum es geht. Hättet ihr die Tagung mit anderen Worten überschrieben, wäre es vielleicht etwas anderes gewesen.“

Petra erinnert sich, dass sie bei den Vorbereitungstreffen zur Tagung plötzlich Verantwortung gehabt habe. „Es ging ja darum, dass man wieder an etwas glaubt, dass man wieder ‚Ich’ ist!“ Sie hatte, wie schon beschrieben, großes Engagement gezeigt. Ramona weiß Petras organisatorisches Talent zu schätzen, und äußert sich anerkennend über ihre Fähigkeit, auch die Mitarbeiter/innen des Heimes an „unseren Tisch“ zu holen, denn „das Separatistische ist nicht gut. Da entsteht ein falscher Eindruck.“ Der Eindruck nämlich, dass es bei unseren Treffen nur darum ginge, die Mitarbeiter/innen in deren Abwesenheit zu kritisieren.

Beim gemeinsamen Nachdenken über mögliche Ziele unserer Folgetreffen oder etwaige Strukturierungsangebote von „professioneller“ Seite, machen Ramona und Petra deutlich, dass ihnen daran nichts liegt. Es ist beiden wichtig, einfach erzählen zu können, was „aktuell im Heim läuft und eventuell eben auch schief läuft“. Der andere Rahmen, betonen beide, sei von großer Bedeutung. Es müsse außerhalb sein, es sei unbedingt nötig, dass das „Gemäuer Heim“ verlassen wird. „Sonst“, sagt Ramona, „fühle ich mich nicht frei. Man kann sich dort nicht frei fühlen, wo man sich an- und abmelden muss.“

Um ein Bild für unsere Treffen zu geben, zitiert Ramona Goethe: „Hier bin ich Mensch, hier kann ich sein.“ So waren wir uns am Ende des Gesprächs einig: Bei unseren Treffen geht es um das einfache Mensch-Sein, darum, MITEINANDER zu SEIN anstatt nebeneinander in getrennten Welten.

6. Resümee: Einfach nur MITEINANDER-SEIN

Im Grunde haben Petra und Ramona alles Wesentliche über Sinn und Bedeutung unserer Treffen gesagt. Dennoch wollen wir uns als Autorinnen dieses Artikels einige Nachgedanken erlauben.

Das Tragende an unseren Treffen scheint das schlichte Zur-Verfügung-Stellen von RAUM und ZEIT zu sein. Von einem Raum nämlich, der idealerweise frei ist von Be- bzw. Abwertung und Kontrolle, der gestaltet ist durch Respekt, Normalität und zwischenmenschliche Wärme und Ernstgenommen-Werden. Dies ist ein Raum, in dem niemand irgendwohin will und alle die Zeit haben, auch Phasen des Schweigens, der Langeweile und der sich wiederholenden Äußerungen auszuhalten. Es scheint sich also bei dem, was bei unseren Treffen für Petra und Ramona von so großer Bedeutung ist, um etwas für viele Menschen ganz Selbstverständliches zu handeln. Denn der oben skizzierte Raum ist nichts anderes als ein FREUNDSCHAFTLICHER RAUM, eine zwischenmenschliche Situation wie viele von uns sie in freundschaftlichen Zusammenhängen erfahren. Es geht um ein ganz einfaches und SELBSTVERSTÄNDLICHES MITEINANDER, in dem sich die im Heim lebenden Menschen als Subjekt erfahren können und nicht als Objekt therapeutischer, pädagogischer oder pflegerischer Manipulation. Ein Raum, in dem Begegnung möglich ist. Dieser BEGEGNUNGS-RAUM ermöglicht den Betroffenen das Sprechen über sich und ihren Alltag und macht den Heim-Mitarbeiter/innen – wie es scheint – das Zuhören leichter, da auch sie sich hier in einem Raum außerhalb institutioneller Systemdynamiken befinden, die selten Raum und Zeit für Begegnung lassen. In „Tyrannei des Gelingens“ (2007) machen Schernus und Bremer die Bedeutung von Raum und Zeit in der sozialen Arbeit sehr deutlich.


„Alle Menschen, gesunde und kranke, behinderte und nicht behinderte, alte und junge, arme und reiche, brauchen Raum und Zeit; Raum und Zeit für Beziehungen, Raum und Zeit, in denen Respekt und Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. (…) Die kranken, die behinderten, die alten und die armen Menschen brauchen allerdings mehr und nicht weniger davon. Ein ‚Weniger’ und schließlich ein ‚Zu wenig’ führt zum Ausschluss und für Mitarbeiter/innen in sozialen Arbeitsfeldern schließlich zur Verwaltung und Organisation von ausschließenden Systemen.“ (S. 9)


Der Raum unserer Treffen ist auch ein Raum der GEMEINSAMEN SUCHE nach jeweils aktuellen Themen und Inhalten. Es gibt eine gewisse GRUNDLEGENDE VERUNSICHERUNG bei allen Teilnehmer/innen. Die Situation ist für alle Beteiligten neu und keiner von uns weiß, wo uns der Weg hinführt. Denn die Treffen haben keinen offensichtlichen Zweck und auch KEIN formuliertes ZIEL, auch wenn wir immer wieder der Versuchung unterlagen, ein solches definieren zu wollen, oder die Frage an die Anderen zu stellen, welches Ziel denn diese Treffen für sie hätten. Es hat lange gedauert, bis uns klar wurde, dass es gerade darum nicht geht. Und immer wieder stellten wir uns die Frage, da wir nicht wussten, worauf wir hinauswollten: Was soll das Ganze dann eigentlich? Dass wir mit diesen Treffen nichts erreichen müssen (wollen), scheint eine schwierige Denkfigur zu sein. Dennoch: Es ist gerade das NICHTS-ERREICHEN-WOLLEN, das den tragenden Hintergrund bildet. Und es ist gut, dass auch wir als Profis verunsichert in diese Treffen gehen, die, die wir ja meist so tun (müssen), als wüssten wir, wo der Weg hingeht, so als hätten zumindest wir Handlungssicherheit. Diese kleine Nische der PLANLOSIGKEIT, diese Deprofessionalisierung, tut offensichtlich gut – und dies nicht nur den Heim-Erfahrenen sondern auch uns Profis. Denn in dieser Nische können wir üben, den oben skizzierten Begegnungsraum zu „halten“. Wir sind bei unseren Treffen aufgerufen, professionelle Denk- und Verhaltensmuster von Moment zu Moment in Frage zu stellen und zu reflektieren. Wir lernen, irritierbar zu sein, uns selbst zu stören in den allzu selbstverständlichen Reaktionen. Es scheint immer wieder ein erneutes innerliches Ringen um eine Haltung der Gleichberechtigung, des Respekts und der grundlegenden Akzeptanz der „Verschiedenheit“ zu sein, verbunden mit der permanenten Gefahr des Zurückfallens in alteingespielte Rollen. Die Fallstricke liegen oft im fast Unmerklichen, sei es ein Blick, eine Geste, ein angefangener Satz, der doch wieder ein Besser-Wissen signalisiert. Es ist eine große Chance für uns, Raum und Zeit zu haben, um (ZU)HÖREN zu üben.

Wir danken den beteiligten Heimbewohner/innen und den Heim-Mitarbeiter/innen für ihre Bereitschaft und Offenheit, sich mit uns auf diesen gemeinsamen Weg zu begeben.

Literatur

Angermeyer, M. C. & Kilian, R. (1997). Theoretical models of quality of life for mental disorders. In H. Katschnig, H. Freemann & N. Sartorius (Eds.), Quality of life in mental disorders. Chichester: John Wiley & Sons.

 Czopnik, S. (2005): (K)EIN LEBEN IM HEIM. Biographische Einzelfallanalyse zur Lebenssituation eines Heimbewohners. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Freie Universität Berlin.

Dörner, K. (Hrsg.) (2001). Ende der Veranstaltung. Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie. (Neuausg.). Neumünster: Paranus.

Füller, U. & Nothnagel, B. (2006). Kein Ort. Nirgends. Biografische Einzelfallanalysen zweier als chronisch psychisch krank geltender Frauen aus Berlin, die im Heim leben. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Freie Universität Berlin.

Neumann, M. (2005). „ ... manchmal war es schon anstrengend krank zu spielen!“ Qualitative Untersuchung zur Lebenssituation einer psychisch kranken Frau in einem Heim. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Freie Universität Berlin.

Prager, S. (2006). „Chronisch psychisch kranke“ Menschen in Heimen. Eine biographische Einzelfallanalyse. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Freie Universität Berlin.

Ronowski, H. (2005). „Wenn ich mit meiner Krankheit noch was bewirken kann.“ Biographische Einzelfallanalyse eines Mannes, der in einem Heim für chronisch psychisch kranke Menschen in Berlin lebt. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Freie Universität Berlin.

Schernus, R. & Bremer, F. (2007). Tyrannei des Gelingens. Neumünster: Paranus.

Vock, R., Zaumseil, M., Zimmermann, R.-B. & Manderla, S. (2007). Mit der Diagnose „chronisch psychisch krank“ ins Pflegeheim? Eine Untersuchung der Situation in Berlin. Frankfurt a.M.: Mabuse.

Endnoten

  1. Das Forschungsprojekt wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Manfred Zaumseil (Freie Universität Berlin) und Prof. Dr. Ralf-Bruno Zimmermann (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) mit Rubina Vock als Projektmitarbeiterin) durchgeführt und zum größten Teil von dem Deutschen Hilfswerk finanziert. Der Abschlussbericht wurde 2007 veröffentlicht (Vock, Zaumseil, Zimmermann & Manderla, 2007).
  2. Sebastian Czopnik, Ursula Füller, Martin Neumann, Beate Nothnagel, Stefan Prager und Heike Ronowski.
  3. In diesem Zusammenhang entstanden fünf Diplomarbeiten, siehe Literaturverzeichnis.
  4. Diese waren mit Ausnahme eines Übergangwohnheims Krankenheime, die eine Position zwischen Krankenhaus und Pflegeeinrichtung in der Versorgung chronisch (psychisch) kranker Menschen bekleiden.
  5. Da das Zustandekommen des Workshops überhaupt nur auf Basis dieser gewachsenen persönlichen und vertrauensvollen Beziehungen möglich wurde, wird auch im Folgenden dessen Beschreibung persönlicher, in dem wir namentlich von konkreten Personen und von uns (die Diplomand/innen und die Projektmitarbeiterin, Rubina Vock) sprechen werden.
  6. Die oben angesprochenen Einschränkungen der Privatsphäre (kein eigenes Zimmer, begrenzter und kontrollierter Ein- und Ausgang, kein eigener Schlüssel, kein eigener Briefkasten etc.) ergeben sich zum Teil aus den Aufnahmeindikationen und den institutionellen Strukturen (vgl. Vock, Zaumseil, Zimmermann & Manderla, 2007).
  7. Wie fremd und unverständlich vielen eine solche Beurteilung erscheint, zeigt sich auch darin, dass diese häufig nicht akzeptiert werden kann und eher als eine Form des Sich-Arrangierens bzw. der Anpassung eigener Bedürfnisse an restriktive äußere Bedingungen verstanden wird (vgl. Angermeyer & Kilian, 1997), womit jedoch die Möglichkeit, Menschen könnten mit dieser Lebensform zufrieden sein, negiert wird.
  8. Das Äußern von Unzufriedenheit und das Sich-Wehren gegen diese Lebensform werden häufig auf die psychische Erkrankung zurückgeführt und haben somit oft wieder Restriktionen zur Folge (vgl. Vock, Zaumseil, Zimmermann & Manderla, 2007).
  9. Petra Berlan ist eine der Heim-Erfahrenen, deren Lebens- und Erfahrungsgeschichte Thema einer Diplomarbeit ist. Sie gestaltete den Workshop der GGFP-Tagung aktiv mit.
  10. Petra, die bis heute mit einer ehemaligen Diplomandin in regelmäßigem Kontakt steht, war von unserem Vorhaben sofort begeistert und bereit, sich und ihre Erfahrungen in einen Workshop einzubringen.
  11. Siehe Kapitel 3.1.
  12. Entsprechend unserer Umgangsformen, werden im folgenden Text Petra, Ramona, Volker und Erika mit Vornamen genannt.
  13. Nach vielen Bemühungen war es den Mitarbeiter/innen des Heims endlich gelungen, eine Einrichtung der Wiedereingliederungshilfe zu finden, die bereit war, diese langjährig hospitalisierte und folglich als „nicht integrierbar“ geltende Klientin in einer TWG zu betreuen.
  14. Das geringe Interesse für unseren Workshop enttäuschte uns. Spiegelte sich darin das geringe Interesse, das den Schicksalen dieser Menschen entgegengebracht wird, wider? Und kann dies als Zeichen verstanden werden, dass die im Heim lebenden Menschen auch in der Gemeindepsychologie vergessen werden? Oder konnten sich die Tagungsteilnehmer ebenso wenig wie wir zu Beginn unserer Treffen vorstellen, wie ein solcher Workshop gestaltet werden könnte? Oder war das Thema „Sinnstiftung und Anerkennung und Leben in einem Heim“ zu weit von ihrem eigenen – in der Regel in der gemeindepsychologischen Versorgung verorteten – Tätigkeitsfeld entfernt?
  15. Es handelte sich um die Leiterin, eine Sozialarbeiterin und den Psychologen des Heims, und damit um Mitarbeiter/innen, die nicht zum Pflegepersonal zählen, deren Verhalten oft Thema unserer Vorbereitungstreffen war.
  16. Erika fand – wie auch schon in den Vorbereitungstreffen – wenig kritische Worte und lobte vor allem das Angebot des Heims (Ergo ist gut, Schwimmen ist gut, Kunsttherapie ist gut ...).
  17. Das Gespräch führte Beate Nothnagel.

Autorinnen

Kontaktadresse:

Rubina Vock
Freie Universität Berlin
Center für Digitale Systeme (CeDiS)
Ihnestr. 24
D-14195 Berlin
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailrubina.vock@bitte-keinen-spam-fu-berlin.de


Petra Berlan
Geb. 1967 in Berlin, Ausbildung zur Fleisch- und Wurstfachverkäuferin, später Umschulung zur Bürokauffrau, Selbständigkeit im Bereich Getränkehandel, heiratet 1989, geschieden seit 2003, demnächst (wieder)verheiratet mit Volker Schröder, lebt seit 2004 im Pflegeheim, arbeitet seit 2008 in einer Werkstatt für Behinderte in Berlin im Bereich Digitale Archivierung, Hobbys/ Interessen: Politik, Kochen

Ursula Füller
Geb. 1962. Nach abgebrochenem Medizin-Studium Tätigkeit in verschiedenen Arbeitsbereichen, darunter 10 Jahre als Hotelkauffrau. Studium der Psychologie an der FU Berlin (Abschluss 2007), seitdem in Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin und in der ambulanten Betreuung psychisch kranker Menschen beschäftigt. Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailursula.fueller@bitte-keinen-spam-web.de

Beate Nothnagel
Geb. 1963 in Graz/Österreich, seit 1982 in Berlin, in den 80er Jahren neben dem Sammeln von Lebenserfahrung Studium der Germanistik und Ethnologie an der FU-Berlin (ohne Abschluss) und Musikredakteurin/Moderatorin bei dem Privatsender RADIO 100 in Berlin, heiratet 1987 in Cottbus, geschieden seit 1989, seit 1993 pädagogische Mitarbeiterin in einer Wohnstätte der Lebenshilfe Berlin, berufsbegleitend Ausbildung zur Heilpraktikerin/Shiatsutherapeutin und anschließend Studium der Psychologie an der FU-Berlin (Abschluss 2007), Hobbys/Interessen: Fotografie, Wandern, Buddhismus. Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailb.nothnagel@bitte-keinen-spam-online.de

Ramona Sternitzke
Geb. 1961 in Cottbus, stattlich geprüfte Sekretärin, zunächst berufstätig im Oberstufenzentrum II in Cottbus, danach 12 Jahre Assistentin des Center-Managers im EKZ Lausitzerpark Cottbus, heiratet 1979, geschieden seit 2003, 3 Kinder im Alter von 17, 29 und 30 Jahren, seit 2005 in Berlin, lebt seit 2007 im Pflegeheim, arbeitet seit 2009 in einer Werkstatt für Behinderte in Berlin im Bereich Verwaltung, Hobbys/Interessen: Das Verfassen von täglichen Reflektionen über den Alltag im Heim mithilfe eines Notebooks (aus der Not (des Nichts-zu-tun-Habens) eine Tugend machen).

Rubina Vock
Geb. 1961, nach Abbruch der Schule, Gelegenheitsjobs und längerem Aufenthalt in Italien und Frankreich Geburt der ersten Tochter. Drei Jahre „Vollzeitmutter“, dann Besuch des Zweiten Bildungswegs und 1993 Abschluss der Hochschulreife. Einige Jahre nach Geburt der zweiten Tochter Beginn des Studiums der Psychologie an der Freien Universität Berlin, Abschluss 2003. Anschließend Mitarbeit in verschiedenen Forschungs- und Evaluationsprojekten und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin, Hobbys/Interessen: Afrikanische Percussion, Fotografie und, wenn Zeit bleibt, Lesen. Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailrubina.vock@bitte-keinen-spam-fu-berlin.de



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