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Let's talk about Praxis, baby, let's talk about you and me... Ein Ebenenmodell zur Kommunikation über psychosoziale Praxis

Sebastian Bowe
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Das alltägliche und professionelle Sprechen über psychosoziale Praxis im Allgemeinen und Beziehungsgestaltung im Speziellen, sei es in Teamsitzungen oder informellen Settings, wurde in der psychosozialen und klinischen Praxisforschung bisher weitgehend vernachlässigt. Es läuft mangels Beachtung Gefahr, sowohl in seiner Bedeutung als auch in seiner Komplexität verkannt zu werden. Der Autor plädiert für eine systematischere Reflexion und Gestaltung des "Sprechens über Praxis" seitens der psychosozialen Professionellen und bietet ein Werkzeug in Form eines Ebenenmodells. Das Modell beinhaltet 5 argumentative Ebenen (Grundhaltung, Bedingungen, pädagogisch-therapeutische Ebene, Selbstbezug und Ziele), die um ein jeweils zu konkretisierendes Praxisproblem gruppiert sind. Es werden mithilfe des Modells herausgearbeitete kommunikative Erkenntnisbarrieren beschrieben und Anwendungsmöglichkeiten des Modells zu deren Vermeidung vorgeschlagen.

Schlüsselwörter: psychosoziale Arbeit, Beziehungsgestaltung, Erkenntnisbarrieren, Praxisforschung, Kommunikationsmodell, Teamkommunikation, Sprechen über Praxis

Summary

Let's talk about practice, baby, let's talk about you and me... A communication model for psychosocial practice
Professional and everyday talk about practice in general and "helping relationships" in particular in the social work field hasn't drawn much attention from the academia so far. This neglect entails a lack of explicitly addressing this issue and to elaborate its importance and complexity. The author advocates a more conscious reflection as well as a more active role in the way the "talk about practice" is put into action and offers a five layer model to help systematize professional reflection. It contains the layers "Grundhaltung" (tenor), "Bedingungen" (conditions), "pädagogisch-therapeutische Ebene" (pedagogical-therapeutic layer), "Selbstbezug" (self reference), and "Ziele" (aims) which represent different meta-levels of argumentation. These layers are grouped around the "Praxisproblem" (a professional problem), which needs to be specified by the users. It is demonstrated how communicative barriers to insight can be identified with the model and how it can be used in everyday practice.

Key words: psychosocial practice, "helping relationships", barriers to insight, communication model, team communication, talk about practice



Zu viel Nähe kann Abhängigkeiten schaffen. Sie lässt uns an Beziehungen festhalten, die vielleicht zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht mehr angemessen sind und Ablösung der nächste wichtige Schritt sein sollte. Nähe bringt Verpflichtungen mit sich. Nähe gibt aber auch Sicherheit, schafft Vertrauen, auch das Vertrauen, dass man gesehen wird, dass man gebraucht wird, dass man dem Anderen gut tut. Nähe macht bestimmte Bewegungen überhaupt erst möglich, sie selbst ist es, die uns bewegt, sie ermöglicht gemeinsame Schritte, die vorher undenkbar waren. Nähe bedeutet Verbindlichkeiten, sie bindet uns, bindet uns somit aber auch fest. Sie schränkt uns in unserer Bewegungsfreiheit ein, verringert unsere Beweglichkeit. Daher besteht die Herausforderung im Tanz um das gesunde Verhältnis zwischen Nähe und Distanz.


Diese Gedanken klingen vertraut: eine Reflexion über das Thema der Beziehungsgestaltung, eine Auseinandersetzung über Nähe und Distanz in den Beziehungen von Profis und Klientinnen in der psychosozialen Arbeit (in diesem Artikel werden die männliche und weibliche Form in zufälliger Abwechslung verwendet). Dass diese Beziehungen in der psychosozialen Arbeit eine zentrale Rolle einnehmen ist den meisten ebenso klar wie die Tatsache, dass die Gestaltung dieser Beziehungen, d.h. auch die Regulierung von Nähe und Distanz, eine der Hauptaufgaben der Profis darstellt. Weniger nahe liegend scheint mir aber der Gedanke, diese Beschreibung auch auf eine andere Form von Beziehung anzuwenden, um einen Erkenntnisgewinn für die psychosozialen Praktiker zu erlangen. Daher bitte ich Sie, bevor Sie im Text fortfahren, den ersten Abschnitt noch einmal zu lesen, aber diesmal mit einer anderen Form der Beziehung im Hinterkopf: die Beziehung von UNS (Profis) zu unserem SPRECHEN.

1. Nähe und Distanz bezüglich der Sprache

Das obige Gedankenspiel soll mir dabei helfen, das Ergebnis meiner Forschungsarbeit, ein Ebenenmodell zum systematischen Sprechen über Praxis, vorzustellen. Es soll deutlich werden, dass es wichtig ist, die Beziehung zu unserem "Sprechen über..." aktiv zu gestalten, anstatt sie dem Zufall, der Situation oder der Routine zu überlassen. Ich werde der Frage nachgehen, ob es einen wertvollen Impuls geben kann, wenn wir die Übertragung der Nähe-Distanz-Metapher auf das Sprechen vornehmen. Zwei Gedanken erscheinen hier für mich durchaus fruchtbar, wobei der erste sich um eine zu große Distanz, der andere um eine zu große Nähe zum Sprechen dreht. Beginnen wir in großer Ferne und gehen dann ganz nah ran.

In ganz großer DISTANZ sehe ich die im akademischen Mainstream der Psychologie vorherrschende Sprache, die von einem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis (vgl. Zaumseil, 2006) und einer quantitativen Methodologie dominiert ist, einhergehend mit einer Biologisierung der Wissenschaftsdiskurse (vgl. Gergen in Mattes und Schraube, 2004). Die Sprache des naturwissenschaftlichen, quantitativen Mainstreams ist weit von den Bedürfnissen der Praxis entfernt. Auch in der Klinischen Psychologie zeigt sich eine große Distanz in der Sprache: Es wird hauptsächlich über psychisch Kranke (Stichwort: Medikalisierung, Zaumseil, 2006) und therapeutische Techniken (Stichwort: Manualisierung, Auckenthaler, 1997) gesprochen, weniger über die psychologische Tätigkeit und Menschen mit einzigartigen Biographien und komplexen Lebensproblemen, weniger über Beziehungsgestaltung, weniger über institutionelle Bedingungen, weniger über uns Profis selbst, unsere Gefühle und Erfahrungen, unsere Normen und blinden Flecken. Wir Profis tauchen kaum als Menschen in Beziehungen auf, sondern eher als abstrakte Ausübende von Techniken. Es ist, als ob es nur eine entfernte Beziehung gäbe zwischen der Sprache der Theorie und uns Profis bzw. der Praxis, z.B. im psychosozialen Arbeitsfeld. Versuche ich meine Beziehung zur Sprache der akademischen Psychologie zu beschreiben, muss ich leider feststellen, dass mein Vertrauen darin, dass sie ausreichend Werkzeuge für mich bereithält, die ich zur Bewältigung meiner Probleme als psychosozialer Profi brauche, sehr angeknackst ist. Ich bin sogar eher der Auffassung, dass wichtige Impulse durch die vorherrschenden Denk- und Sprechweisen unterdrückt werden (vgl. Bowe et al., 2009). Manchmal erscheint sie mir wie eine Zweckehe, die ich mit der Sprache eingehe, in dem Bewusstsein, dass ich sie auch brauche, um meinem Umfeld zu zeigen, dass ich ein Profi bin, dass ich Theorien kenne und mit ihnen umzugehen weiß. Zu einer Sprache, von der ich annehme, dass sie nicht das bereit hält, was ich zur Bewältigung meines Lebens (meines Berufes) brauche, werde ich vermutlich immer eine distanzierte Beziehung pflegen.

Nun aber ganz nah ran: Der zweite Gedanke führt gleichzeitig näher an das Thema dieses Artikels, nämlich das "Sprechen über Praxis" im psychosozialen Tätigkeitsfeld. Er lautet, dass in der psychosozialen Versorgung eher eine zu große NÄHE zu unserem "Sprechen über Praxis" besteht. Diese große Nähe zeigt sich darin, dass wir oft davon überzeugt sind, dass unsere Konzepte wirksam sind, darin, dass die Begriffe, mit denen wir hantieren, etwas "auf den Punkt bringen", dass wir treffende Beschreibungen von den Problemen unserer Klienten erzeugen und uns selbst in den Erzählungen über die Praxis wieder finden. Die Kehrseite liegt nun meines Erachtens darin, dass die Nähe nun eben auch "zu groß" werden kann und zwar, wenn wir nicht mehr hin und wieder irritiert sind von der Art und Weise, wie wir sprechen oder wie wir argumentieren. Darin, dass Sprache zu selten zum Spielen oder zum Basteln verwendet wird, sondern vor allem zum "Ernst machen". Darin, dass wir immer wieder vergessen, dass jede Beschreibung, die wir äußern, eine Konstruktion mit bestimmten Potenzialen aber eben auch Grenzen ist. Die Beziehung zwischen uns und unserem Sprechen wird zu eng, wir fangen an, von ihr abhängig zu werden, wenn wir zu sehr auf unsere eigenen Erklärungen für unser Verhalten oder das Verhalten anderer vertrauen. Diese Abhängigkeit zeigt sich u.a. darin, dass wir Argumente bzw. Positionen verteidigen, da wir das Gefühl haben, dass unsere eigene Legitimation als Professionelle mit ihrer Schwächung in Gefahr geraten würde. Somit kann es passieren, dass lieb gewonnene Sprechweisen nicht mehr überprüft werden, vielleicht weil sie unsere Legitimation als Profis sichern oder weil sie den Konstruktionen unseres Selbst schmeicheln. Wir fühlen uns dank ihrer sicher, da sie uns das Gefühl vermitteln, eine gewisse Kontrolle über unser Tun zu haben und gute Arbeit zu leisten.

2. Das Sprechen über Beziehungsgestaltung

Im Laufe meines Forschungsprozesses gelangte ich von dem Ausgangspunkt, die Praxiskonzepte zur Beziehungsgestaltung in einem Team im betreuten Wohnen zu untersuchen, hin zu der Frage, wie die Praktiker eigentlich über ihre Praxis sprechen. Den empirischen Kern meiner Forschungsarbeit bildet eine durch Einzelgespräche vorbereitete Gruppendiskussion zum Thema Beziehungsgestaltung innerhalb eines Teams im betreuten Wohnen für junge Erwachsene. Ein Diskussionsabschnitt, in dem es um den Umgang mit der (Un-)Pünktlichkeit von Klienten ging, war mir bereits sehr zu Beginn des Auswertungsprozesses besonders ins Auge gesprungen, da er besonders intensiv und kontrovers geführt war. Mir schien das Thema Pünktlichkeit in der Betreuung intuitiv ein recht simples zu sein und war somit erstaunt, dass es einen so großen Raum bei einer Diskussion über Beziehungsgestaltung einnahm. Als ich diesen Eindruck mit Kommilitonen und Praktikerinnen teilte, bekam ich immer mehr den Eindruck, dass dieses Thema geradezu ein Klassiker in vielen Bereichen der psychosozialen Versorgung ist. Was habe ich daraus geschlossen? Nicht, dass alle Generationen von Klienten zur Unpünktlichkeit neigen und auch nicht, dass es keinen Umgang mit diesem Problem von professioneller Seite gäbe. Sondern: Sprechen über Praxis ist der Art, dass immer wieder bestimmte argumentative Sackgassen auftreten können, dass Themen immer wieder durchgekaut werden und trotzdem innerhalb von Teams ungelöst bleiben. In einer Beziehungsbegrifflichkeit ausgedrückt könnte man sagen, dass sich in die Sprechgewohnheiten gewisse Marotten eingeschlichen haben, die wir selbst kaum wahrnehmen, wenn wir uns in unseren alltäglichen Kommunikationskontexten bewegen. Wie in zwischenmenschlichen Beziehungen auch, können diese Marotten um besonders heikle Punkte herum aufgebaut werden, so dass bedrohlich (erscheinende) Themen umschifft werden (z.B. unterschiedliche Normvorstellungen der Profis oder grundlegende Widersprüche zwischen der eigenen Arbeitsweise und der eigenen Grundhaltung). Oder sie können aus Mangel an Abstand heraus entstehen, der es ermöglichen würde, Themen und Argumente neu zu betrachten und zu überprüfen (vgl. Crepeau, 2000). Diese Marotten in den Beziehungen zu unserem Sprechen möchte ich im Folgenden in Anlehnung an Riemann (2003) "Erkenntnisbarrieren" nennen.

Um diese Erkenntnisbarrieren zu erkennen und aus dem Weg zu räumen halte ich es für sinnvoll die Beziehung zu unserem Sprechen so bewusst wie möglich zu GESTALTEN, so wie wir es in den Beziehungen zu den Klienten versuchen. Der Beitrag, den die Wissenschaft dabei liefern kann ist der, den Praktikerinnen dabei zu helfen, Vertrautes wieder fremd zu machen:


"If we are to develop the capacity of practitioners to evaluate whether they want to change tacit aspects of their practice, we need techniques to help them make familiar strange." (Hall & White, 2005, S. 389)


Um diese Verfremdung oder Distanz herbeizuführen und als Teil des professionellen Alltags etablieren zu können braucht es Zeit, Bereitschaft und Methoden bzw. Werkzeuge. Zeit und Willen kann ich im Rahmen meiner Forschungsarbeit nicht bereitstellen, dafür aber ein Werkzeug: Es handelt sich um ein Ebenenmodell, das sich auf konkrete Praxisprobleme anwenden lässt. Es erleichtert sowohl die moralischen, professionellen, gesellschaftlichen als auch persönliche Argumente zu ordnen und zueinander in Bezug zu setzen, um daraus ein zielführendes Handeln zu entwickeln.

3. Das Ebenenmodell - Ein Angebot zum Sprechen über Praxis

Das Ebenenmodell ist ein Versuch, die Beobachtungen in Worte (und ein Bild, s. Abb. 1) zu fassen, die mir im Forschungs- und Auswertungsprozess aufgefallen sind und sich als zentral herausstellten. Das Forschungsvorhaben war von Beginn an von dem Wunsch bestimmt, den Praktikern, bei denen ich die Möglichkeit hatte zu forschen, etwas zurückzugeben, das idealerweise hilfreich für die betreuerische Tätigkeit sein sollte. So kam ich im Laufe des Prozesses immer mehr vom ursprünglichen Gedanken ab, eine Rekonstruktion der subjektiven bzw. kollektiven Praxistheorien zur Beziehungsgestaltung im Team zu versuchen, hin zu dem Gedanken ein Werkzeug für die (gemeinsame) Reflexion über die eigenen Praxistheorien zu entwerfen.

Die Auswertung orientierte sich an der Grounded Theory und hatte ein Kategoriensystem zum Ergebnis, das auf 5 Ebenen heruntergebrochen wurde (s. Abb. 1). Die Ebenen bezeichnen Argumentationsebenen, auf die sich die Argumente der Praktiker beziehen lassen. Sie wurden in ein Modell integriert und dienten in der Folge als Grundlage zur Analyse einiger Abschnitte in der Gruppendiskussion. Ich wertete Aussagen der Diskutanten nicht nur hinsichtlich ihres konkreten Inhalts aus, sondern betrachte sie vor allem als Verweise auf unterschiedliche Ebenen. Beispielsweise verweist die Aussage, einem mache die Arbeit Spaß, auf die Ebene des Selbstbezugs, die Aussage, Menschen bräuchten Grenzen hingegen auf ein Menschenbild und somit auf die Ebene der Grundhaltung. Diese Ebenen integrierte ich in das untenstehende Modell und gruppierte sie um ein jeweils zu konkretisierendes Praxisproblem herum.

Schaubild 1: Ebenenmodell

Die Ebenen werden nun im Einzelnen kurz vorgestellt.

Die Ebene der Grundhaltung: Auf diese Ebene verweisen beispielsweise Äußerungen, in denen etwas über das Wesen des Menschen ("Jetzt mal ganz überspitzt, eh son Kasernenhof, wo des Regelwerk n absolutes ist und es gibt irgendwie so gar keine Form von Einflussmöglichkeiten, kann nicht sonderlich produktiv sein für die Entwicklung von Menschen") und über allgemeine kontextunabhängige Vorstellungen über den eigenen Beruf gesagt wird ("Es ist wichtig, dass man des ausm Herzen raus macht, oder dass man davon überzeugt ist was man durchsetzen will").

Die Ebene der Bedingungen: Auf diese Ebene verweisen Äußerungen, in denen gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen anklingen. Ein Beispiel ist folgendes Zitat: "Ja sicherlich gibt es Situationen, wo du pünktlich sein musst, weil nicht jeder hat die Möglichkeit, so flexible Arbeitszeiten zu haben. Also wenn ich mir angucke, wie viele Betriebe mit Stechuhren es gibt, irgendwie, oder zumindest die Ausbildung, wo dann nach zehn Minuten streckenweise die Tür abgeschlossen wird, und wenn du das nicht schaffst, da nicht pünktlich zu sein. Gibt einfach Situationen, da musst du pünktlich sein, so."

Die pädagogisch-therapeutische Ebene:
Auf diese Ebene verweisen Äußerungen, die etwas über die subjektiven pädagogischen und therapeutischen Konzepte und Strategien und die Umsetzung derselben aussagen. So verweist folgende Aussage auf das therapeutische Konzept des "gemeinsamen Tuns": "Wenn ich mich mit ihm zusammen hinsetze und Gitarre spiele ist das auf einmal weg und dann~ hats ne ganz andere Qualität. So gesehen, glaub ich dann, Gemeinsames zu tun is ganz wichtig."

Die Ebene des Selbstbezugs: Auf diese Ebene verweisen beispielsweise Äußerungen, in denen der jeweilige Sprecher seine Biografie, seine Eigenheiten ("Ich halt mich ja jetzt eigentlich sonst für jemanden, der eher mal n bisschen aufpassen muss, dass er nicht den Leuten zu sehr auf die Pelle rückt, bin ja irgendwie sehr schnell dabei, irgendwie auch jemanden mal zu packen"), Lebensweisen ("Bei mir gibt's fuffzehn Minuten Knautschzone, weil ich die auch hab") oder seine Gefühle ("das nervt mich, wenn jemand zu spät kommt") zum Thema macht.

Die Ebene der Ziele: Auf diese Ebene verweisen Äußerungen, die etwas über die allgemeinen Ziele der Betreuung und die konkreten Handlungsziele in einer Praxissituation aussagen, wie zum Beispiel das Vorhaben, in einer Situation als Vorbild für den Betreuten zu fungieren. Das Ziel definiert das Praxisproblem mit, da unterschiedliche Intentionen der handelnden Betreuerin unterschiedliche Situationsdefinitionen implizieren.

Das Ebenenmodell kann meines Erachtens auf unterschiedliche Weisen in die Praxis überführt werden, die ich hier nur andeuten werde, da sie in Abschnitt 5 genauer ausgeführt werden.

  1. zur Ordnung der eigenen Gedanken
  2. als metakommunikatives Werkzeug im alltäglichen Sprechen über Praxis
  3. als Ausgangspunkt zur Besprechung eines konkreten Praxisproblems

Um den Nutzen besser zu verstehen und um besser nachvollziehen zu können, was ich mit dem Modell gemacht habe, halte ich es aber für sinnvoll, zunächst einige meiner Ergebnisse darzustellen.

4. Erkenntnisbarrieren

In meiner Forschungsarbeit nutzte ich das Ebenenmodell dazu, eine Sequenz besonders eingehend zu untersuchen. Sie handelte von dem Umgang mit der Unpünktlichkeit der Bewohnerinnen in der Einrichtung. Ich werde zunächst beschreiben, welche Aspekte mir in der Diskussion aufgefallen sind und dann analysieren, in welcher Form diese Eigenschaften des "Sprechens über Praxis" zu Erkenntnisbarrieren werden können.

Das ist mir aufgefallen:

1. Zunächst fiel mir die komplexe argumentative Einbettung auf, die die meisten Themen in der gesamten Diskussion erhielten. So ging es in der Auseinandersetzung über den richtigen Umgang mit der Unpünktlichkeit der Bewohner nicht nur um ein Abwägen unterschiedlicher pädagogischer oder therapeutischer Handlungs- und Wirkkonzepte. Ebenso wurden Bezüge zu gesellschaftlichen Bedingungen (Ausbildungs- und Arbeitsmarkt), zu institutionellen Bedingungen (Verfügbarkeit der Betreuer), zu moralischen Fragen (Grundhaltungen: Anpassung vs. Nicht in einen Rahmen zwängen) und zu unterschiedlichen Lebensweisen ("ich bin immer pünktlich, das ist für mich ein Zeichen von Respekt" vs. "Ich hab da ja selber fünfzehn Minuten Knautschzone") der Betreuerinnen, sowie zu Gefühlslagen innerhalb der diskutierten Situation hergestellt.

2. Die Ebenen wurden häufig gewechselt.

3. Mit den Ebenenwechseln erfolgte eine ständige Verschiebung des Bezugsrahmens. Es bestanden zahlreiche, sich inhaltlich widersprechende Positionen sowohl innerhalb (Ebene der Grundhaltung: Fit machen für die Gesellschaft vs.. nicht in einen Rahmen zwängen) als auch zwischen den Ebenen.

4. Diese Ergebnisse stellen an sich keine Erkenntnisbarrieren dar. Es sind notwendige und wünschenswerte Eigenschaften alltäglicher und auch professioneller Kommunikation, dass beispielsweise unterschiedliche Positionen bezogen werden, dass komplexe Bezüge hergestellt werden und dass zwischen den handlungsrelevanten Ebenen gewechselt wird. Allerdings können die genannten Punkte zu Erkenntnisbarrieren werden, wenn sie unbemerkt bleiben und somit der Reflexion nur schwer zugänglich sind.

Wie können daraus nun Erkenntnisbarrieren entstehen?

1. Die komplexe argumentative Einbettung birgt die Gefahr, dass man sich verliert, dass man ständig vom Konkreten ins Allgemeine wechselt, dass Argumente gegeneinander angeführt werden, die nicht aufeinander beziehbar sind ("das nervt mich, wenn der zu spät kommt" vs. "die machen die Tür zu bei der Ausbildung, wenn die nicht pünktlich sind"). Vor allem aber können daraus Erkenntnisbarrieren resultieren, wenn die Komplexität übersehen bzw. ignoriert wird. Das kann dazu führen, dass der Auseinandersetzung mit Praxisproblemen nicht genug Relevanz und Zeit eingeräumt wird. Natürlich kann es nicht nur vorkommen, dass die Komplexität übersehen wird, sondern ebenso kann ein Praxisproblem aufgeblasen und in einer Ausführlichkeit verhandelt werden, die den Blick auf den zentralen Aspekt verstellt.

2. Die Verschiebung des Bezugsrahmens durch Ebenenwechsel kann zu Erkenntnisbarrieren führen, wenn auftauchende Gegensätze dadurch aus dem Fokus gerückt werden und die eigentlichen argumentativen Widersprüche nicht deutlich bzw. nicht ausgetragen werden. Das Gespräch schreitet voran, ohne dass die aufgetretenen Widersprüche aufgelöst oder festgehalten werden. Widersprüche, die zwischen unterschiedlichen Argumenten bestehen, werden durch eine Verschiebung des Bezugsrahmens überdeckt, indem einfach ein neuer Bezugsrahmen hergestellt wird. In einer Sequenz äußern die Praktiker unterschiedliche Konzepte (pädagogisch-therapeutische Ebene) darüber, warum die Bewohner außerhalb der Einrichtung zu spät kommen. Ein Betreuer begründet das mit: "weil wir da auch nicht so genau sind" während eine andere dagegen hält, dass es wohl eher daran läge, dass "die hier so lange im Bett bleiben dürfen, wenn sie gerade nichts zu tun haben". Hier liegt der Fokus auf der Wirksamkeit des eigenen betreuerischen Handelns. Die Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Wirkkonzepte gerät aber aus dem Fokus, als daraufhin angeführt wird, es komme darauf an, "dass man sein persönliches Profil raus stellt" und es nun um den eigenen Umgang und die eigenen Einstellungen geht. Mein Eindruck war an manchen Stellen auch, dass die Argumente additiv aneinandergereiht wurden, um von der eigenen Position zu überzeugen. Die Argumente wurden dann nach dem Motto "wenn das eine nicht zieht, dann versuch ich es halt mit dem anderen" ins Feld geführt und somit austauschbar. Die Diskussion folgt dann eher einer Logik der Verteidigung von Positionen (dafür vs. dagegen) anstatt einer Sachlogik, die das Abwägen einzelner Argumente und Handlungsweisen zum Ziel hätte.

3. Eine besonders zentrale Erkenntnisbarriere ist die häufig uneindeutige Definition des Praxisproblems. Die Definition des Problems "Unpünktlichkeit der Klientinnen" mag auf den ersten Blick eindeutig erscheinen, aber ich frage mich, ob denn alle Situationen, in denen Klienten unpünktlich sind, gleich sind, oder ob eine Differenzierung notwendig ist. Wenn in der Auseinandersetzung unterschiedliche Situationen auftauchen ("aber gestern mit dem Bert war das so und so...") kann das als Hinweis auf unterschiedlich zu definierende Praxisprobleme gedeutet werden. So kann Unpünktlichkeit bei Bert in der einen Situation als ein Kampf um Autonomie in der Betreuer-Klient-Beziehung gewertet werden, bei Franka aber als schiere Verplantheit. Auch dies trägt zu der bereits angedeuteten gleichzeitigen Verhandlung idealerweise zu trennender Probleme bei.

4. Die Ebene der Ziele empfand ich als nur schwer fassbar, da sie interessanterweise nur sehr selten explizit in der Diskussion auftauchte. Sie wurde eher implizit mitverhandelt, was bei mir den Eindruck hinterließ, dass in vielen Fällen von einer Einigkeit bezüglich der Betreuungsziele ausgegangen wurde. Erst relativ spät in der Pünktlichkeitsdiskussion wurde die Ebene der Ziele explizit angesprochen, wobei deutlich wurde, dass die Einigkeit gar nicht unbedingt gegeben war. Es wurde einige Male betont, es ginge darum, dass die Klienten "pünktlich, wenn nötig" sein können müssten, darüber hinaus schien aber Uneinigkeit zu herrschen, wann die Klientinnen dies "brauchen". (J: "Ja, ich glaube, das hängt aber noch damit zusammen, was der Klient braucht sozusagen. Also ich würd jetzt nicht jemand auf Pünktlichkeit triezen, wenn ers nicht braucht. Aber wenn ich weiß, dass es für ihn wichtig ist..." S: "Was heißt denn, ob er's braucht oder nicht? Wann brauchste Pünktlichkeit?" J: "Wenn du irgendwie Verbindlichkeiten hast, sozusagen." S: "Na sachma, is nicht jede Beziehung, die ich eingehe, ne gewisse Form von Verbindlichkeit?"). Während es in der Argumentation von J darum geht zu unterscheiden, wo Pünktlichkeit notwendig ist und wo nicht, erweitert S die Notwendigkeit auf alle Situationen, da jede Beziehung Verbindlichkeit bedeute, was unterschiedliche Betreuungsziele impliziert. Diese Beobachtung kann in engem Zusammenhang mit der eben festgestellten unklaren Definition des Praxisproblems gesehen werden. Wenn, anstatt über unterschiedliche Betreuungsziele, über unterschiedliche Konzepte und Lebensweisen diskutiert wird, geht der Fokus dafür verloren, dass unterschiedliches professionelles Handeln möglicherweise durch unterschiedliche Handlungsintentionen in der konkreten Situation bedingt sein kann und nicht aufgrund unterschiedlicher Konzepte.

Bedingungen, die das Entstehen von Erkenntnisbarrieren begünstigen

Das Auftreten dieser Erkenntnisbarrieren überrascht nicht, wenn man sich überlegt, unter welchen komplexen Bedingungen das "Sprechen über Praxis" im psychosozialen Arbeitsfeld geschieht. Ein paar der möglichen Gründe möchte ich hier diskutieren. Der banalste scheint mir, dass das "Sprechen über Praxis" (oder etwas Vergleichbares) keinen Raum in Studien- oder Ausbildungsordnung einnimmt. Zwar wird hin und wieder diskutiert, aber eine explizite Auseinandersetzung mit dem eigenen Sprechen über Praxis findet nicht statt.

Eine zentrale Bedingung von Erkenntnisbarrieren ist meines Erachtens eine in weiten Teilen sehr präsente Defensivität, die das Sprechen über Praxis prägt (vgl. Holzkamp, 1988). Sie behindert eine öffentliche Diskursivierung der weitgehend impliziten "personalisierten" Praxistheorien, in denen akademische Theorien, individuelle Praxis- und Lebenserfahrungen und institutionelle Reproduktionsbedingungen verschmelzen. Vielmehr sehen sich die Praktiker einem Legitimationsdruck ausgesetzt, dem sie sich unter Berufung auf anerkannte Theorien zu entziehen suchen. M.E. nimmt derzeit der Legitimationsdruck eher zu als ab, im Einklang mit einer "Medikalisierung von Theorie und Alltagspraxis auch in gemeindepsychiatrischen Bereichen" (Weise, 2002) und dem stärkeren Eindringen quantitativ-naturwissenschaftlicher Denk- und Sprechweisen in den Bereich psychosozialer Praxis (Stichwort: evidence based practice, vgl. Tanenbaum, 2005).

Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass im psychosozialen Arbeitsfeld unterschiedliche Professionen (in einem Team) aufeinander treffen, die mit unterschiedlichen Konzepten und Sprechweisen erst einmal zu einer gemeinsamen Sprache finden müssen. Das Finden dieser gemeinsamen Sprache wird umso schwieriger, je defensiver die Bedingungen für das Sprechen sind. Riemann (2003) liefert mit seiner Analyse von Fallbesprechungen in einem multiprofessionellen Team ein Beispiel für eine Erkenntnisbarriere: die "Blockierung von Erkenntnisprozessen in Folge einer mit der Statuszugehörigkeit verbundenen kognitiven Arbeitsteilung" (S. 253). Hier ist die Kommunikation bestimmt durch "professionsstatusbezogene Defizit- und Kompetenzzuschreibungen":


"Auf jeden Fall wird die argumentative Erkenntnisdynamik in einer Fallbesprechung behindert, wenn sich die Teilnehmer/innen unterschwellig an einer solchen Arbeitsteilung orientieren: dem Recht auf psychologische "Wahrsprüche" auf der einen Seite und der Selbstbeschränkung auf bloß "sozialarbeiterische" Ratschläge auf der anderen Seite." (S. 254)


Ich möchte auch noch ein paar andere Einflussfaktoren auf unser Sprechen erwähnen, da sie meines Erachtens für die Verwendung des Modells sprechen. Da wäre einmal der Aspekt, dass das Sprechen über Praxis, beispielsweise innerhalb eines Teams, durch unterschiedliche Logiken beeinflusst wird. Wie bereits angedeutet verlief die Diskussion an vielen Stellen nicht nach der inhaltlichen Logik der Argumente, was u.a. durch die unsystematischen Wechsel zwischen den Ebenen deutlich wurde. Natürlich erfüllt das Sprechen über die Praxis nicht nur die Funktion des Erkenntnisgewinns. Riemann (2003) zählt weitere Funktionen auf, die er bei der Analyse von transkribierten Fallbesprechungen herausarbeitete. Es gehe um


"gemeinsame argumentative Erkenntnisbildung, (...) Ad hoc-Entlastung, Bestärkung und Tröstung der Falleinbringerin oder die Ratifikation - die Bestätigung - eines heiklen Handlungsschemas, um sich abzusichern; um den gemeinsamen Versuch der Wiederherstellung einer brüchig gewordenen kollektiven Gefühlsordnung oder auch schlicht um die Bereitstellung von Informationen und Empfehlungen." (S. 248)


Mit anderen Worten, die Logik der Erkenntnisbildung muss sich die Arena teilen mit der Logik der Legitimation, des Teams, der Institution, der Situation, der Routine und der Identität. So beschreibt Holmes (2005) das Sprechen und Erzählen über Praxis am Arbeitsplatz als Ressource zur Integration persönlicher, professioneller und sozialer Identitäten. Diese Komplexität des alltäglichen Sprechens macht es notwendig, sich genügend Zeit und Raum zu nehmen um die eigenen Konzepte zu diskutieren und zu konkretisieren. Hier kann man das Modell dazu verwenden, um dem Sog der anderen Logiken entgegenzuwirken, indem man die Diskussion, wenn dies nötig ist, auf die inhaltliche Ebene lenkt.

Des Weiteren ist das Tätigkeitsfeld durchzogen von unterschiedlichen Diskursen (medizinisch, psychotherapeutisch, juridisch ökonomisch und sozialpsychiatrisch, Quindel, 2004), die sich sowohl ergänzen als auch theoretisch unvereinbare Implikationen mit sich bringen. In diesem Zusammenhang kann das Modell hilfreich sein, indem es das konkrete Praxisproblem als Ausgangspunkt und dauerhaften Bezugspunkt anbietet. Dies erleichtert es, die unterschiedlichen diskursiven Implikationen auf eine konkrete Situation zu beziehen und sie in ihren Widersprüchen sichtbar (werden) zu lassen.

Wie man dabei vorgehen kann, möchte ich im Folgenden darstellen.

5. So, let's talk... (Eine Gebrauchsanweisung)

Das Modell selber impliziert weder konkrete Schritte, noch führt es zu dieser oder jener bevorzugten Lösung. Es ist ein Werkzeug zum "Sprechen über Praxis" mit bestimmten Stärken und Schwächen. Als Stärken sehe ich, dass es sehr grundlegende Ebenen ins Gedächtnis ruft und gleichzeitig am konkreten Problem ausgerichtet ist. Dies kann aber ebenso als Schwäche ausgelegt werden, da das Ebenenmodell sehr grob ist und somit nicht sehr spezifisch in seiner Anwendung. Die grobe Struktur des Modells erleichtert es hingegen, es in die Praxis zu überführen. Es kann nur eines von vielen Werkzeugen sein. Es bietet sich an, um unsere professionellen Werkzeuge, also z.B. unsere therapeutischen Konzepte, zu schärfen.

A) Als Reflexionswerkzeug für die individuelle Reflexion über Praxis

1. Unter Anwendung des Modells können Sie, wenn Sie sich oder anderen beim Argumentieren zuhören, für sich selber bewusster die Ebenen trennen. Somit können Sie sich von der Gesprächsdynamik distanzieren. Dabei soll das Modell als verinnerlichte Reflexionsfolie dienen, anhand derer die eigenen Gedanken sortiert werden können ("Moment, waren wir nicht gerade noch bei den Konzepten, wie sind wir denn jetzt zu den Arbeitsmarktbedingungen gekommen?")

2. Sie können Situationen aus der eigenen Praxis reflektieren. Beginnen Sie hierzu am besten, indem Sie sich die (problematische) Situation vergegenwärtigen, also mit der Definition des Praxisproblems. Dann überlegen Sie, was Sie mit dem eigenen Handeln erreichen wollten (Zielebene), wie Sie tatsächlich gehandelt haben und warum Sie so gehandelt haben (die anderen Ebenen). Das können Sie dann mit dem Verhalten kontrastieren, das Sie in ähnlichen oder abweichenden Situationen zeigen oder mit dem Verhalten, das andere Profis in vergleichbaren Situationen an den Tag legen.

B) Als "metakommunikatives Werkzeug" im professionellen alltäglichen "Sprechen über Praxis"

Das Modell als "metakommunikatives Werkzeug" unterstützt dabei, sich die unterschiedlichen Ebenen gegenseitig beim alltäglichen Sprechen über Praxis, in Teamsitzungen oder beim Gespräch zwischen Tür und Angel, ins Bewusstsein zu rufen. Rufen Sie sich gegenseitig "zur Ordnung", indem Sie sich darauf einigen z.B. zunächst die Argumente auf der Ebene der Bedingungen abzugleichen ("Lass uns doch mal gerade bei den Bedingungen bleiben") und dann die Konzepte zu diskutieren. Dabei kann immer wieder der Bezug zu den Handlungszielen und dem Praxisproblem ("worum geht’s hier eigentlich nochmal genau?") hergestellt werden, wodurch leichter vermieden werden kann, über zu viele Themen gleichzeitig zu sprechen.

Das Modell ist somit ein Mittel, um aus der unmittelbaren Gesprächsdynamik auszubrechen und einen anderen Diskussionspfad einzuschlagen, als man es gewöhnlich tut, und somit die gewohnten argumentativen Sackgassen zu vermeiden.

C) Zum Besprechen konkreter Praxisprobleme

Hier wird das Modell verstanden als Gesprächsleitfaden, anhand dessen man sich über ein gewünschtes Praxisproblem austauscht. Von dem Modell ausgehend soll ein (zirkulärer) Prozess in Gang kommen, in dem eine Situation, auf die man sich geeinigt hat, gemeinsam analysiert werden kann. Die einzelnen Schritte könnten folgendermaßen aussehen, wobei natürlich ein Springen zwischen den Punkten sehr sinnvoll sein kann:

  1. Definition des Praxisproblems; so konkret wie möglich, z.B. einzelne oder wiederkehrende Situationen, die Beziehung zu einem Klienten, Unsicherheiten bezüglich eines Handlungsschemas, Uneinigkeiten bezüglich der Grundhaltungen in einem Team,
  2. Bewusstmachung des Handlungs- (und Betreuungs-) Ziels,
  3. Sammlung (und Diskussion) der Argumente auf den verschiedenen Ebenen,
  4. Ausfindig machen der Widersprüche auf den unterschiedlichen Ebenen,
  5. Herstellen von Bezügen zwischen den Ebenen,
  6. Diskussion - Abwägen der Argumente,
  7. Dissens festhalten oder Einigung.

6. ...about you and me

Das Sprechen über Praxis, sei es zwischen Tür und Angel oder in Teammeetings, ist geprägt durch eine zu große Nähe. Das ist die These, die den Ausgangspunkt des Artikels darstellt. Ein Grund dafür ist die Perspektive, Sprechen über Praxis als zu trivial anzusehen, als dass es einen selbstverständlichen Gegenstand empirischer Analysen ausmacht (vgl. Riemann 2003). Das Sprechen wird zu sehr sich selbst überlassen und ist somit sehr unterschiedlichen Logiken unterworfen, die eine gemeinsame Erkenntnisbildung behindern. Um die Möglichkeit zu haben, die inhaltliche Ebene ins Zentrum der Auseinandersetzung zu rücken, bietet sich das Ebenenmodell als ein mögliches Denk- und Kommunikationswerkzeug an. Das kann einerseits eine Distanzierung vom "Sprechen wie gehabt" bedeuten, andererseits ermöglicht es somit eine Annäherung an die eigenen handlungsleitenden Konzepte unter anderen Vorzeichen.

Das Sprechen über Praxis besteht meiner Ansicht nach eben nicht nur darin, die eigenen Praxiserfahrungen in bestehende Praxiskonzepte einzuordnen, sondern eben auch darin, aus den Erfahrungen Theorien und handlungsleitende Konzepte zu generieren. Den Ausgangspunkt können hier konkrete Situationen, Probleme, Ideen, Erfolge, Misserfolge, Haltungen, Zweifel und Gefühle bilden. Somit ist es zwangsläufig auch ein Sprechen über Dich und mich.

Literatur

Auckenthaler, A. (1997). Was bleibt von der Klinischen Psychologie? Medikalisierungsprozesse und ihre Folgen. Journal für Psychologie, 5(3), 63-70.

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Autor

Sebastian Bowe
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Sebastian Bowe studierte Psychologie und arbeitet im Betreuten Wohnen für junge Erwachsene.



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