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"Menschen am Rande der Gesellschaft" - Gedanken über Exklusion und Inklusion. Eröffnen Tagesstätten Lebensräume?

Edith Borchers
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 16 (2011), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Exklusion bezieht sich auf soziale Ungleichheit, die auf strukturierte Abhängigkeitsverhältnisse materieller, sozialer und symbolischer Ressourcen hinweist. Exklusionsprozesse können auch als Bruch von Interdependenzbeziehungen gelesen werden. Exklusionsprozesse, die als Bewegung vom Zentrum zur Peripherie hin zu beobachten sind, zeigen die Tendenz zur Zunahme struktureller Gewalt. Der daraus resultierende Verlust der vergesellschaftenden Kraft gefährdet die Verwirklichung des Grundrechtes eines Lebens in Würde.
Psychisch kranke Menschen, eine von Exklusionsprozessen betroffene Gruppe, können im Rahmen von Tagesstätten versuchen, ihre bereits gesellschaftlich vollzogene Exklusion "mono-kulturell" und "intra-institutionell" zu bewältigen. Dabei stellen sich Fragen, inwieweit Inklusionsleitlinien in den Tagesstätten umgesetzt werden und inwieweit Tagesstättenkonzeptionen gemeindepsychologischen Perspektiven entsprechen.

Schlüsselwörter: Exklusion, Sozialpsychiatrie, Gemeinwesenarbeit, Partizipation, Salutogenese, Grundversorgung, Inklusion

Summary

"People on the margins of society" - Thoughts about exclusion and inclusion. Do day-care centers open up habitats?

Exclusion means social disparity indicating relationships of several dependencies. Exclusion - intended as a process, means moving from centers to peripherals and the rise of controlling by executive authorities. The consequence is a loss resulting from a socializing power endangering inclusion, especially the attitude of human dignity.
Persons with mental disorder(s) are highly concerned from the process of exclusion. In social rooms like day-care centers the persons, concerned of mental disorder, try to cope with their everyday life by practicing ideas of inclusion. This context implicates to ask whether ideas of inclusion will be realized in the day-care centers and whether day-care-center-conceptions correlate with the ideas of community psychology.

Key words: Exclusion, social psychiatry, community work, participation, salutogenesis, fundamental care, inclusion


"Natürlich haben wir hier ambulante Ghettos ein Stück weit, aber sie sind im Stadtteil, die Menschen wohnen zuhause, sie gehen draußen einkaufen. Sie kommen hierher, immer so in der Spannung natürlich zwischen sanfter Chronifizierung und aber auch der Möglichkeit, ein Stück Heimat zu haben und nicht zuhause in den eigenen vier Wänden vor sich hinzuleben und da Stimmen oder paranoiden Ideen ausgeliefert zu sein. Natürlich ist es immer ein Spannungsfeld, natürlich geht's immer drum, mit dem Einzelnen zu überlegen, ist es grad okay so, dass er sich die ganze Zeit aufhält oder wär's nicht vielleicht mal angesagt, dass er vielleicht mal was anderes sucht, und so weiter. Ich glaub', diese Idee darf nie verloren gehen, sonst sind wir auf dem Weg der Institutionalisierung, wie wir's von der traditionellen Psychiatrie her kennen. Aber ich sag' mal, wenn unter der Voraussetzung, dass wir diesen Widerspruch immer wieder präsent haben, es sein kann, dass für jemand diese Räume hier wirklich 'ne Heimat bis zum Lebensende darstellen können, von dem wir's gar nicht denken, und für jemand anders, wo wir denken, für den ist's ja schon ganz wichtig, dass er überhaupt hierher kommt, der dann ungeahnte Fortschritte macht und dass der wieder mehr nach draußen kommt ..." (Herr N., Sozialpädagoge, Interviewausschnitt, 2003, Zeilen 653 - 669).

Einleitung

Welche Assoziationen und Reaktionen lösen "Menschen am Rande der Gesellschaft" subjektiv bei uns aus? In unserem Alltag sind diese Menschen zuhause, bleiben unauffällig, oder sie bewegen sich im öffentlichen Raum und zeigen sich. Sie haben jeweils verschiedene Problemlagen, worin sie sich voneinander unterscheiden. Die Probleme, denen sie ausgesetzt sind, können zu neuen, zusätzlichen Belastungen führen wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungslosigkeit und Erkrankungen - seien sie physisch oder psychisch. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, dass die davon Betroffenen den Erwartungen in der Arbeitswelt, dem Leistungsdruck der modernen Gesellschaft, in der Regel nicht mehr standhalten können. Ausgehend von der These, dass die hier genannten Belastungen exemplarisch auch Ausschlussfaktoren sein können, ist zu überlegen, wo und wie dies im gesellschaftlichen Leben, in der Praxis genauer untersucht werden kann. Im ambulanten psychiatrischen Versorgungsnetzwerk finden sich "Tagesstätten für psychisch kranke Menschen". Hier trifft sich eine bestimmte Randgruppe der Gesellschaft, die den Prozess der Exklusion meist schon hinter sich hat (vgl. Interviewzitat oben). Die Abspaltung von dem "Normalen" hat bereits stattgefunden, in den Tagesstätten finden die Besucher soziale Kontakte und Beschäftigungsbereiche. Sie übernehmen Aufgaben, haben eine Tagesstruktur und sind gesellschaftlich betrachtet in einer modernen Form auch "verwahrt". Insofern schimmert auch in ambulanten, psychiatrischen Hilfeformen eine kustodiale Qualität durch. Darüber hinaus setzen sich psychisch kranke Menschen meist schon lange Zeit mit ihrer Erkrankung auseinander. Sie sind oft alleinstehend. Die Mehrzahl ist arm und lebt sozial isoliert. Eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sollen sie in Selbsthilfegruppen oder in Tagesstätten finden. Wie sehr orientiert sich dieses spezielle Einrichtungsangebot der Tagesstätten für psychisch kranke Menschen, dessen Leitlinien und Alltagspraxis noch vorgestellt werden, an gemeindepsychologischen Prinzipien? Wie sind das integrative Theoriegebäude der Gemeindepsychologie, das sich mit vielen interdisziplinären Zugängen entwickelt hat, und eine Tagesstätte, als eine von vielen Versorgungsbereichen im psychosozialen, ambulanten Versorgungsnetzwerk, miteinander zu verbinden? Mit dem Versuch, eine Beziehung zwischen einem Theorieansatz und der Versorgungspraxis herzustellen, lade ich die Leserinnen und Leser zur gemeindepsychologischen Diskussion ein, um über einige Aspekte zu den Begriffen "Exklusion" und "Inklusion" nachzudenken.

Exklusion

Martin Kronauer stellt in seinem Buch "Exklusion, die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus" (2010) seine Exklusionstheorie am Beispiel westlicher Gesellschaften dar. Er untersucht die Folgen der Umbrüche in Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen, die Rücknahme sozialstaatlicher Absicherungen, den schwindenden Rückhalt sozialer Beziehungen. Er diskutiert die Zunahme von Arbeitslosigkeit und verschiedene Formen von Armut. Weitere Belastungsfaktoren wie psychische Störungen oder Erkrankungen, die unter Umständen auch daraus resultieren können, bleiben bei Kronauer nachrangig.

Einen Teil seiner Untersuchung fokussiert er sozialwissenschaftlich und geht der Bedeutung des Exklusionsbegriffs explizit nach. Gerade weil dieser so uneindeutig ist, untersucht Kronauer unter anderem Unterscheidungskategorien. Er erkennt drei kategoriale Bestimmungen: "erstens die Unterscheidung zwischen zwei Seiten des Exklusionsproblems, Desintegration am Arbeitsmarkt einerseits und Auflösung sozialer Bindungen andererseits; zweitens ein Verständnis von Exklusion als Verlust von Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben; drittens die Betonung des Prozesscharakters von Exklusion" (Kronauer, 2010, S. 44). Die Exklusion als Ausschluss am Arbeitsmarkt und Auflösung sozialer Bindungen zeigt sich bei der Zunahme der Prekarität in der Erwerbsarbeit, das heißt Erwerbstätige können von unsicheren Arbeitsverträgen ausgehend relativ einfach von den bestehenden Beschäftigungsverhältnissen ausgeschlossen werden. Zugleich ist die soziale Einbettung in Familie, in Nahbeziehungen sowie der Zugang zu Institutionen wie Kindergarten, Schule, Kirche, Unternehmen etc. deutlich geschwächt, bis letztlich der gesellschaftliche Ausschluss folgt und die bislang erworbenen Identitäten der Betroffenen gefährdet (vgl. ebd., S. 44-45).

Diese Begriffsklärung von Exklusion geht von der Vorstellung von Inklusion, gesellschaftlicher Zugehörigkeit, aus, die über Einbindung in soziale Beziehungen besteht. Demnach sind die wechselseitigen (meist ungleichen) Abhängigkeiten in Kooperationsverhältnissen geregelt. Auch in den persönlichen Nahbeziehungen besteht eine informelle Verpflichtung zueinander (vgl. Kronauer, S. 45). Individuelle zwischenmenschliche Beziehungen sind gesellschaftlich vorgeformt, entweder normativ verbindlich im Bereich der Erwerbsarbeit oder durch Regeln von Anerkennung und Solidarität im persönlichen Bereich. "Exklusion, als Bruch von Interdependenzbeziehungen verstanden, bezeichnet somit nicht nur ein Problem für die betroffenen Individuen, sondern gleichermaßen für die Gesellschaft. Diese verliert gewissermaßen an vergesellschaftender Kraft" (ebd., S. 45).

Demzufolge sind viele Menschen im normalen Alltag dem Exklusionsprozess unterworfen, sofern sie diesem nicht ausreichend soziale Bindungen und Netzwerke und andere Stabilisierungsfaktoren entgegenzusetzen haben. Im Besonderen stelle ich hier in Bezug auf die Tagesstätten die Frage: Sind deren Konzepte so zu verstehen, dass sie im Kleid von Gesundheitsversorgungsangeboten (als kommunal finanzierte Einrichtungen) versuchen, ersatzweise die verschwundene vergesellschaftende Kraft für eine ausgewählte Zielgruppe auszugleichen? Diese Frage etwas pointierter formuliert als These lautet: Tagesstätten sind ein Setting, das geeignet ist, Exklusionsprozesse zu unterbrechen. Diese These wird uns später konkret bei der Diskussion über die Praxis einer Tagesstätte begleiten, doch zunächst zurück zur Armut als Exklusionsfaktor auf allgemeiner Ebene.

Exklusion, als Verlust von sozialen Teilhabemöglichkeiten, betrifft die Erwerbstätigen, die so wenig Geld verdienen, dass sie nur das Nötigste zum Leben haben. Einen "zur allgemeinen Norm erhobenen Konsumstil", den Mittelschichten praktizieren, können diese Menschen nicht umsetzen. Sie sind gezwungen in Wohnvierteln zu leben, die sich oft als soziale Brennpunkte zeigen; es besteht Machtlosigkeit, zum Beispiel eigene Interessen zur Geltung zu bringen; es gibt keine Chancengleichheit; es besteht eine permanente Unsicherheit bezüglich der eigenen Lebensumstände und das Gefühl, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden (vgl. ebd., S. 46).

Gesellschaft zeigt sich hier als komplex gegliederte Einheit von Ökonomie (Produktion und Reproduktion), Kultur (Orientierungen und Werte), Politik (sozialstaatliche und politische Institutionen, Recht) und Sozialem (hier im engeren Sinn als Qualität verlässlicher sozialer Beziehungen).

Bei allen diesen Benachteiligungen und Hürden haben es die Betroffenen schwer, den eigenen Zielvorstellungen zu folgen und ihre Lebenswege selbstbestimmt zu gestalten. Auch dies bedeutet "Ausschluss von wesentlichen Aspekten gesellschaftlichen Lebens" (ebd., S. 46). Daraus resultiert in der Regel die Erfahrung, "an gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen zu scheitern" (ebd., S. 46).

Es geht um Armut und die daraus resultierenden Haltungen wie Resignation, Minderwertigkeitsgefühlen, Ungerechtigkeiten, manchmal Entwurzelung und Verlust von Zugehörigkeit und Einbindung in einen verlässlichen sozialen Kontext. Auch in den Tagesstätten sind Menschen, die resigniert waren oder sind, die ihren Selbstwert sowie ihre gesellschaftliche Aufgabe anzweifeln, die häufig von Ungerechtigkeit und Entwurzelung betroffen sind. Diese Phänomene werden von medizinisch-psychiatrischer Seite vorzugsweise als weitere Belastungen zusätzlich zur Erkrankung dargestellt, so dass alle Faktoren in den Begriff der subjektiven Störung mit einfließen. Dieses individuell fokussierte Erklärungsmodell öffnet sich zwar auch für Einflussfaktoren von gesellschaftlicher Seite, aber eine gesellschaftlich aktive Bewältigungsstrategie, im Sinne einer gemeindepsychologischen Annäherung, fehlt auch hier. So stellt sich die Frage: Wie könnten gemeindepsychologisch orientierte Handlungsmuster aussehen, um die Betroffenen von ihren Gefühlen des Scheiterns zu entlasten? Fehlt hier ein allgemein anerkanntes gesellschaftliches Konzept, das jeweils subjektiv zugesprochene Problemlagen weniger selbstverschuldet oder individuell schicksalhaft beurteilt? Ein Konzept, das diese Zuschreibung persönlichen Scheiterns auch in den äußeren Rahmen: die Institutionen, die Arbeitswelt, die Gesellschaft stellt? Diese Fragen unterstellen, dass Menschen, die psychisch erkrankt sind, gescheitert seien. Exklusionsprozesse könnten auch umgekehrt betrachtet werden. In diesem Sinne können psychische Erkrankungen nicht als Scheitern bewertet werden, sondern sie können auch als alternative Wege, oder im Sinne von Krise als notwendige Anpassung an eine andere Orientierung betrachtet werden. Mit dieser Position würde der Diskurs um Exklusionsprozesse eine weitere Perspektive sowie eine andere Gewichtung erhalten.

Heiner Keupp leistete auf der Jahrestagung (2010) der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie mit dem Titel "Menschenrechte verwirklichen - Gesellschaft gestalten" in seinem Vortrag über die Zukunftsfähigkeit der Sozialpsychiatrie im globalen Netzwerkkapitalismus Übersetzungsarbeit: "Im Unterschied zu einer sich naturwissenschaftlich verstehenden Psychiatrie schöpft die Gemeindepsychiatrie aus sozialwissenschaftlichen Quellen und muss ihr Selbstverständnis und ihre Handlungskonzepte immer wieder neu an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ausrichten" (Keupp, 2010, S. 4). Er thematisiert auch Individualisierungsbestrebungen versus gesellschaftliche Aufgaben und Herausforderungen und bezieht sich auf Manfred Bleuler, der 1984 an einen jungen Kollegen geschrieben hat, dass nach heutigem Wissen Schizophrenie folgendes bedeute:


"» ... in den meisten Fällen die besondere Entwicklung, den besonderen Lebensweg eines Menschen unter besonders schwerwiegenden inneren und äußeren disharmonischen Bedingungen - welche Entwicklung einen Schwellenwert überschritten hat, nach welchem die Konfrontation der persönlichen inneren Welt mit der Realität und der Notwendigkeit zur Vereinheitlichung zu schwierig und zu schmerzhaft geworden ist und aufgegeben worden ist« (Bleuler 1987, S. 18).
In dieser Formulierung wird Normalität als Produkt harter Arbeit angesprochen, die in der Vereinheitlichung von äußeren und inneren Realitäten zu leisten ist. Manfred Bleuler beschreibt den Kampf um Identität unter schwierigen Randbedingungen" (Keupp, 2011, S. 9).


Diese differenzierte Wahrnehmung einer individuellen Identitätsarbeit berücksichtigt die Störung und die Störungs- und Problembewältigungsleistung. Neben dieser Einzelperspektive möchte ich das gesellschaftliche Konzept, die Leitlinien und Handlungskriterien sowie den Umgang mit Macht und den Zustand von Machtlosigkeit konkreter anschauen. Kronauer spricht dieses Missverhältnis zwischen Macht und Machtlosigkeit in seiner theoretischen Begriffsklärung über "Exklusion und soziale Ungleichheit" an. Er stellt Exklusion und soziale Ungleichheit begrifflich zueinander in Beziehung. Der Begriff Exklusion beinhaltet bereits eine gesellschaftliche Spaltung zwischen Innen und Außen, zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss. Die daraus resultierende soziale Ungleichheit fordert die Politik, und je nach politischer Grundhaltung fallen die Antworten entsprechend unterschiedlich aus, die für die öffentliche Debatte Konflikte und Zündstoff mitbringen (vgl. Kronauer, 2010, S. 50).

Der Exklusionsbegriff eingefügt in das Verständnis von sozialer Ungleichheit sei durch Metaphern von "Zentrum" und "Peripherie" gekennzeichnet. Dazu gehören auch strukturierte Abhängigkeitsverhältnisse in Form von Zugängen zu materiellen, sozialen und symbolischen Ressourcen, die ungleich verteilt sind (vgl. ebd., S. 51). Darunter verstehe ich beispielsweise, dass eine Person, die sich im "Zentrum" bewegt, wesentlich mehr Ressourcen zur Verfügung haben wird, als jemand in der "Peripherie", der zum Beispiel existentielle Bedürfnisse als Hilfebedarf (wie Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung, Arbeitslosengeld- oder Rentenansprüche) klären und beantragen muss. Diese beiden von mir soeben explizit polarisiert dargestellten Positionen können auch als Prozess, als Verschiebung vom "Zentrum" in die "Peripherie" gesehen werden. Dieser Exklusionsprozess kann uns bewusst machen, wie unterschiedlich sich die Machtverteilung zwischen "Zentrum" und "Peripherie" für die Betroffenen anfühlen kann. Hinter diesem Phänomen steht auch eine Form struktureller Gewalt, wenn die Betroffenen dieser Verschiebung an den Rand der Gesellschaft nicht selbstbestimmt, sondern in der Regel administrativ fremdbestimmt folgen müssen.

Zurück zu Kronauer, der Robert Castel zitiert: "Castel zufolge bewegt sich Exklusion entlang der beiden zentralen Achsen von Einbindung in das Erwerbssystem und sozialer Einbindung durch Zonen hindurch (eine Metapher, die die räumliche Dimension im Bild von Zentrum und Peripherie betont): von der Zone der »intégration« über die Zone der »vulnérabilité« bis in die Zone der »désaffiliation« (Castel 1991, S. 148, 139 f.; Castel 1996, S. 775 f.). Exklusion, so verstanden, nähert sich eng dem Begriff der Marginalisierung an" (Kronauer, 2010, S. 51).

Dieses Phänomen der Marginalisierung erscheint mir wesentlich, um - verkürzt dargestellt - zu verstehen, dass Menschen, die sich in der Peripherie bewegen, zugleich marginalisiert, das heißt, dem Zustand der Nutzlosigkeit ausgeliefert sind. Diese Nutzlosigkeit ist soziale Zuschreibung und Lebensgefühl zugleich. Dieses Phänomen: von innen subjektiv gefühlt sowie von außen zugeschrieben zu bekommen, definiert Kronauer als paradox. Daraus folgt, dass die gegenwärtige Gesellschaft kein Prinzip zur Neuzusammensetzung der Gesellschaft enthalte (vgl. ebd., S. 52).

Hier verlasse ich die spannende soziologische Diskussion, um mich auf die Situation der Menschen am Rande der Gesellschaft, im Besonderen auf die Lebenskonzepte der psychisch kranken Menschen zu konzentrieren. Hinführend dazu folgen einige Aspekte über Inklusion.

Inklusion

Wieder kann Heiner Keupp eine gedankliche Brücke bauen: "Das Inklusionsprinzip fordert ein grundlegendes Umdenken: Nicht Nützlichkeit der eigenen Existenz oder deren »employability« ist das Kriterium der Zugehörigkeit, sondern die voraussetzungslose Würde der Person" (Keupp, 2011, S. 6).

Die Staaten, die die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert haben, stehen diesbezüglich in der Pflicht. In diesem Sinne ist jeder Mensch in seiner Individualität von der Gesellschaft zu akzeptieren, mit der Möglichkeit an dieser teilzuhaben.


"Es scheint auf den ersten Blick paradox, ist aber bei genauerer Betrachtung konsequent, dass zeitgleich zur Inklusionsdebatte die einschlägige Fachdiskussion fast ausschließlich über »Exklusion« geführt wird. Das ist insofern konsequent, als damit die Tatsache in den Fokus rückt, dass eine wachsende Anzahl von Menschen sich nicht als dazugehörig fühlt, marginalisiert und aus dem Alltag von Arbeit, Politik, Konsum und Zivilgesellschaft ausgeschlossen ist oder sich so erlebt. Armut ist wieder zu einem zentralen Thema geworden, Begriffe wie »Prekariat« oder »Exklusion« begegnen uns und lassen sich als Indikatoren für eine tief greifende gesellschaftliche Transformation lesen. Die jüngste Weltwirtschaftskrise wird eher noch zu einer weiteren Zuspitzung ungleicher Lebensbedingungen führen und diese Frage weiter radikalisieren" (ebd., S. 6).


Die vehement geführte Exklusionsdebatte zeigt, wie sich im gesellschaftlichen Verhältnis von Exklusion und Inklusion Veränderungen und Umbrüche bemerkbar machen. Sie betreffen aktuell die Erwerbsarbeit, wohlfahrtsstaatliche Regulierungen und auch die sozialen Beziehungen selbst (vgl. ebd., S. 6). Bei Menschen, die letztlich vom Ausschluss betroffen sind, verflüchtige sich auch die Idee der Selbstfürsorge, so Keupp nach Lantermann et al. (2008). Die frühe Psychiatriekritik hat sich an den skandalösen, menschenunwürdigen Zuständen der damals ausgrenzenden Psychiatrie entzündet. Erving Goffman hat uns gezeigt, dass exkludierte Menschen in totalen Institutionen eigene Subkulturen hervorbringen und diese leben. Dagegen stehen die Psychiatriereform sowie die Gemeindepsychiatrie mit dem Verstehensauftrag von psychischem Leid, um die daraus resultierenden Problemlagen zu rekommunalisieren (vgl. Keupp, S. 7).

Ergebnisse dieses Auftrags finden sich exemplarisch bei Klaus Obert und Karin Pogadl-Bakan, die im Raum Stuttgart ein sozialpsychiatrisches Zentrum mit einem komplexen Versorgungsangebot leiten, manchmal auch mitarbeiten und gestalten. In ihrem Artikel "Gemeinwesenarbeit in der Sozialpsychiatrie. Die Herausforderung, den theoretisch-konzeptionellen Anspruch und die Praxis zusammenzubringen" suchen sie nach Antworten und zeigen Zwischenergebnisse, wie diese gesellschaftliche Forderung bereits umgesetzt worden ist. Die beiden Autoren schreiben über den Weg der gemeindenahen Psychiatrie, die als Leitidee bis hin zur Psychiatrie in der Gemeinde, mit Sicherheit nicht nur eine oberflächlich, ideologisch gefärbte Kritik an der Sozialpsychiatrie ist (vgl. Obert & Pogadl-Bakan, 2011, S. 127). Für sie ist die Kernfrage, wie es psychisch kranken Menschen gelingt, "sich im »ganz normalen Alltag« zu bewegen und wie jeder andere Mensch auch die Freiheit zu haben, daran teilzunehmen oder auch nicht" (ebd., S. 127). Sie beziehen sich auf Hans Thiersch, der den Respekt vor dem Anderen und dem Anderssein betont, die Akzeptanz und die Förderung des Eigensinns der Adressaten als Grundlage formuliert für das Verstehen und Handeln des "Menschen im Kontext von Lebenswelt: Sie erscheinen immer im zunächst gegebenen Zusammenspiel sozialer, struktureller und individueller Faktoren, also nicht als gleichsam isoliert, für sich bestehende Individuen, sondern innerhalb eines Sozialen Netzes, in dem sie sich selbst erfahren können" (Thiersch 1996, S. 122/123, in: ebd., S. 128).

Je nachdem, in welchem bundesdeutschen Raum man sozialpsychiatrisch unterwegs ist, treffen wir ehemals aktive Psychiatriereformer und aktuell Sozialpsychiatrie-Engagierte, die diese auch gemeindepsychologische Argumentation vertreten und in den Konzeptionen sozialpsychiatrischer Initiativen und Einrichtungen mit einbringen.

Obert und Pogadl-Bakan heben als Leitlinie sozialpsychiatrischer Arbeit das "Verständnis von Gesundheit und Krankheit mit dem damit verbundenen Menschenbild" hervor, das sich konstitutiv an der Arbeit am und im Gemeinwesen orientiert (ebd., S. 128). Diese Aussage impliziert, dass es auf verschiedenen Ebenen beziehungsweise Dimensionen eine Vielfalt an Signalen und Impulsen zu entdecken gibt. Diese begleiten die Arbeit im Alltag und sind aufreibend und anstrengend zugleich, können aber wiederum auch die bisher ausgeführten Exklusionstheorien bestätigen und zugleich weitere Anregungen geben. Obert und Pogadl-Bakan stellen fest, dass ein lebensweltorientiertes Konzept von einem Menschenbild ausgeht, das Methodik und politische Implikationen leitet und prägt. Die Arbeit mit den einzelnen Personen im Berufsalltag, die sich an den Bedürfnissen der zu versorgenden Menschen orientiert, verfolgt im Wesentlichen das Ziel, das Spannungsfeld zwischen den Aufgaben positiver Routine und der Integration von Neuem zu bewältigen (vgl. ebd., S. 129). Neben dieser individuell-orientierten Unterstützungsform steht auch die gesellschaftliche Leistung dieses Arbeitszugangs: "Sozialpsychiatrisches Handeln nimmt Einfluss auf das Alltagsleben der Adressaten auf verschiedenen Ebenen durch eine wohl durchdachte Gemeinwesenarbeit mit dem Ziel der Veränderung des Gemeinwesens und nicht einer einseitigen Anpassung der Betroffenen an die (oft unzumutbaren) harten, alltäglichen Lebensbedingungen" (ebd., S. 130). Hier war die italienische Psychiatriereform maßgeblich und lieferte mit Franco Basaglia ein Vorbild.

Eröffnen Tagesstätten Lebensräume?

Die bisher theoretisch beschriebene Seite zu Problemlagen von "Menschen am Rande der Gesellschaft", die in der Öffentlichkeit vor allem als individuelle Probleme verhandelt werden und zugleich die Verantwortung von gesellschaftlicher Seite marginalisieren, und auch Paradoxa hervorbringen, soll mit einem Blick in die Praxis erweitert werden. Am Beispiel von Tagesstätten wird diskutiert, inwiefern bestehende gemeindepsychiatrische Angebote Exklusionsprozessen entgegenwirken. Tagesstätten und Tageskliniken sind zwei Versorgungsangebote, die vom Wortlaut ganz ähnlich klingen. Im Unterschied zu Tageskliniken, die als teilstationäre Behandlung vonseiten der Krankenkasse bezahlt werden, sind Tagesstätten Anlaufstellen für psychisch kranke Menschen als kommunales Versorgungsangebot. Tagesstätten eröffnen psychisch kranken und meist psychiatrieerfahrenen Menschen Lebensräume, um aus dem Zustand sozialer Isolation herauszufinden, um einen Schutzraum zu haben, um sich in der Gemeinschaft zu erleben.

Gesellschaftlicher Auftrag von Tagesstätten

Der gesellschaftliche Auftrag von Tagesstätten ist sozialrechtlich verankert und folgt dem sozialrechtlichen Grundsatz "Teilhabe am gesellschaftlichen Leben", der sich als integriertes Versorgungskonzept etabliert hat. Brill schreibt im Hand-werks-buch Psychiatrie im Kapitel "Lebensräume": "Den programmatischen Bezugsrahmen und die Leitlinien für die Reform der psychiatrischen Hilfen bildeten die Empfehlungen der Psychiatrie-Enquête (1975) und das dort formulierte Konzept der therapeutischen bzw. rehabilitativen Kette" (Brill, 19984, S. 139). Neben dem Auftrag sozialer Rehabilitation in Tagesstätten sind auch Lebensräume, wie verschiedene betreute Wohnformen und Patientenclubs, im sozialpsychiatrischen Versorgungsalltag weitgehend selbstverständlich geworden. Tagesstätten als freiwilliges Angebot für psychisch Kranke, hier als Angebot für Menschen mit einer seelischen Behinderung, ergänzen in der Reihe komplementärer Dienste das klinische Behandlungsangebot.

Nach den Richtlinien des kommunalen Kostenträgers sind folgende Ziele definiert:


"Entsprechend der Zielgruppe der seelisch behinderten Menschen mit ihrem eingeschränkten und schwankenden Leistungsspektrum ergeben sich für Tagesstätten im Wesentlichen folgende Zielsetzungen:

  • Beschäftigungsangebote zur sinnvollen Tagesgestaltung
  • Stabilisierung der vorhandenen Fähigkeiten und Ausbau im Sinne einer wirkungsvollen Hilfe zur Selbsthilfe
  • Entwicklung und Erprobung von tragfähigen Sozialkontakten sowie Eingliederung in das soziale Umfeld.

Wesentliche Strukturmerkmale der Tagesstättenarbeit sind Freiwilligkeit und ein partizipativer Ansatz" (Richtlinien 2008, S. 2).


Das Beispiel einer Münchner Tagesstätte kann diese Vorüberlegungen exemplarisch praktisch illustrieren. Tagesstätten sind Lebensräume, in denen sich im Alltag sehr verschiedene Persönlichkeiten begegnen, einkaufen, kochen, essen, aufräumen, Raum und Zeit gestalten, Ausflüge unternehmen, lesen, malen, handwerken, spielen, philosophieren, musizieren, singen, reisen, sich gegenseitig unterstützen, wie bei persönlichen Erledigungen und Behördengängen. Wer kann wann und wie diese Einrichtung kennenlernen?

Niederschwelligkeit: "Das Kommen und Gehen regelt sich von selbst"

Tagesstätten sind in Bayern vom überörtlichen Sozialhilfeträger, also den Bezirken, pauschal finanzierte Einrichtungen, die auf der Basis eines niederschwelligen Angebots möglichst viele interessierte und hilfebedürftige Personen willkommen heißen sollen. Das Prinzip der Niederschwelligkeit ist am Beispiel dieser Münchner Tagesstätte mit ca. dreißig Förderplätzen gut abzulesen. Pro Monat besuchen ca. achtzig Personen diese Tagesstätte. Das heißt, ein Teil der Besucher nutzt das Tagesstättenprogramm voll umfänglich und andere kommen sporadisch oder nur einmal. Es gibt keine Aufnahmeformalitäten, keine Wartelisten, lediglich diese einfache Komm-Struktur. Diese Fluktuation des Kommens und Gehens der Besucher regelt sich von selbst: Einzelne Besucher kommen nur für kurze Zeit am Tag, zum Beispiel zum Essen, oder nehmen gezielt bestimmte Angebote in der Tagesstätte wahr, und nur manche nutzen das volle Tagesstättenprogramm während der Öffnungszeiten. Die Abrechnung für einen Förderplatz vonseiten der Tagesstätte mit ihrem zuständigen Kostenträger erfordert pro Besucher monatlich mindestens zehn Kontakte zur Tagesstätte. Wenn Besucher weniger als zehn Mal monatlich die Tagesstätte aufsuchen, beispielsweise nur ein- oder zweimal monatlich das Angebot nutzen, können die Tagesstätten diese Inanspruchnahme ihrer Leistungen nur eingeschränkt abrechnen. Für die Besucher selbst entstehen nur Kostenbeiträge in Höhe der Selbstkostenanteile für Mahlzeiten oder Material für kreative Aktivitäten wie Malen oder Handwerksarbeiten.

Richtlinien und Schwerpunktbereiche

Zu den Vorgaben der Kostenträger gibt es sogenannte Rahmenleistungsvereinbarungen für diese regionalen Angebote. Ich beziehe mich hier exemplarisch auf den Kostenträger Bezirk Oberbayern, der diese Richtlinien als Zielvereinbarungen beschrieben hat und fünf Schwerpunktbereiche unterscheidet:

  1. Die Erstkontakte sind mit dem Auftrag einer Klärung zu verbinden. Daraus resultieren oft auch Beratungsgespräche. So werden zum Beispiel im Sinne einer Clearingstelle wohnungslose Menschen an Notschlafstellen weitergeleitet, bekommen je nach Hilfebedarf Unterstützung vonseiten sozialpsychiatrischer Dienste und anderer gesundheitlicher Dienststellen.
  2. Manche Personen des Besucherkreises nutzen die Kompetenzen der Mitarbeiter zur Sozialberatung. Diese Beratungsfunktion ist vergleichbar mit den Beratungen anderer sozialer Dienste, sei es in ambulanten oder in stationären Einrichtungen.
  3. Tagesstrukturierende Angebote können den Hilfebedarf der Bereiche Selbstversorgung und Freizeitgestaltung abdecken.
  4. Die Besucher können im Rahmen der ergotherapeutischen Angebote wie Kunsttherapie, Sport und Bewegung, Gedächtnistraining zielorientiert ihren Interessen und Hobbies nachgehen sowie neue Kompetenzen erwerben. Auch berufliche (Neu-)Orientierung kann hier Thema sein.
  5. Diese oben genannten jeweils einrichtungsbezogenen Leistungsangebote dieser Tagesstätte sind in einem Verbund überregional mit anderen Tagesstätten organisiert. In einem festgelegten Jahresrhythmus werden im Rahmen der Verbundstreffen die Erfahrungen des Praxisalltags mit den Richtlinien, Zielvereinbarungen und so weiter ausgetauscht und verglichen. Bei Bedarf werden die gültigen Konzepte der sich verändernden Haltung dem sich verändernden Unterstützungsbedarf der Tagesstättennutzerinnen und -nutzer angepasst.

Die Leitlinien zur Leistungserbringung in den Tagesstätten für seelisch behinderte Menschen in Oberbayern orientieren sich an den Vorgaben des SGB IX zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie umfassen:

  • ein ganzheitliches Krankheitsverständnis;
  • ein dynamisches Behinderungsverständnis;
  • eine personenzentrierte Leistungserbringung, die genderbezogen auch kulturelle Hintergründe der Person berücksichtigt;
  • Ressourcenorientierung und Empowerment;
  • Normalisierungsprinzip;
  • Freiwilligkeit;
  • Beziehungskontinuität;
  • Gemeindenähe;
  • Niedrigschwelligkeit;
  • Salutogenese und Hilfe zur Selbsthilfe (vgl. Rahmenleistungsbeschreibung 2008, S. 3).

Die Praxis ist konsequent an diese Richtlinien gebunden. Sie prägen den Tagesstättenalltag. Die Kontrolle über die Umsetzung der Richtlinien in die Praxis ist im Rahmen von Qualitätssicherung, Arbeitskreisen, Dokumentationsformen und Ähnlichem sichergestellt. Das Leben in der Gemeinschaft, in der sich unterschiedliche Persönlichkeiten aus vielen Kulturkreisen treffen, stellt im Alltag Herausforderungen an alle. Immer wieder ist ein Umdenken und Anpassungskompetenz der Einzelnen sowohl vonseiten des Mitarbeiterteams der Tagesstätte als auch vonseiten des Besucherkreises gefragt. Insofern verdienen die Begriffe "Genderorientierung" und "kultursensible Psychiatrie" eine besondere Aufmerksamkeit. Die Genderorientierung ist bedeutsam, weil die Themen psychisch kranker Frauen und psychisch kranker Männer häufig sehr unterschiedlich sind und zugleich divergieren. Die jeweils oft auseinanderstrebenden Bedürfnisse erfordern besondere Toleranz und Rücksichtnahmen. Die unterschiedlichen Bedürfnisse bergen auch Konfliktpotentiale, die im Gemeinschaftsleben mit ausgehalten oder bearbeitet werden müssen. Der Begriff der "kultursensiblen Psychiatrie" resultiert aus der Vielzahl von unterschiedlichen Nationalitäten und deren Kulturen, die im Tages-stättenalltag zusammentreffen und eine Rolle spielen (wie zum Beispiel beim Einkaufen, Kochen und den Mahlzeiten).

Das Inklusionskonzept: Mitspracherechte, Qualitätssicherung, Benchmarking

Das Prinzip Empowerment wird einrichtungspolitisch in Form des Werkstattrats umgesetzt. Der Werkstattrat ist die offizielle Interessenvertretung der Klientinnen und Klienten und besteht aus gewählten Besucherinnen und Besuchern der Tagesstätte. Die Wahlen finden im regelmäßigen Turnus von zwei Jahren statt, analog zu den Vorgaben im Heimgesetz (den Heimbeiratswahlen und der -verordnung). Wahlberechtigt sind alle Tagesstättenbesucherinnen und -besucher, die mindestens vier Wochen lang am Tagesstättenprogramm teilgenommen haben. Neben der Vertretung der Klienten beziehungsweise der Besucher ist die Aufgabe des Werkstattrats, bei verschiedenen tagesstättenspezifischen Entscheidungen mitzubestimmen. Dazu gehören das Tagesstättenprogramm, die Öffnungszeiten, die Immobiliengestaltung der Tagesstätte, wie die Auswahl des Mobiliars, die Vergabe von Stiftungsgeldern und zunehmend auch die Mitwirkung bei Neuaufnahmen von Tagesstätteninteressierten. Der Werkstattrat übernimmt bei den neuankommenden Tagesstättenbesucherinnen und -besuchern auch Aufgaben als Mentor. Bei Personalentscheidungen hat der Werkstattrat keine Stimme. Insgesamt geht die Entwicklung dahin, dass der Inklusionsgedanke in der Praxis umfassend realisiert wird, weil "Inklusion" laut UN-Behindertenkonvention rechtlich einklagbar ist. Die Bundesinteressenvertretung der Nutzerinnen und Nutzer von Wohn- und Betreuungsangeboten im Alter und bei Behinderung (BIVA) e. V. ist seit 1974 ein Selbsthilfeverband, der in diesem Bereich kompetente Unterstützung leistet.

Zur Qualitätssicherung dient das Prinzip des Benchmarking. Dieser zunächst wirtschaftlich geprägte Begriff wird in einigen Tagesstätten umgesetzt. Dabei wird die Zufriedenheit des Besucherkreises im Einrichtungsalltag gemessen. Ein Beurteilungskriterium dafür ist zum Beispiel, wie umfangreich das Mitspracherecht in Anlehnung an die Aufgaben des Werkstattrats vonseiten des Besucherkreises genutzt wird (siehe oben). Auf diese Weise können Fehler in der Konzeption korrigiert werden. Hier geht es vor allem um ein Miteinander auf der Basis von Gegenseitigkeit sowie darum, eine ressourcenorientierte und insgesamt fördernde Kultur zu pflegen.

Je mehr sich die Einzelnen im Kreise der anderen Besucher wohlfühlen, integrieren, selbst bestimmen, mitentscheiden und agieren, umso lieber werden sie wiederkommen und sich in der Gemeinschaft engagieren. Viele reizvolle Zusatzangebote aus dem Wochenprogramm wie Entspannungstraining nach Jacobsen, Ergomalen, Gehirnjogging, spezielle Gruppenangebote und Gemeinschaftsaktivitäten decken die Komplexität des Angebots ab. Allerdings fehlen bei dieser Beschreibung diejenigen, die die Tagesstätte nicht mehr besuchen, weil sie der erste Kontakt abgeschreckt haben könnte. Laut Auskunft der Tagesstättenleitung sei es ein Erfahrungswert, dass manche Besucher öfter kommen müssen, um einen Zugang in diesen sozialen Raum zu finden. Die regelmäßige Teilnahme am Tagesstättenprogramm kann die Vorgabe der "Teilhabe am gesellschaftlichen Leben" einlösen. Auch wenn bei manchen Besucherinnen und Besuchern der Vergleich Leben in einem ambulanten Ghetto versus Leben in Bezirkskrankenhäusern der Vergangenheit (vgl. Anfangszitat) die Grenzen dieses Ziels verdeutlicht.

Seit 2009 ist laut UN-Behindertenrechtskonvention für alle Menschen mit Behinderung Inklusion umzusetzen. Im Sinne eines modernen Verbraucherschutzgesetzes ergänzen das "Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz" das Heimgesetz. Beide sind die rechtlichen Grundlagen, um Inklusion (anstelle von Integration) im Leben behinderter Menschen in deren Lebensalltag zu verwirklichen. Heiner Bielefeldt, Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, argumentiert in seinem Essay "Zum Innovationspotential der UN-Behindertenrechtskonvention", dass es in der Natur der Sache liegt, "dass das menschenrechtliche Empowerment von Menschen mit Behinderungen stets gegen beide komplementäre Formen der Entrechtung - Ausgrenzung wie Bevormundung - gerichtet sein muss. Positiv formuliert: Es geht um soziale Inklusion auf der Grundlage individueller Autonomie und damit zugleich um freiheitliche Gestaltung des Zusammenlebens in Gesellschaft und Gemeinschaften. Der Begriff der Inklusion ist ein Kernbegriff der Behindertenrechtskonvention" (Bielefeldt, 2009, S. 11). Die Wiedergabe für Inklusion, die im Deutschen meist mit "Integration" übersetzt worden ist, wertet Bielefeldt als problematisch, Fachleute und Behindertenverbände weisen diese Übersetzung zurück. Obwohl die Differenz von "Integration" und "Inklusion" nicht genau zu bestimmen sei, steht fest, "dass die Behindertenrechtskonvention über einen traditionellen Integrationsansatz hinausweist" (ebd., S. 11).

Ausblick

Im Berliner Manifest 2011 (ein Text für die Berliner Fachtagung zur zukünftigen regionalen psychiatrischen Versorgung) sind Tagesstätten als Beispiel milieutherapeutischer Leistung und Grundversorgung aufgelistet (vgl. Berliner Manifest 2011). Tagesstätten stellen gesellschaftlich einen Schonraum für meist arbeitslose, psychisch kranke Menschen dar. "Jeder Mensch will notwendig sein" war der Titel einer sozialpsychiatrischen Tagung zum Thema: "Neue Chance für das Recht auf Arbeit aller psychisch Kranker und Behinderter", die Klaus Dörner als Herausgeber 1994 in einem Tagungsband dokumentiert hat. In diesem Sinne könnten einige Tätigkeitsbereiche und Aufgaben im Tagesstättenalltag auch als Alternative zur Arbeitswelt der Erwerbsgesellschaft betrachtet werden. Wie bereits der Titel dieses Artikels ankündigt: Tagesstätten eröffnen Lebensräume - mit oder ohne ambulanten Ghettocharakter. Die Frage, ob Tagesstätten als Einrichtung Exklusionsprozesse unterbrechen oder gar unterbinden können, ist eher zu verneinen. Der Eindruck ambulanter Ghettos wirkt nach.

Trotzdem als Versuch: Wenn wir dem Umkehrschluss folgen und Tagesstätten - gemeindepsychologisch betrachtet - als Orte sehen, von denen gesellschaftliche Veränderungsimpulse ausgehen können, sind Tagesstätten Orte, die Empowerment fördern. Sie sind Sozialräume interdisziplinären Handelns, das sich um Gleichwertigkeit aller Personen und Disziplinen bemüht und anders als in klinischen Versorgungsstrukturen keine hierarchische Unterordnung verfolgt. Tagesstätten sind Orte des Eigensinns, Orte zur Förderung des Kohärenzsinns, Orte unterschiedlicher Phänomene und Möglichkeiten, sie können Exklusionsprozesse stören, einschränken und aufhalten. Tagesstätten bieten Zeit und Raum, um gesellschaftliche Alternativen zu antizipieren. Wenn die enge Verknüpfung von Individualität und sozialer Bezogenheit und die Anerkennung des Eigensinns gelingen, repräsentieren sie auch gelungene Rekommunalisierungsprozesse. Im politischen Sinn könnte ein Rekommunalisierungsprozess - wie hier exemplarisch vorgestellt wurde - dazu einladen zu überlegen, wie sich eine Gesellschaft an den schwächsten Mitgliedern orientieren kann. Sowohl hinter den Exklusionsprozessen als auch in der Inklusionsdebatte gibt es Zusammenhänge, deren Konturen erst bei genauerer Untersuchung - auch ihrer Widersprüche - gesellschaftspolitisch bedeutsam sind. Wenn es nicht gelingt, die Gleichwertigkeit aller Menschen und ihrer Rechte im gesellschaftlichen Leben zu realisieren, wird zunächst gesellschaftliches Unbehagen impliziert und Reaktionen mit der Bandbreite von Resignation bis hin zur sozialpolitischen Sprengkraft provoziert. Eine Aufhebung der Exklusionsprozesse (vgl. Kronauer, 2010) wäre eine Aufhebung der Marginalisierung, wenn Sozialräume sowohl zentral als auch in der Peripherie gleichgewichtig(er) werden. Meines Erachtens brauchen wir eine konstruktive Vernetzung der beiden Diskurse über Exklusion(sprozesse) und Inklusion(sziele), um zukunftsfähige und gesellschaftliche Konzeptionen neu zu entwickeln.

Literatur

Bielefeldt, H. (2009). Zum Innovationspotential der UN-Behindertenrechtskonvention. Essay 5. Bonn, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. PDF-Version verfügbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/.../essay_no_5_zum_innovationspotenzial [Zugriff am 13.11.11].

Bleuler, M. (1987). Schizophrenie als besondere Entwicklung. In K. Dörner (Hrsg.), Neue Praxis braucht neue Theorie. Ökologische und andere Denkansätze für gemeindepsychiatrisches Handeln. Gütersloh: Verlag Jakob van Hoddis, S. 18 - 25.

Brill, K.-E. (19984). Wohnen. "Ein Bett ist keine Wohnung". In: Th. Bock & H. Weigand (Hrsg.) (19984), Hand-werks-buch Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie Verlag, S. 136 - 176.

Dörner, K. (Hrsg.) (1994). Jeder Mensch will notwendig sein. Neue Chance für das Recht auf Arbeit aller psychisch Kranker und Behinderter. Gütersloh: Verlag Jakob van Hoddis.

Forum für Gesundheitswirtschaft e. V. (2011). Berliner Manifest 2011. Zum Management des regionalen psychiatrischen Hilfesystems für psychisch kranke Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen. Verfügbar unter: http://www.fachtagung-psychiatrie.de/index.php/berliner_manifest_2011.html [Zugriff am 14.02.2011].

Keupp, H. (2011). Wie zukunftsfähig ist die Sozialpsychiatrie im globalen Netzwerkkapitalismus? In Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (Hrsg.) (2011), Soziale Psychiatrie, Nr. 132, 35. Jg., Heft 2. Walldorf: Integra Services, S. 4 - 9.

Kronauer, M. (20102). Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt, New York: Campus Verlag.

Obert, K. & Pogadl-Bakan, K. (2011). Gemeinwesenarbeit in der Sozialpsychiatrie. Die Herausforderung, den theoretisch-konzeptionellen Anspruch und die Praxis zusammenzubringen. In F. Fink & Th. Hinz (Hrsg.), Inklusion in Behindertenhilfe und Psychiatrie. Vom Traum zur Wirklichkeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag, S. 127 - 150.

Richtlinien zur Förderung von Tagesstätten für seelisch behinderte Menschen (2008). Verfügbar unter: http://www.bezirk-oberbayern.de/Gesundheit [Zugriff am 09.02.2011].

Rahmenleistungsbeschreibung Tagesstätten für seelisch behinderte Menschen (2008). Verfügbar unter: http://www.bezirk-oberbayern.de/Gesundheit [Zugriff am 09.02.2011].

Autorin

Dr. phil. Edith Borchers
Diplom Sozialpädagogin
c/o Psychiatrisches Krisen- und Behandlungszentrum
Atriumhaus
Bavariastraße 11
80336 München
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-MailEdith.Borchers@bitte-keinen-spam-t-online.de

Tätigkeitsbereiche: Sozialberatung, Gruppenleitung, Entlassplanung und Nachsorge, Krisenintervention, Sozialtherapie, Langzeitbegleitung; Lehrauftrag an der Hochschule München.



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