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Sexualisierte Gewalt und Armut

Peter Mosser
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 16 (2011), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Auf der Basis von Praxiserfahrungen wird dafür plädiert, die sozioökonomischen Bedingungen, unter denen sexuelle Gewalt stattfindet, in jedem Einzelfall genau in Betracht zu ziehen. Der Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt und Armut wird nicht als linear sondern als kumulativ hypothetisiert: Sowohl soziale Ausschlussdynamiken als auch Schamgefühle beinhalten in solchen Fällen eine Tendenz zur wechselseitigen Verstärkung. Bewältigung erfordert die Maskierung massiver Scham, wobei das Risiko für das Auftreten dysfunktionaler Reaktionsmuster erhöht wird. Außerdem sind Menschen, die sowohl von Armut als auch von sexualisierter Gewalt betroffen sind, anfällig für irrationale Zuweisungen innerhalb überforderter Hilfesysteme. Im Falle von innerfamiliärer sexualisierter Gewalt wird argumentiert, dass ökonomische Faktoren bei der Aufrechterhaltung von Inzestsystemen eine bedeutende Rolle spielen können. Im Zusammenhang mit der Genese überdauernder Risikokonstellationen sind wechselseitige Dynamiken zwischen sexualisierter Gewalt und Armut in den Blick zu nehmen.1

Stichwörter: Sexualisierte Gewalt, Armut, Inzestsysteme, Scham, Ausschluss

Summary

Sexualized Violence and Poverty

Experiences from clinical practice suggest a need to take into account the socio-economic circumstances of sexual abuse. The relationship between sexual abuse and poverty is hypothesised to be cumulative, not linear, i.e. social exclusion and shame tend to reinforce one another. Coping requires masking enormous shame, thereby enhancing the risk for dysfunctional reactions. In addition, persons who are afflicted by poverty and sexual abuse face a heightened risk of inappropriate placement within social welfare systems. It is also argued that economic factors contribute to sustaining incest. It is important to consider the connection between sexual abuse and poverty to understand how persistent risk conditions arise.

Key words: Sexual abuse, poverty, incest systems, shame, exclusion

Einführung

Anfang des Jahres 2010 gingen zahlreiche Berichte über sexuelle Misshandlungen an Kindern und Jugendlichen in vielen kirchlichen und pädagogischen Institutionen Deutschlands durch die Medien. Eine systematische Auseinandersetzunge mit den sozialen Umständen der aufgedeckten Gewaltexzesse blieb aber aus. Es war zwar die Rede von Eliteschulen und Einrichtungen für Besserverdienende, aber die Chance, sexualisierte Gewalt in ihrer jeweils sozialen Einbettung einer differenzierten Untersuchung durchzuführen, wurde nicht aufgegriffen. An diesem letzten Punkt setzen meine Überlegungen an. Sie gründen unter anderem auf dem Verdacht, dass sich ein breiter öffentlicher Diskurs über sexualisierte Gewalt vor allem auch deshalb etablieren konnte, weil sowohl Täter als auch Betroffene jenen Gesellschaftsschichten zuzurechnen sind, die gemeinhin als akzeptiert, ja sogar respektiert bzw. respektabel gelten (worin schon eine erste Aussage darüber impliziert ist, dass es auch andere gibt, denen diese Attribute nicht ohne weiteres zugestanden werden). Es wurde die Erkenntnis bestaunt, dass sexualisierte Gewalt "inmitten unserer Gesellschaft", ja sogar auf der Ebene ihrer Eliten stattfindet. Auf diese Weise konnte eine Stimmung der allgegenwärtigen Betroffenheit und Beklemmung erzeugt werden. Sexualisierte Gewalt gilt als ein inzwischen sehr gut erforschtes Phänomen. Umso erstaunlicher ist es, dass Zusammenhänge zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit einerseits und sexualisierter Gewalt andererseits im deutschsprachigen Raum bislang kaum empirisch untersucht wurden. Es wirkt so, als müsse sexualisierte Gewalt aus ihren Kontextbedingungen herausgelöst werden, um empirisch behandelt werden zu können. Ungeachtet der Frage des tatsächlichen Ausmaßes an sexualisierter Gewalt innerhalb verschiedener sozialer Schichten möchte ich im Folgenden einige Überlegungen zum Erleben und zur Bewältigung sexualisierter Gewalt vor dem Hintergrund von Armut zur Diskussion stellen. (Es soll dabei nicht der Eindruck von Armut als homogener Existenzbedingung erweckt werden; vielmehr geht es darum, jene Aspekte von Armut zu beleuchten, die im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt von Bedeutung zu sein scheinen). Daran anschließend werde ich mich mit familiendynamischen Aspekten befassen und schließlich diskutieren, wie die Zugänglichkeit und Inanspruchnahme von Hilfen durch von Armut gekennzeichneten Lebensumständen beeinträchtigt wird. Ziel dieser Analyse ist es, eine Betrachtungsweise sexualisierter Gewalt anzuregen, die die sozioökonomische Lebenssituation der Betroffenen verstärkt mit einbezieht, um auf diese Weise zu einem verbesserten Verständnis dessen zu gelangen, was uns diese Betroffenen zeigen.

Fallbeispiel 1: Dusan

Eines Tages erzählt der siebenjährige Dusan seinem Vater, Herrn Z., von sexuellen Misshandlungen, die dessen aktuelle Lebensgefährtin an ihm verübt habe. Dusans leibliche Mutter lebt in einer weit entfernten deutschen Großstadt. Es ist bekannt, dass sie suchtmittelabhängig war und als Prostituierte arbeitete. Aktuell ist ihr Leben von längeren Psychiatrieaufenthalten geprägt. Dusan hat seine Mutter seit seiner frühesten Kindheit nicht mehr gesehen. Sein Vater, ein Kriegsflüchtling, kümmert sich so gut es geht um seinen Sohn. Mit Gelegenheitsjobs versucht er, sich und das Kind über Wasser zu halten. Dabei kollidieren berufliche Anforderungen regelmäßig mit den Erfordernissen der Kindererziehung. Nach Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs trennt sich Herr Z. sofort von seiner Lebensgefährtin und stellt Strafanzeige gegen sie. Nach mehreren Befragungen des Jungen wird das Strafverfahren eingestellt. Der gerichtlich bestellte Gutachter bescheinigt dem Jungen "mangelnde Aussagetüchtigkeit".

Wir fühlen uns von der Frage bedrängt, welche Bedingungen Dusan vorfindet, um die an ihm begangene Gewalt bewältigen zu können. Im Rahmen der therapeutischen Arbeit - Dusan ist inzwischen neun Jahre alt - erzählt der Junge eines Tages davon, wie seine Mutter zu Hause wäscht und kocht. Ein anderes Mal kommt er mit neuen Turnschuhen in die Beratungsstelle und behauptet, dass diese "Original Nike" sind und 300 Euro kosten würden. Sein Vater habe sie ihm gekauft, als er vor kurzem in seinem Heimatland war. In der Schule gilt der Junge als "frech, aggressiv und verweigernd". Diese wenigen Szenen können wir zum Anlass nehmen, um uns Dusans Formen der Bewältigung analytisch anzunähern. Wir tun dies vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass Herr Z. an einem Freitag in der Beratungsstelle anrief und verzweifelt darüber klagte, dass er nicht wisse, was er seinem Sohn am Wochenende zu essen geben solle. Es sei kein Geld mehr da. Armut bildet eine konkrete alltägliche Erfahrung für dieses Kind. Diese Armut stellt sich auch relational dar, sie präsentiert sich in scharfem Kontrast zu einer Welt, in der andere 9-Jährige von ihren Vätern 300 Euro teure Turnschuhe geschenkt bekommen. Diese Väter repräsentieren den Typus der hegemonialen Männlichkeit (Connell, 1995), und sie tun dies vor allem deshalb, weil sie in der Lage sind Geld auszugeben, das sich in Symbole der Hegemonie verwandelt: Jacken, Turnschuhe, Mountainbikes, Handys. Im Wettstreit der Wert-Repräsentanzen bleibt Dusan auf der Strecke. Die nicht mehr zu übersehenden Indizien der eigenen Inferiorität scheinen zahllos. Sie fügen sich ein in das Bild des "Prekariats", das in den letzten Jahren verstärkt medial aufbereitet und somit symbolisch konstruiert worden ist. Dieses Bild konstituiert sich (besser gesagt: wird konstituiert) aus Kleidung, Sprachgebrauch, Wohnform, Konsumverhalten, Beziehungsgestaltung und anderen "von außen erkennbaren" Indizien, die zu einer Art "Identität der Armut" vermengt werden. Dusan ist arm und jeder merkt's. Aber nicht jeder merkt, dass es in seinem Leben keine Mutter gibt und dass er in seiner frühen Kindheit traumatisierende Erfahrungen machen musste. Und da ist noch etwas, was nicht jeder merkt und was auch in keine noch so artifizielle Identitätskonstruktion passt: Dusan wurde Opfer sexualisierter Gewalt. Noch dazu durch eine Frau. Und das staatliche Rechtssystem hat ihm die Anerkennung dieser Tatsache versagt. Um ein tieferes Verständnis von der hier beispielhaft beschriebenen Verstrickung von Armut und sexualisierter Gewalt zu bekommen, ist es erforderlich, einige orientierende Begrifflichkeiten einzuführen:

Areale der Nicht-Zugehörigkeit

Die medial inszenierte Konstruktion von Armutsmilieus, die durch die Popularisierung des Prekariats-Begriffs schließlich sprachlich verfestigt wurde, bietet einen Rahmen für negativ konnotierten Zugehörigkeiten. Nachdem Massenarmut als gesellschaftliche Realität nicht mehr zu leugnen war, wurde Armut sozusagen in den Stand eines möglichen Identitätsentwurfs erhoben. Wie Armut in Deutschland aussieht (oder wie sie medial am gewinnbringendsten inszeniert werden kann), kann man sich allabendlich in diversen TV-Doku-Soap-Formaten vor Augen führen lassen. Selbstverständlich geht diese Form der Zugehörigkeit mit einer Reihe von Nicht-Zugehörigkeiten einher. Armut äußert sich primär in einem Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe. Dies bedeutet nichts anderes, als dass sich arme Menschen von vielfältigen Arealen der Nicht-Zugehörigkeit umgeben sehen. Im Falle von sexualisierter Gewalt kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu. Die Erfahrung dieser Form von Gewalt eröffnet zunächst keinerlei Zugehörigkeitsoptionen: Keine negativ konnotierten Zugehörigkeiten und schon gar keine positiven Zugehörigkeiten. (Der Begriff "zunächst" verweist auf eine biographische Dimension: Während für Erwachsene - klassischer Weise im Kontext von Selbsthilfeorganisationen - zumindest prinzipiell Zugehörigkeitserfahrungen erreichbar sind, stehen sexuell misshandelten Kindern keinerlei Skripts zur Verfügung, die die Erfahrung oder das Empfinden von Gemeinsamkeit - zumindest bezogen auf den sexuellen Missbrauch - zulassen würden). Die Erfahrung von sexualisierter Gewalt eröffnet betroffenen Kindern ein grenzenlos anmutendes Areal der Nicht-Zugehörigkeit. Schlingmann (2010) hat eindrucksvoll beschrieben, dass das Ausüben sexueller Gewalt vor allem die Funktion des Ausschlusses erfüllt. Im Zusammenhang mit männlichen Opfern spricht er von doppeltem Ausschluss: Ausschluss aus der Gemeinschaft der Menschen und Ausschluss aus der Gemeinschaft der männlichen Vormachtstellung. Es liegt nahe, dass Bewältigung am ehesten über Erfahrungen von positiver Zugehörigkeit angestoßen werden kann. Hier finden wir einen ersten Hinweis darauf, worin die besondere Problematik des Erlebens von Armut und sexualisierter Gewalt besteht: Es besteht das Risiko, dass betroffenen Kindern ausschließlich Nicht-Zugehörigkeit und negative Zugehörigkeit als (Nicht-)Identitätsoptionen zur Verfügung stehen. Dies wiegt insofern schwer, als Zugehörigkeit eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung sexuellen Missbrauchs und beim Zugang zu Hilfen spielt (Mosser, 2009). Progrediente Verläufe, die von Reviktimisierungen (Kindler & Unterstaller, 2007) und sequentiellen Traumatisierungen (Keilson, zit. nach Kühner, 2007) geprägt sind, sind zu befürchten.

Kumulierte Scham

Das subjektive Korrelat zur Nicht-Zugehörigkeit ist die Scham. Kölling (2009) spricht von Schamattacken als Folge schwerer Beschämungen. Er beschreibt diese als quasi-dissoziative Zustände, die geschlechtsspezifisch überformt sind und sich in Interaktionsstörungen manifestieren. Dieses Phänomen bringt uns die zentrale Bedeutung der Scham im psychischen Erleben von Missbrauchsopfern nahe. Abgedrängt in die existenzielle Bedingung der Armut sind Kinder und Jugendliche dem Risiko einer erhöhten Vulnerabilität für Beschämungen ausgesetzt. Das Erleiden sexueller Gewalt trägt vor diesem Hintergrund mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Potenzierung der Scham bei.

Fallbeispiel 2: Klaus

Im Rahmen meiner Interviews mit sexuell misshandelten Jungen (Mosser, 2009) formulierte ein 17-jähriger Jugendlicher, den ich "Klaus" nannte, eine eindrucksvolle Beschreibung von Scham: "... also gibt ja immer so Vorstellungen von kleinen Jungen oder auch Mädchen, dass, ja dass einfach etwas erreichen und da denkt man sich, jemanden, (...) dem so etwas widerfährt, der kann nichts erreichen. Und das wollte man auch nicht wahrhaben. (...) Man wollte einfach nicht, dass die Persönlichkeit sozusagen, dass man selber damit ein Leben lang geschändet ist und dadurch auch nichts Großes machen oder werden kann" (S. 162). Sich "geschändet" zu fühlen und dadurch im Leben nichts von dem erreichen zu können, was man sich als kleiner Junge erträumt hat, stellt eine Lebensbedingung dar, die von auswegloser Scham gekennzeichnet scheint. Die Familie dieses Jugendlichen lebt weit unter der Armutsgrenze. Klaus hat kein Geld, um ins Kino zu gehen, seine Klamotten wirken abgetragen und durchaus nicht modisch, Urlaubsreisen ins Ausland sind eine Utopie. Und er trägt das Geheimnis der an ihm begangenen sexuellen Gewalt mit sich herum. Die Scham ist für ihn allgegenwärtig: Scham darüber, arm zu sein; Scham darüber, sexuell missbraucht worden zu sein, Scham darüber, kein richtiger Junge zu sein und kein richtiger Mann werden zu können. Und dennoch bietet Klaus ein interessantes Beispiel für Bewältigung. Sein ganzes Streben gilt einem erfolgreichen schulischen Werdegang. Trotz einer mehr als ungünstigen existenziellen Situation schafft er es, seine hochgesteckten Ausbildungsziele zu erreichen. Das letzte, was ich von Klaus hörte, war, dass er an der Universität ein technisches Fach studierte, das äußerst lukrative Berufsperspektiven zulässt. Der junge Mann ist sich bewusst, dass der Ausweg aus der Scham über den Ausweg aus der Armut führt. Implizit ist damit auch eine - sehr aufwändige und nicht ungefährliche - Strategie zur Bewältigung des sexuellen Missbrauchs gemeint: Am Ende dieses langen Weges könnte der kleine Junge, der er einmal war, dann vielleicht mit dem Hinweis getröstet werden, dass er schließlich doch etwas erreicht hat. Trotz allem. Der Weg aus der Armut fungiert dann als eine Art Beweis dafür, dass der sexuelle Missbrauch doch nicht das gesamte Leben zerstört hat. Dies liefert Hinweise dafür, dass unterschiedliche Schamanlässe auf vielfältige Weise interagieren. Sie scheinen sich wechselseitig massiv zu verstärken, aber sie tragen möglicherweise auch das Potential einer "kumulativen Entlastung" in sich. Scham ist ein derart starkes Empfinden, dass es einen gewichtigen Einfluss darauf zu haben scheint, ob sich eine Person als "Nichts" oder als "Jemand" fühlt. Dies hat damit zu tun, dass nicht nur Armut als überdauernde Erfahrung erlebt wird, sondern auch das Erleiden sexueller Gewalt. Die Erfahrung der sexuellen Misshandlung ist zeitlich begrenzt, nicht jedoch die Erfahrung, Opfer zu sein. Nicht umsonst spricht man davon, dass jemand "zum Opfer gemacht" wird. Man "ist" dann ein Opfer. Und zwar im Sinne einer überdauernden Eigenschaft. Genau in diesem Sinne "ist" man auch arm. Die Scham wird daher zur überdauernden Disposition. Die Betroffenen schämen sich nicht, weil sie dies oder jenes getan haben, sondern das Gefühl ist viel grundlegender: Sie schämen sich ihrer selbst. Sie "sind" "arme Opfer".

Masken der Scham

Kölling (2009) verdanken wir auch den Begriff der "Masken der Scham". Damit werden Versuche beschrieben, unerträgliche Schamgefühle abzuwehren. Genauso wie sich Scham als überdauernde Disposition festsetzen kann, können sich auch diese Masken zu stabilen Persönlichkeitseigenschaften formieren. Kölling betont, dass auch diese eine starke Tendenz zu geschlechtstypischen Ausprägungen besitzen. Dusans 300 Euro teure Turnschuhe wirken wie eine überzeugende Metapher dieser Masken: Maskierte Füße eines in Armut lebenden, sexuell misshandelten Jungen. Maskierung ist tatsächlich eine wichtige Strategie in der Bewältigung sexueller Missbrauchserfahrungen. Es ist bekannt, dass viele Betroffene das Gefühl haben, dass man ihnen den sexuellen Missbrauch "anmerkt". Viele reagieren aufgrund dessen mit sozialem Rückzug bis hin zu fast vollständiger Isolation. Andere hingegen unternehmen Versuche, sich als dezidiert "nicht missbraucht" zu inszenieren: Das klassische Beispiel sind betroffene Jungen, die alles daran setzen, ihre Männlichkeit (oder das, von dem sie annehmen, dass es allgemein als Männlichkeit akzeptiert wird) unter Beweis zu stellen (Küssel, Nickenig & Fegert, 1993). Auch Probleme im Zusammenhang mit sexueller Orientierung und sexueller Identität können vielfach als Folge fest gefügter Maskierungen sexueller Opfererfahrungen verstanden werden. Sind Kinder sowohl von Armut als auch von sexualisierter Gewalt betroffen, so sehen sie sich in hohem Maße einem Zwang zur Maskierung ihrer Scham ausgesetzt: Andere sollen nicht merken, dass sie arm sind. Andere sollen nicht merken, dass sie Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Identitätsarbeit gerät unter diesen Bedingungen zu einer fast unlösbaren Aufgabe: "Das, was ich bin, darf ich nicht zeigen. Und das was ich zeige, bin ich nicht." In gewisser Weise stehen alle Menschen vor der Aufgabe, eine möglichst sozial verträgliche Variante ihrer abgewehrten Anteile auf dem Markt der Zwischenmenschlichkeit zur Schau zu tragen, aber bei den jungen Menschen, von denen hier die Rede ist, spielt sich diese Problematik auf einer viel grundlegenderen Ebene ab: Das Trauma der sexualisierten Gewalt kumuliert unter der Existenzbedingung der Armut zu einem extrem wirkmächtigen Identitätsbaustein. Die Scham, die darüber empfunden wird, bedarf vielfältiger Masken, um nicht den ganzen Menschen zu besetzen.

Der Körper als Instrument der Exklusion

Wenn man Schlingmanns (2010) Gedanken vom sexuellen Missbrauch als Mittel zum Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft weiterdenkt, dann führt uns dies zu einer Differenzierung zwischen verschiedenen Instrumenten des Ausschlusses. Ausschluss führt im Allgemeinen zur Nicht-Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen. Prozesse des Ausschließens können, obwohl sie zu ähnlichen Effekten führen, äußerst vielgestaltig sein. Armut mündet auf andere Weise in Ausschlussdynamiken als sexueller Missbrauch. Worin besteht hier der wesentliche Unterschied? Ausschlussdynamiken, die mit Armut verknüpft sind, werden hauptsächlich durch einen Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe vermittelt. Das heißt, dass für Betroffene die Armut in erster Linie durch ihre Folgen spürbar wird: Das, was nicht möglich, nicht erlaubt, nicht erreichbar ist, wirft seine Schatten auf das alltägliche Erleben von Armut betroffener Menschen. Der Prozess des Ausschließens verläuft somit indirekt. Er wird durch bestimmte Codes sozial vermittelt, aber er stellt nur in Ausnahmefällen einen direkten Angriff dar. (Das bedeutet nicht, dass der Entzug von gesellschaftlicher Teilhabe keine aggressive Komponente beinhalten würde, aber diese Aggression wird auf eine Weise vermittelt, die auf den ersten Blick nicht aggressiv wirkt und somit gesellschaftlich konsensfähig ist). Anders stellt sich die Situation dar, wenn man darüber nachdenkt, wie mittels sexualisierter Gewalt gesellschaftlicher Ausschluss funktioniert. Hier ist zunächst bedeutsam, dass die Thematisierung sexualisierter Gewalt ursprünglich gesellschaftspolitisch motiviert war. Der Feminismus identifizierte sexualisierte Gewalt als eine gesellschaftliche Praktik, in der das herrschende Geschlechterverhältnis seinen expliziten Ausdruck fand (siehe dazu z.B. Holmes, Offen & Waller, 1997): Sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen durch Männer wurde von der feministischen Bewegung identifiziert, thematisiert und skandalisiert. Diesen Überlegungen verdanken wir die Erkenntnis, dass sexualisierte Gewalt nicht einfach nur ein interpersonelles Geschehen ist, sondern das der Ausprägung dieser Form der Gewalt bestimmte gesellschaftliche Bedingungen zugrunde liegen. Aber es ist darüber hinaus noch etwas zu beachten: Nicht nur die Ursachen, sondern auch die Auswirkungen sind gesellschaftlich vermittelt. Sie sind eben nicht nur in klinischen Kategorien fassbar, sondern sie manifestieren sich deutlich in einer sozialen Gestalt, nämlich, wie beschrieben, als Nicht-Zugehörigkeit. Das Instrument zur Initiierung des gesellschaftlichen Ausschlusses besteht in der direkten Attacke gegen den Körper. Der Körper des sexuell misshandelten Menschen wird somit unmittelbar zum Feld, auf dem der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Menschen vollzogen wird. Uns ist dieses Verfahren beispielsweise aus Kriegen bekannt (Lenz, 2010), zuletzt beobachtbar anhand der Misshandlungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Auch sexueller Missbrauch an Kindern schließt unmittelbar aus: Indem der kindliche Körper zum Instrument der Bedürfnisse des Erwachsenen wird, ist er in gewisser Weise nicht mehr für das Kind selbst verfügbar. Nicht über seine Körper verfügen zu können, Instrument zu sein für die, die dazu gehören - das sind Bedingungen, unter denen Anrecht auf Teilhabe nicht mehr vorstellbar ist. Das Kind, das sozusagen nicht einmal mehr am eigenen Körper teilhaben kann, kann keine Idee von Selbstwirksamkeit entwickeln. Es gehört nicht mehr dazu. Der instrumentalisierte Körper trägt nicht nur das Stigma des Ausschlusses, er ist gleichsam der Beweis für Nicht-Zugehörigkeit. Das ist das Symbol, das durch Vergewaltigungen vermittelt werden soll, egal ob gegen "feindliche" Soldaten oder gegen Frauen: Ihr gehört nicht dazu (Schlingmann, 2010). Und das ist, was auch sexuell misshandelten Kindern vermittelt wird. Armut einerseits und sexualisierte Gewalt andererseits vermitteln auf verschiedene Weise Prozesse des Ausschließens. Sind Kinder oder Jugendliche von beidem betroffen, potenziert sich das Risiko eines tiefen Gefühls der Isolation. Zu der durch vielfältige Chiffren transportierten sozialen Exklusion kommt noch der instrumentalisierte Körper als Zeichen der Nicht-Zugehörigkeit hinzu. Scham, doppelte Scham, Masken der Scham sind die Begleiterscheinungen einer solchen existenziellen Bedingung.

Fallbeispiel 3: Dietmar

Vollkommen aufgelöst meldet sich Frau F. in der Beratungsstelle und berichtet unter Tränen, dass sie ihren Mann dabei erwischt hat, wie er im Kinderzimmer am gemeinsamen 13-jährigen Sohn Dietmar den Oralverkehr vollzogen hat. Die Konsequenzen, die "nach menschlichem Ermessen" aus einer solchen Beobachtung zu ziehen wären, werden von Frau F. nicht gezogen. Es stellt sich heraus, dass die sexuellen Misshandlungen des Vaters gegen den Sohn schon seit vielen Jahren zum Alltag der Familie gehören. Es scheint nicht sehr wahrscheinlich, dass Frau F. davon nichts mitbekommen hat. An einem bestimmten Punkt, an dem es offenbar nicht mehr möglich war wegzuschauen, hat sich Frau F. ans Hilfesystem gewandt. Was danach folgt, ist aber eine Art Rückwärtsbewegung in die ursprünglichen Verhältnisse: Weder initiiert sie eine Strafanzeige gegen ihren Mann, noch kann sie sich dazu durchringen, sich von ihm zu trennen. Auf Druck des Hilfesystems werden schließlich Maßnahmen im Sinne des Kinderschutzes in Gang gesetzt, aber diese Maßnahmen sind sozusagen "fremdgesteuert" und geschehen nicht im inneren Einvernehmen der Mutter. Frau F. erzählt in der Beratung unter anderem, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht erwerbsfähig und vollkommen abhängig vom Einkommen ihres Mannes ist. Es ist dieser Aspekt, der uns in der Analyse von Inzestsystemen immer wieder begegnet und der in einer rein psychodynamischen Betrachtungsweise solcher familiären Konstellationen häufig übersehen wird: Inzestsysteme haben eine hochrelevante ökonomische Komponente. Diese Feststellung negiert keinesfalls die komplexen psychologischen Dynamiken, die der Entstehung und Aufrechterhaltung solcher Systeme zugrunde liegen, sie verweist aber darauf, dass das solchen Systemen immanente Geflecht von Abhängigkeiten nicht nur auf einer emotionalen Ebene funktioniert. Inzestsysteme sind hermetische Systeme, innerhalb derer schleichende, aber nachhaltige Perspektivenverengungen vonstatten gehen. Dies führt schließlich zu einem Gefühl der Zwangsläufigkeit und Alternativlosigkeit: Es muss so sein wie es ist. Die Bereitschaft, sich sowohl sozial als auch ökonomisch auf alternative Entwürfe einzulassen oder diese wenigstens auszuprobieren, sinkt zunehmend. Mütter, die sich im Interesse ihrer Kinder dafür entscheiden, ein solches System zu verlassen, stehen vor einer anderen, nämlich radikaleren Art von Neubeginn als Mütter aus Nicht-Inzestsystemen, die sich dazu entschließen, sich vom Vater der gemeinsamen Kinder zu trennen. Die beschriebene Perspektivenverengung lässt das sehr konkrete Gefühl entstehen, "verloren" zu sein, wenn man von der Inzeststruktur, die immerhin eine Struktur war, nicht mehr getragen wird. Ganz konkret äußert sich diese Problematik dann, wenn der Täter der "Alleinernährer" der Familie war, was häufig ein konstitutives Element von Inzestsystemen ist. Alleinerziehend, ohne tragfähige berufliche Perspektive, vielleicht noch mit Schulden überladen, die noch vom gemeinsamen Haus stammen - das ist eine häufig beobachtete Ausgangsposition von Müttern, die sich dazu entschlossen haben oder die dazu gedrängt wurden, ein Inzestsystem zu verlassen. Für ihre sexuell misshandelten Kinder folgt dann häufig auf ein Leben in Gewalt und sexueller Ausbeutung ein Leben in Armut. Dies wiederum bedeutet umgekehrt, dass die Vermeidung von Armut ein wesentliches Motiv sein kann, dass Inzestsysteme aufrechterhalten werden. Ich habe vor kurzem ein Beratungsgespräch mit einer Mutter geführt, deren erwachsene Kinder gerade dabei waren, den in ihrer Kindheit erlittenen sexuellen Missbrauch durch den inzwischen verstorbenen Vater aufzudecken. Indem diese Mutter ihre eigenen Verhältnisse mit einer anderen, nicht so begüterten Patchwork-Familie kontrastierte, gebrauchte sie für das eigene System ohne Zögern das Etikett "heile Familie". Nach dieser - sicher nicht unpopulären - Vorstellung gilt eine Familie also so lange als "heil", solange genügend Geld da ist und solange sie zusammen bleibt. Das "Unheil" äußert sich hingegen in Trennung und finanzieller Not. Eine solche Logik wiederum führt uns zu der Idee, dass erst die existenziellen Konsequenzen der innerfamiliären sexuellen Gewalt das gesamte Ausmaß der Katastrophe für die Beteiligten sichtbar machen. Hier liegt auch eine (ökonomische) Erklärung für die Persistenz von Inzestsystemen.

Intergenerationale Dynamiken

Die Verschränkung von sexualisierter Gewalt und Armut verdient eine genauere Betrachtung unter einer Mehrgenerationenperspektive. Es gibt Hinweise, wonach Armut das Risiko erhöht, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden (Douglas & Finkelhor, 2008). Bange (2002) spricht bei von Armut betroffenen Kindern von einer "Schwächung von Widerstandskräften" (S.17): Er nennt exemplarisch eine verstärkte Anfälligkeit für emotionale Zuwendung durch außerfamiliäre Täter. Materielle Angebote (Computerspiele usw…), die ansonsten außer Reichweite sind, werden durch den Kontakt zu Tätern plötzlich verfügbar. Ebenso verhält es sich mit Geldgeschenken. Durch innerfamiliäre Spannungen und soziale Marginalisierung seien auch die Bedingungen für eine Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs zusätzlich erschwert.

Sexuelle Traumatisierungen stellen ihrerseits wiederum einen ernst zu nehmenden Risikofaktor für nachhaltige gesundheitliche Beeinträchtigungen dar. Diese wiederum können die Erwerbsfähigkeit der Betroffenen erheblich einschränken, sodass die sozialen Folgen kindlicher Misshandlungen weit ins Erwachsenenalter hineinwirken können (Weitzman, Knickman & Shinn, 1992; Bassuk et al., 1996). Dies schafft eine Situation, in der für Familiengründungen ungünstige Voraussetzungen vorliegen: Unbearbeitete Traumatisierungen von Eltern(teilen) und prekäre existenzielle Verhältnisse stellen nachweislich Entwicklungsrisiken für Kinder dar (Noll et al., 2009; Kim et al, 2007). Die Geburt von Kindern können Auslöser für die Konfrontation mit eigenen Erlebnissen in der Kindheit sein, die eigentlich als bewältigt galten. In solchen Fällen kann eine riskante Dynamik entstehen, die effektiv zur Anwendung von Gewalt zwischen den Elternteilen und gegen die Kinder und/oder zur Trennung zwischen den Eltern führt (Banyard, 1997; DiLillo, 2001). Der Start ins Leben findet für die betroffenen Kinder unter Bedingungen statt, in denen eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Entwicklungsrisiken zu erwarten ist. Diese hier nur sehr kurz dargestellte intergenerationale Dynamik ist keinesfalls als vorauseilende Stigmatisierung betroffener Eltern zu betrachten. Sie beschreibt eine Risikokonstellation und keine typische Abfolge. Anekdotisch lässt sich aber aus der Beratungspraxis eine auffällige Häufung von alleinerziehenden Müttern berichten, die in ihrer Kindheit/Jugend selbst sexuell traumatisiert wurden und für ihre sexuell misshandelten Kinder Hilfe suchen (siehe dazu auch Bange, 2002; Kim et al., 2007; Noll et al., 2009). Dies stellt keinen empirischen Beleg für die beschriebene Mehrgenerationendynamik dar, sondern ist als Anregung für intensive empirische Auseinandersetzungen mit dieser Thematik aufzufassen. Unter der Bedingung einer auf kindlichen Traumatisierungen basierenden psychischen Belastung Erwachsener stellen Kinder ein zusätzliches Armutsrisiko dar: Durch eine - z.B. durch sequentielle Traumatisierungsprozesse bedingte - Beschränkung von Ausbildungs- und Berufschancen können die für die Versorgung einer Familie notwendigen materiellen Grundlagen von den Eltern nur schwer erwirtschaftet werden. Dies umso mehr, wenn es zur Trennung der Eltern kommt. An dieser Stelle sei wiederum auf die oben beschriebene ökonomische Komponente zur Aufrechterhaltung von Inzestsystemen verwiesen. Ausdrücklich sei in diesem Zusammenhang vor vorschnellen Kausalitätsannahmen gewarnt, wonach sexuell traumatisierte Eltern ein erhöhte Wahrscheinlichkeit besitzen, ihre eigene Kinder sexuell zu misshandeln. Die Zusammenhänge sind komplexer. Die Frage, die hier an empirische Arbeiten zu stellen wäre, lautet: Unter welchen Bedingungen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass betroffene Eltern ihre Kinder sexuell misshandeln? In diesem Zusammenhang ließe sich fragen, ob Armut als vermittelnder Faktor deshalb wirksam werden kann, weil notwendige Bewältigungsressourcen zur Bearbeitung eigener Belastungen (auch im Sinne einer verminderten Zugänglichkeit professioneller Hilfen)2 nicht verfügbar sind.

Fallbeispiel 4: Mark

Der 12-jährige Mark wird seit sechs Jahren in einer Heilpädagogischen Tagesstätte betreut. Von Seiten der Einrichtungsleitung und des psychologischen Dienstes wird nun ein Einrichtungswechsel empfohlen, da Mark in der genannten Zeit "keine erkennbaren Fortschritte" gemacht habe. Mark ist im Alter von 9 Jahren von seinem damals 15-jährigen Bruder Armin sexuell misshandelt worden. Es besteht außerdem der Verdacht, dass auch die stark sehbehinderte Schwester Maria (15) Opfer sexueller Übergriffe ihres älteren Bruders geworden ist. Die Kinder haben drei verschiedene Väter. Zu keinen von ihnen besteht Kontakt. Die Mutter, Frau L., hält sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Armin arbeitet und wohnt in einem Berufsbildungswerk, Maria ist in einer Einrichtung für Blinde und Sehbehinderte untergebracht.

Hilfesysteme und Ressourcen für deren Inanspruchnahme

An der Frage der weiteren Betreuung von Mark entzünden sich Konflikte innerhalb des Hilfesystems. Mark fällt immer wieder durch aggressive Ausbrüche auf, nässt ein, hat kaum soziale Kontakte zu Gleichaltrigen und macht mit selbstverletzendem Verhalten auf sich aufmerksam. Die Mutter arbeitet zuverlässig mit der Heilpädagogischen Tagesstätte und dem Jugendamt zusammen. Sie fühlt sich mit der Erziehung von Mark überfordert. Eine Familienhelferin trägt zwar zur Stabilisierung der Situation bei, ein zuverlässiger familiärer Rahmen kann aber unter den gegebenen Umständen nicht entstehen. Die von Armin ausgeübte sexuelle Gewalt bleibt unbewältigt. Ein totales Kontaktverbot zwischen ihm und seinen Geschwistern empfiehlt sich im Sinne des Kinderschutzes als vernünftigste Maßnahme. Frau L. muss immer wieder Jobs mit wechselnden Arbeitszeiten annehmen. Wenn Mark am späten Nachmittag von der Einrichtung nach Hause kommt, ist er oft allein. Zwischen Frau L. und ihrem Sohn Mark scheint eine enge Bindung zu bestehen, andererseits kann das Kind von seiner Mutter nicht zuverlässig versorgt werden. Daher empfehlen Teile des Hilfesystems eine Fremdunterbringung des Kindes, während andere dafür plädieren, dass Mark zu Hause leben und von ambulanten Hilfen engmaschig versorgt werden soll. Anhand dieses Falles, der in vielerlei Hinsicht Kennzeichen eines typischen Jugendhilfefalles trägt, seien einige Thesen zum Verhältnis von Hilfesystemen zu von Armut und sexualisierter Gewalt betroffenen Familien formuliert:

These 1: Das Thema sexualisierte Gewalt ist mit einer Tendenz zur Über- oder Unterbewertung assoziiert. Die Frage, inwieweit einzuleitende Hilfen auf das Thema sexualisierte Gewalt fokussieren müssen, ist häufig stark von Emotionen geleitet. Der polarisierende gesellschaftliche Diskurs, der häufig auf den Extrempositionen Bagatellisierung und Hysterie ausgetragen wird, spiegelt sich in den Auseinandersetzungen in Hilfesystemen häufig wider. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die Symptomatik der Betroffenen zumeist unspezifisch ist und daher keine Kausalschlüsse zwischen dem Problem und seinen Ursachen zulässt. Verschärft wird das Problem dadurch, dass betroffene Kinder (v.a. Jungen) normalerweise selbst keinen Hilfebedarf im Bezug auf die Bewältigung sexualisierter Gewalt äußern. Wenn sich also unmittelbar keine Notwendigkeit zur Bearbeitung sexueller Misshandlungen aufzudrängen scheint, besteht die Gefahr, dass das Thema "vergessen" wird und sich das Hilfesystem zum Komplizen der Verleugnung macht. Wir können mutmaßen, dass Mark möglicherweise deshalb "keine erkennbaren Fortschritte" gemacht hat, weil die an ihm verübte sexualisierte Gewalt als nicht besonders folgenschwer eingeschätzt wurde - mit dem Hinweis, dass der ältere Bruder in einem weit entfernt gelegenen Berufsbildungswerk untergebracht war und nur noch "ab und zu" nach Hause kam.

These 2: Armut und sexualisierte Gewalt stehen in einer hierarchischen Beziehung zueinander, wenn es um die Nutzung von Hilfen geht. Oder anders ausgedrückt: Armut kann ein wesentlicher Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme von Hilfen sein. Im Rahmen der Verhandlungen über die neu zu installierenden Hilfen für Mark wurde unter anderem vorgeschlagen, dass der Junge und seine Mutter eine Beratungsstelle, die auf sexuellen Missbrauch spezialisiert ist, aufsuchen sollten. Eine eingehende inhaltliche Diskussion über die Implementierung dieses Hilfebausteins erübrigte sich aber schließlich, weil die nächste Spezialberatungsstelle 20 Kilometer vom Wohnort der Familie entfernt liegt. Weder hätte sich Frau L. die Fahrkarte dorthin leisten können, noch hätten Lebensbedingungen, unter denen sie jede angebotene Arbeit annehmen musste, eine regelmäßige Inanspruchnahme eines solchen Beratungsangebots erlaubt. In Anbetracht ihrer Lebenssituation war es Frau L. und ihrem Sohn schlichtweg nicht zuzumuten, diese Form der Hilfe zu nutzen. Dieser Satz wirkt nur auf den ersten Blick paradox. Die Praxis der Beratungsstellenarbeit zeigt nämlich, dass notwendige Hilfen zumeist nur für diejenigen zugänglich sind, die auch über die erforderlichen Ressourcen verfügen, diese auch in Anspruch zu nehmen.

These 3: Die Überforderung von Eltern(teilen) spiegelt sich in der Überforderung von Hilfesystemen wider. Dies äußert sich in dem Prinzip, wonach Hilfen am wenigsten dort ankommen, wo sie am nötigsten sind. Hochkomplexe Problemlagen mit vielen "Baustellen" stellen für Hilfesysteme oft eine Herausforderung dar, an der sie scheitern. Es werden fragmentierte Hilfen installiert, die nicht greifen. Dies führt innerhalb des Hilfesystems zu Frustration, Resignation und nicht selten zu aggressiver Abwehr: Die Eltern werden beschuldigt, nicht genügend zu kooperieren, v.a. jugendliche Klienten werden "hart angepackt", wenn wohlwollende Konzepte nicht den gewünschten Erfolg nach sich gezogen haben. Die Kluft zwischen Hilfesystemen und ihren Nutzern wird immer größer - bis zu dem Punkt, an dem konstatiert wird, dass sich bei dieser Familie keine Maßnahme mehr lohnt. (Schließlich hat man ja schon genug Geld ausgegeben). Dies ist eine dramatische Dynamik, denn sie führt dazu, dass Kinder, die sexuell misshandelt wurden, feststellen müssen, dass sie keiner Hilfe mehr würdig sind. An einem bestimmten Punkt des Nicht-Funktionierens haben sie sozusagen den Bonus verspielt, Opfer geworden zu sein. Diese Entwicklung ist äußerst zynisch und birgt das Risiko weiterer Gefährdungen für die Betroffenen.

These 4: Es werden die Hilfen installiert, die verfügbar sind. Die Einleitung von Hilfen erfolgt nicht allein aufgrund diagnostischer Einschätzungen von Fachleuten. Häufig werden solche Maßnahmen installiert, die gerade verfügbar sind und nicht solche, die aufgrund der bestehenden Problematik eigentlich indiziert wären. Zuweisungen sind also abhängig von der Ausgestaltung regionaler Hilfesysteme. Das heißt auch: Die Betroffenheit von sexualisierter Gewalt kann nur dann in den Fokus genommen werden, wenn sich innerhalb des jeweiligen Spektrums an verfügbaren Hilfen jemand dafür zuständig fühlt. Sollte dies nicht der Fall sein, erscheinen Prozesse der Bagatellisierung und Verleugnung geradezu unausweichlich.

These 5: Im Kontakt mit dem Hilfesystem tragen Eltern "Masken der Scham". Sie tun dies in deutlicher Analogie zu den Masken der Scham, die ihre von sexualisierter Gewalt betroffenen Kinder tragen. Frau L. hat drei Kinder von drei verschiedenen Männern. Ihr ältester Sohn hat seine Geschwister sexuell misshandelt. Sie konnte ihre Kinder nicht schützen. Sie ist arm. Vermutlich ausreichend Gründe, sich zu schämen. Und Frau L. ist darauf angewiesen, dass sie von psychosozialen Fachkräften bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützt wird. Genau genommen ist ihr die Erziehung längst aus der Hand genommen werden. Weil sie es selbst nicht geschafft hat. Ein Grund sich zu schämen? Wenn auch Mark noch in einem Heim untergebracht wird, dann wohnt sie alleine zu Hause. Hilfen, die von Familien wie dieser in Anspruch genommen werden, besitzen immer einen Doppelcharakter: Sie sind nicht nur Unterstützung, sondern auch Kontrolle (wobei dies nicht allein für solche Familien gilt, in denen Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind). Die Kontrollkomponente ist immer mit der Frage verbunden: Kann man Kindern guten Gewissens solche Eltern(teile) zumuten? Das Vorliegen von Armut und das Auftreten von sexualisierter Gewalt stellen gewichtige Risikofaktoren dafür dar, dass diese Frage mit nein beantwortet wird. Hilfesysteme, die solche Eltern kontrollieren, sind sich zumeist nicht bewusst, dass das, was sie in den Gesichtern ihrer Klienten sehen, Masken der Scham sind. Solche Eltern gelten gemeinhin als "manipulativ", "aufsässig", "unkooperativ", "verlogen" oder - bei besonders raffinierter Sichtweise - als "geübt im Umgang mit Hilfesystemen". Solche Etikettierungen leisten zweierlei: Sie vernebeln die Not der Betroffenen und verleihen der Hilflosigkeit des Hilfesystems einen würdevollen Rahmen. Konkrete Armut und reale sexualisierte Gewalt werden dadurch zu Themen, die das Anrecht auf Bearbeitung verlieren.

Zusammenfassende These: Arme Familien mit Kindern, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, besitzen eine verringerte Chance auf die Zugänglichkeit zu geeigneten Hilfen. Die Installierung von Hilfen verläuft häufig irrational, weil sie den in den Thesen 1 - 5 beschriebenen Prinzipien unterworfen ist.

Ausblick

Da Armut keine klinische Kategorie ist und sich demnach nicht als Thema für therapeutische Interventionen aufdrängt, wird in der klinischen Praxis ihre Bedeutung beim Erleben und bei der Bewältigung sexualisierter Gewalt vernachlässigt. Um betroffenen Kindern, Jugendliche und Erwachsenen ein besseres Verständnis entgegenzubringen, ist aber die Einbeziehung der sozioökonomischen Dimension unbedingt notwendig. Forschungsmethodisch bietet sich der Komplex "Sexualisierte Gewalt und Armut" für die Identifikation linearer oder gar kausaler Zusammenhänge schon alleine deshalb nicht an, weil beide Problembereiche kategorial schwer fassbar und in sich äußerst heterogen ausgestaltet sind. Es ist nahe liegend, dass beide Formen der Betroffenheit eine Vielfalt von Risikokonstellationen begünstigen, innerhalb derer die jeweils andere Form der Betroffenheit vorkommen kann. Sowohl für theoretische Überlegungen als auch für die klinische Praxis erscheint es wichtig, mehr Klarheit darüber zu bekommen, worin die spezifische Belastungen von Menschen bestehen, die sowohl von Armut als auch von sexualisierter Gewalt betroffen sind und welcher charakteristischen Formen der Bewältigung sie sich bedienen. Dieser Beitrag soll dazu eine erste Orientierung liefern. Erst auf der Basis solcher Analysen können (und müssen) Konzepte entwickelt werden, die betroffenen Menschen wirksame Hilfen zugänglich machen.

Endnoten

  1. Ich beziehe mich hier auf das Kapitel "Intergenerationale Dynamiken", in dem die Probleme der Elternschaft von Personen, die als Kind sexuell traumatisiert wurden, ausschnittweise skizziert werden. Ich sehe hier den Begriff "Mehrgenerationenperspektive" eigentlich schon gerechtfertigt.
  2. Hier handelt es sich nicht um eine These, sondern um mögliche Forschungsfragen: (1) Erschwert Armut den Zugang zu Hilfen, die bei der Bewältigung früherer Traumatisierungen unterstützend wirken könnten? (2) Wenn frühe Traumatisierungen demzufolge unbearbeitet bleiben - erhöht sich dadurch das Risiko, dass Eltern ihre eigenen Belastungen gegenüber ihren eigenen Kindern ausagieren?
    Im Folgenden eine mögliche Auswahl von Literatur, auf die in diesem Zusammenhang verwiesen werden kann:
    Zum Zusammenhang zwischen Erziehungshaltungen sexuell viktimisierter Mütter und sexuellen Gewalterfahrungen ihrer Töchter siehe Testa, Hoffman & Livingston (2011).
    Zum Risiko, dass Männer, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden sind, selbst zu Tätern werden siehe z.B. Bange, 2010; Thomas & Fremouw (2009).
    Als Hinweis, dass vermehrte Partnerschaftskonflikte sowohl als Folgeerscheinung früher sexueller Gewalterfahrungen als auch als Risikofaktor für die Viktimisierung von Kindern gelten siehe Kim et al. (2007).

Literatur

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Autor

Dr.phil. Peter Mosser
Diplompsychologe
Kathi-Kobus-Str. 9
80797 München
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailp.mosser@bitte-keinen-spam-kibs.de

Seit 1999 Mitarbeiter der Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle für männliche Opfer sexualisierter Gewalt (KIBS) in München; Systemischer Therapeut, Traumatherapeut; Zahlreiche Veröffentlichungen vor allem zu geschlechtsspezifischen Aspekten sexualisierter Gewalt



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Mark Galliker: Sozioökonomie und Psychotherapie
Felix Tretter: Wissensgesellschaft im Krisenstress