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Gruppendiskussion "Wo ist die Heimat der Gemeindepsychologie?" am 18. Juni 2010 in Gelsenkirchen

Moderatoren: Christine Daiminger & Ralf Qindel
Transkription: Daniela Stegemann
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 16 (2011), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Anlässlich der Jahrestagung 2010 wurde über gemeindepsychologische Grundsätze, der Rezeption der Gemeindepsychologie in Deutschland sowie mögliche Perspektiven für die Gemeindepsychologie diskutiert. Es wird insbesondere der Wert der gemeindepsychologischen Perspektive für ein Verständnis komplexer Zusammenhänge herausgestellt. Die Fragen, wie offen die Gemeindepsychologie für interdisziplinären Austausch ist und welche Themen in den nächsten Jahren geeignet sind, die gemeindepsychologische Perspektive einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, werden erörtert. Im Folgenden wird die Diskussion wiedergegeben.

Schlüsselwörter: Gemeindepsychologie, Interdisziplinarität, Ausbildung, Sozialpsychiatrie, Medikalisierung

Summary

Group discussion "Where is the home of Community Psychology?" on the 18th of June in 2010 in Gelsenkirchen

At the 2010 Annual Conference of Community Psychology, the principles of community psychology, as well as its reception in Germany and future perspectives were discussed. Special emphasis was placed on the field's potential to aid in our understanding of complex relationships. Questions addressed during the conference included "Is community psychology ready for interdisciplinary exchange?" and "Which topics are suited for making community psychology more accessible to a wider audience in the coming years?" The group discussion is documented here.

Key words: Community psychology, interdisciplinarity, education, social psychiatry, medicalisation

Teilnehmer/innen

Christel Achberger (Freiberufliche Tätigkeit in Fortbildung und Beratung)
Mike Seckinger (Deutsches Jugendinstitut München)
Irmgard Teske (Hochschule Ravensburg-Weingarten)
Annette Tretzel (Pro Familia München/ Fortbildung)
David Vossebrecher (Uni Duisburg-Essen/Organisationspsychologie)
Manfred Zaumseil (INA - Institut an der Freien Universität Berlin)
Georg Zilly (Psychologische Beratungsstelle Oberhausen)

Diskussionsleitung

Christine Daiminger (Hochschule München)
Ralf Quindel (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin)


RALF: In dieser Diskussion soll es zunächst darum gehen, die aktuelle Situation der Gemeindepsychologie in Praxis, Lehre und Forschung anzuschauen.
Welche Bedeutung hat die Gemeindepsychologie aus eurer Sicht an der Hochschule oder in der Praxis momentan?

Zwei Ebenen der Gemeindepsychologie

MIKE: Es sind mindestens zwei Ebenen dabei zu unterscheiden. Nämlich die Gemeindepsychologie als erkennbare, abgegrenzte, disziplinäre Orientierung. Und gemeindepsychologisch inspirierte Konzepte, die in unterschiedlicher Verkleidung in der Praxis und Forschung eine gewisse Relevanz haben. Und tatsächlich gibt es wieder eine wachsende Attraktivität für eine Perspektive die das Verwoben-Sein von Individuum und Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt, sowohl in der Praxis als auch in der Forschung.
In den letzten Jahren wurde vermehrt diskutiert, dass sich psychosoziale Sachverhalte, Problemlagen von Menschen nicht erklären lassen, wenn wir nicht die enge Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft betrachten. Und zwar nicht in der Dichotomie zwischen individualpsychologischer und soziologischer Perspektive, sondern in der Art, wie wir in der Gemeindepsychologie das für uns in Anspruch nehmen: die wechselseitige Beeinflussung von Individuum und Gesellschaft als einen aktiven Prozess zu beschreiben.
In Hinblick darauf ist aktuell eine große Offenheit für gemeindepsychologische Ideen und Perspektiven zu erkennen. Man kann das auch in der Rezeption sehen. Das persönliche Gespräch mit den Leuten, die auf Gemeindepsychologie aufmerksam werden, zeigt, dass gemeindepsychologische Konzepte eine hohe Plausibilität haben und zur Auseinandersetzung einladen. Auf dieser Ebene bin ich relativ optimistisch, dass es einen Ort gibt für gemeindepsychologische Perspektiven. Auf der zweiten Ebene, im Sinne einer klar abgegrenzten, disziplinären Orientierung, als Fachverband, als eine Gruppe innerhalb der Psychologie oder innerhalb der psychosozialen Praxis und Wissenschaft sind wir eher unscheinbar und unauffällig.

Schwierige Situation an deutschen Universitäten

MANFRED: Man kann es für die Universitäten noch dramatischer formulieren: Da ist Gemeindepsychologie als Fach praktisch nicht mehr vorhanden. Aber ich würde auch sagen, in der Forschung spielt die Gemeindepsychologie nach wie vor eine Rolle. Also die Perspektive, psychologische Phänomene auf soziokulturelle Kontexte zu beziehen, das ist auch international in der Forschung sehr gut repräsentiert. Genauso wie Methoden, die weit angelegt sind, die der qualitativen Sozialforschung nahestehen. Diese Methoden gestatten auch, mit Bedeutungen zu arbeiten und mit Sinngehalten; mit relativ komplexen, sozialen und kulturellen Phänomenen. Das ist international durchaus ein wichtiges und nach wie vor expandierendes Gebiet.
Die Verengung der Psychologie auf neuropsychologische und biologisierte, medikalisierte Konzepte klinischer Psychologie dagegen ist möglicherweise ein deutsches Phänomen. Viele Forschungsansätze in Deutschland gestatten zwar eine relativ breite Auffassung von dem Phänomen. Da sind ja eine Reihe Geisteswissenschaftler und Sozialwissenschaftler zusammengespannt mit neurokognitiven Wissenschaftlern. Der Dialog zwischen den Disziplinen gelingt jedoch nicht. Das liegt auch am Durchmarsch dieser neurokognitiven oder nur kognitiven oder im klinischen Bereich nur behavioristischen Orientierung. Dazu kommt noch, dass die Universitäten sich völlig abgewandt haben von praxisorientierten Ausbildungen.

DAVID: Ich habe darüber nachgedacht, wie es eigentlich an dem Lehrstuhl ist, an dem ich arbeite und Wolfgang Stark die Professur hat, an der Universität Duisburg-Essen. Ich bin mir gar nicht so sicher, wie die Benennung der Professur ist. Manchmal taucht Gemeindepsychologie auf und manchmal nicht. Man kann es jedenfalls nicht als Studiengang studieren oder als prüfungsrelevantes Teilfach belegen. Obwohl natürlich am Lehrstuhl auch Konzepte von Empowerment und der Partizipationsgedanke in vieles eingeht, was wir dort machen, sowohl in der Lehre als auch in den Projekten. Seine Sozialisation scheint die ganze Zeit durch. Aber Gemeindepsychologie als Disziplin, die auch akademisch verankert ist, ist nicht zu erkennen. Viele Studierende finden die Konzepte bestimmt auch spannend, aber beim Begriff "Gemeindepsychologie" kommt ein Fragezeichen in das Gesicht. Und auch bei meinen Kollegen, die im Projekt arbeiten ist das ähnlich. Als ich da angefangen habe, hat Wolfgang manchmal gesagt: Hier ist ein weiterer Gemeindepsychologe. Und danach haben alle im informellen Setting gesagt: "Vielleicht kannst du uns mal erklären was das eigentlich ist? Wolfgang sagt das ab und zu, hört sich manchmal spannend an, manchmal nicht so spannend". Es scheint also etwas Diffuses hängen zu bleiben, aber kein klarer Begriff zu existieren.

Gemeindepsychologische Konzepte in der Praxis

GEORG: Ist es das Problem, dass Gemeindepsychologie schwer zu fassen ist? Aus meiner Praxis heraus betrachtet, ich leite eine Erziehungsberatungsstelle, habe ich den Eindruck, dass das Denken sich verändert. Zum Beispiel in den Überlegungen zur Sozialräumlichkeit und Netzwerkarbeit. Auch das Wort "Empowerment" ist selbstverständlicher geworden. Das liegt m.E. daran, dass solche Ideen gebraucht werden, sonst kommen wir in der Praxis nicht weiter. Und die Verhaltenstherapie spielt für mich eine große Rolle vor allem in der Arbeit mit Kindern. In der Einzelarbeit gibt es da sinnvolle Konzepte, aber in der Familienarbeit zum Beispiel hat das für mich überhaupt weniger Bedeutung. Da spielt die systemische Sichtweise für mich eine größere Rolle als Idee eines größeren Bedingungsgefüges.

RALF: Spielt Gemeindepsychologie eine Rolle?

GEORG: Nicht als Wort. Also es wird nicht als Wort benannt. Sozialräumlichkeit spielt eine Rolle. Es gibt, wie gesagt, eine Zusammenarbeit zwischen der Bochumer Uni und dem Oberhausener Jugendamt zum Thema Sozialräumlichkeit und Quartiersmanagement.

Gemeindepsychologie als kritische Wissenschaft und Praxis

DAVID: Das Konzept Empowerment hat für mich immer dann seine besondere Qualität, wenn ich das im Zusammenhang mit dem ganzen Gedankengebäude und den Werten, die die Gemeindepsychologie insgesamt auszeichnen, zusammen sehe. Diese Werte und Hintergründe werden oft, wenn das Konzept Empowerment verwendet wird, nicht mitgedacht, weil sie unbekannt sind. Empowerment, das ist dann das Konzept par excellence, auf das sich Gott und die Welt bezieht, aber wenn ich das nicht einbette in ein bestimmtes Gedankengebäude oder einen bestimmten Hintergrund, dann verliert es das, was das Spannende daran ist. Also für mich ist Gemeindepsychologie immer eine Art von kritischer Wissenschaft und Praxis gewesen. Und diese kritische Perspektive ist in Gefahr, wenn einzelne Konzepte entnommen werden, ohne den Kontext mit zu berücksichtigen

MANFRED: In dem Forschungsbereich in dem ich mich bewege, Katastrophenforschung, Entwicklungszusammenarbeit, ist das, was wir gemeindepsychologisch nennen, Selbstverständlichkeit. Man macht Dorfstudien, Empowerment ist ein ganz gängiger Begriff in der Entwicklungszusammenarbeit. Man macht partizipative Ansätze, public health, Ottawa-Charta, aber kein Mensch in diesem Feld weiß, was Gemeindepsychologie ist.

CHRISTEL: In meinem Praxisfeld, der Sozialpsychiatrie, haben die neuen Stichworte Sozialraum, Empowerment, Recovery, Ressourcenorientierung, Inklusion, alle eigentlich was mit Gemeindepsychologie zu tun. Aber der Zusammenhang wird in der Praxis nicht hergestellt. Die Folge ist, dass diese Konzepte keine Gesamtordnung haben, sondern nur als Einzelbausteine irgendwo in die Landschaft geworfen werden. Mit dem Label Gemeindepsychologie werden sie nicht verbunden. Da heißt es dann Gemeindepsychologie? Hat das was mit Kirche zu tun? Daran wird deutlich, wie fern dieser Begriff in unserer Wirklichkeit ist.
Ich gebe zwei Beispiele: Es gibt eine neue Leitliniendiskussion zur psychosozialen Betreuung. Dort werden ganz kleinteilige Perspektiven verhandelt, z.B. Case Management, multiprofessionelles Team, Rolle der Arbeit. Es fehlt eine Gesamtsicht darauf. Da wären gemeindepsychologische Gedanken ganz wertvoll. Oder wenn man die Diskussion der integrierten Versorgung betrachtet. Ambulante und stationäre Behandlung sollen zusammengeführt und Home Treatment entwickelt werden. Da geht es um das Thema Kooperationen, um das Thema Netzwerke bauen. Und dort ist der Dachverband für Gemeindepsychiatrie federführend, deren Tagung läuft unter dem Stichwort "Kooperationen verstärken". Da geht jedoch überhaupt keine Theorie aus unserem Bereich ein, da werden Netzwerke anders definiert als wir es tun würden und Kooperation wird ganz anders definiert. Das ist ein großes Problem, dass wir bei der Gestaltung neuer Handlungsabläufe in der Praxis überhaupt keinen Einfluss haben. Also, es ist wirklich spannend, sich einfach mal diese Tagung anzusehen und zu sehen, wer dort Referenten sind. Und ich würd sagen, wir werden in dem Bereich überhaupt nicht wahrgenommen.

IRMGARD: Christel, du hast einmal darauf hingewiesen, dass manche Begriffe missbraucht werden. Ich selbst verstehe mich immer noch als Grenzgängerin zwischen der Sozialen Arbeit und der Psychologie. Hab aber meine berufliche Identität in der Gemeindepsychologie. Ich sehe tatsächlich sehr viele Parallelen zur Gemeinwesenarbeit. Wo ich auch immer wieder gleiche Begriffe höre. Ich erlebe dann in der Praxis, dass diese Begriffe mit wenig Theorie hinterlegt sind. Ich habe mich gefreut, dass es an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin eine Professur unter anderem für Gemeindepsychologie gibt. Obwohl dort ja Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter unterrichtet werden. Da bin ich neugierig, wie diese Stelle umgesetzt wird. Meine Studierenden finden die gemeindepsychologische Perspektive sympathisch, weil sie wissen den eher ganzheitlichen Ansatz zu schätzen. Und ich denke, gemeindepsychologische Inhalte können in sehr vielen Hochschulen in vielen Handlungsfeldern umgesetzt werden. Auch wenn ich jetzt Einzelfallhilfe nehme, denk ich, dass eine gemeindepsychologische Orientierung dazu gehört.

ANNETTE: In meiner Praxis, in der Beratungspraxis oder auch Fortbildungspraxis wird gemeindepsychologisches Gedankengut umgesetzt, ohne es so zu benennen. Hab mich jetzt nur gefragt: Woher kommt das? Der Mitarbeiterstamm, zum Beispiel in der Beratungsstelle Pro Familia, ist eine Generation, die ein bestimmtes Gedankengut hat und anders sozialisiert ist als bei einem Studium heute, das merkt man an jüngeren Mitarbeitern.

RALF: Kannst du kurz sagen, was der Unterschied ist zum Gedankengut der jungen Generation?

ANNETTE: Also diese Verwobenheit, dieser gesamtgesellschaftliche Blick, den ich so schätze. Wenn man Phänomene anschaut, immer auch auf einer soziologischen Ebene zu betrachten, zu diskutieren und kritisch zu reflektieren. Das erlebe ich bei jüngeren MitarbeiterInnen nicht in der Weise. Bei ihnen ist mehr ein - finde ich - individuumszentrierter Blick dominant.

Interdisziplinäre Perspektive unter dem Dach der Gemeindepsychologie

MANFRED: Ich hatte ja immer ein gespaltenes Verhältnis zur Psychologie. Weil ich ja kein Psychologe bin, aber Psychologie unterrichte. Ich bin Mediziner. Und für mich war diese Bindestrichpsychologie immer eine Hilfskonstruktion. Weil ich das Anliegen dessen, was Gemeindepsychologie inhaltlich bedeutet, als kein Anliegen der Psychologie sehe. Sondern ein interdisziplinäres Anliegen. Ich bin ja nach wie vor auch in der DGSP1 und da fand ich das immer gut, dass dort viel mehr Berufsgruppen repräsentiert sind. Also Gemeindepsychologie als Bindestrichpsychologie zu sehen, war für mich immer eine verfehlte Konstruktion. Man müsste das Ganze anders nennen. Also praktisch interdisziplinär benennen. Also vielleicht mit dem Begriff public mental health. Das ist dann aber nur der Gesundheitsbereich. Und public mental health wär für mich die Dachkonstruktion im psychosozialen Gesundheitsbereich. Nicht Gemeindepsychologie. Die Frage ist, wie kann man mehr die Förderung psychischer Gesundheit von der sozialwissenschaftlichen Perspektive her sehen?! Und zwar eher die öffentliche Gesundheit, darum auch public mental health, also nicht individuumzentriert, das wäre ein Anliegen.
Aber für mich ist Gemeindepsychologie eigentlich noch viel breiter. Also auch so ein Thema: Wie geht eine Community mit einem Erdbeben um? Das ist zum Beispiel mein Thema im Moment. Sicher ein gemeindepsychologisches Thema. Wie soll ich es eigentlich nennen? Ich weiß es nicht. Also ein Thema, was eigentlich noch eine neue Bezeichnung braucht. Und das ist immer mein Problem mit der Gemeindepsychologie. Ich hab mich nie wirklich als Psychologe gesehen. Insofern auch nicht als Gemeindepsychologe. Sondern ich hab da eher so ein Dach von Leuten gefunden, die so ähnlich denken. Und ich denke, das ist der Konstruktionsfehler. Wir müssten eigentlich eine Gesellschaft haben, wo genauso Soziologen, Sozialarbeiter, Anthropologen und Mediziner Mitglieder werden. Es gibt da eine breite Orientierung, die wir mit vielen gemeinsam haben. Auch grade mit vielen Praktikern. Und die aber schwer zu fassen ist. Wir hatten es ja jetzt mit ein paar Begriffen versucht: Empowerment, Ressourcenorientierung usw. Man könnte so ein ganzes Spektrum von Dachbegriffen nehmen und sagen, mit wem zusammen arbeiten wir eigentlich an dieser Vision? Und dann kriegt das Ganze mehr Schub, denk ich.

DAVID: Ganz kurze Ergänzung dazu. Die US-Gesellschaft, die heißt ja "Society for cummunity research and action". Da kommt das Wort "Psychologie" jetzt gar nicht vor. Die Leute, die ich auf den internationalen Konferenzen treffe, sind trotzdem alles Psychologen. Oder fast alle.

Schärfung des Profils

MIKE: Ich möchte an drei Stellen deutlich widersprechen. Zum einen ist es richtig, dass viele Anliegen, die wir innerhalb der Gemeindepsychologie diskutieren, Anliegen sind, die nur interdisziplinär umgesetzt werden können. Gerade aber bei den Beispielen, die wir vorher diskutiert haben, ist es notwendig, in interdisziplinäre Projekte klare disziplinäre Perspektiven mit einbringen zu können. Nur dann entstehen Reibungsflächen, die erforderlich sind, um einen Gewinn der interdisziplinären Arbeit überhaupt zu ermöglichen. Und nun zu dem Beispiel Wolfgang Hinte aus Bochum. Das ist kein gemeindepsychologisches Konzept, was er mit seiner Sozialraumorientierung vertritt. Das, was dort unter Sozialraum definiert wird, ist weit weg von unseren gemeindepsychologischen Ideen von Community Organizing. Das gleiche Problem habe ich bei der Gemeinwesenarbeit. Ich bin mir sicher, wenn wir genau hinschauen, finden wir eine ganze Reihe von fundamentalen Unterschieden zwischen dem, was in der Gemeinwesenarbeit propagiert wird und dem, was aus der gemeindepsychologischen Sicht zentral wäre. Da wir keine Durchsetzungsmacht haben, können wir unsere Ideen nicht so transportieren, dass sie von den anderen kritisch aufgenommen, diskutiert und wieder rückgespiegelt werden.
Und deswegen ist es auch riskant, wenn wir sagen, wir finden ganz viele gemeindepsychologisch orientierte Praktiker/innen im Feld, weil die mit ähnlichen Begriffen hantieren. Sie arbeiten an ähnlichen Herausforderungen, sie haben ähnliche Interessen, aber sie kommen aus einer anderen Denktradition, aus einer anderen Handlungstradition. Es wäre im Zweifel zu klären, was die Differenzen dieser Perspektiven sind. Da sind wir an manchen Stellen ein bisschen schnell und das führt dazu, dass wir kein Profil bilden. Also da sehe ich eine unserer Herausforderungen: Unsere Gesellschaft heißt ja nicht Gesellschaft für Gemeindepsychologinnen und -psychologen, sondern sie heißt Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis. Da steckt zwar die Psychologie drin, aber als Perspektive und nicht als Disziplin, zu der man sich als Mitglied zuordnen muss. Also, es ist kein Berufsverband, es ist ein bestimmtes Anliegen, das im Vordergrund steht.
Es lohnt sich auch, selbstkritisch die letzten paar Jahre in den Blick zu nehmen und zu fragen: Was haben wir dazu beigetragen, dass Begriffe missbrauchbar geworden sind? Dass wir in der Inklusionsdebatte überhaupt nicht erscheinen? Heiner Leggewie beispielsweise hat versucht Stadt(teil)entwicklung unter gemeindepsychologischer Perspektive voranzubringen, hat aber keine große Resonanz in unseren Kreisen damit gefunden und war ein einsamer Rufer auf verlorenem Posten. Hier in Duisburg-Essen gibt es Beispiele dafür, wie man Organisationsberatung unter einer gemeindepsychologischen Perspektive weitertreiben kann. Das knüpft an bestimmte psychologische Traditionen an, die im Rahmen der Unternehmensberatung völlig verlorengegangen sind, die aber durchaus eine gewisse Attraktivität heute hätten. Da muss man wahrscheinlich genauer argumentieren, als wir das bisher machen.

Transfer in die Praxis

GEORG: Die Frage ist, wie das Profil der Gemeindepsychologie in relevanter Weise auf Fragen der Praxis bezogen wird und verbunden wird mit den Ansätzen in der Praxis. Es gibt immer gute Beispiele, die wir auch auf Tagungen diskutiert haben, aber ich habe den Eindruck, diese Projekte werden nicht publik genug gemacht. Sie könnten als Beispiel dienen, um sie woanders zu implementieren oder auszuprobieren, aber es gibt zu wenig Verantwortliche vor Ort, die sich dafür einsetzen. Es braucht doch immer, wenn man so was transportieren will, Leute vor Ort, die so ein Denken haben und dann in Form von Netzwerken andere mitziehen. Möglicherweise liegt das auch an dem unklaren Profil, aber es gibt anschauliche Beispiele, die klare Positionen vermitteln.

RALF: Ich habe das Gefühl, die Diskussion geht jetzt in die Richtung, wo könnte man anpacken, wo sind gute Beispiele, welche Ideen gibt es zur Förderung der gemeindepsychologischen Perspektive.

CHRISTINE: Eine zentrale Aussage aus der Diskussion ist: Gemeindepsychologie ist nicht mehr als Disziplin zu erkennen, weder in der Praxis, noch im Hochschulbereich, aber die Konzepte sind in unterschiedlichen Handlungsfeldern, auch im wissenschaftlichen Bereich, sehr beliebt. Sie werden aber häufig mit einer anderen Bedeutung, als wir sie in der Gemeindepsychologie verwenden, genutzt. Oder sie werden entkontextualisiert benutzt, so dass die theoretische Unterfütterung, die wir damit verbinden nicht mehr gegeben ist. Dann wurde gefragt, woher kommt das eigentlich? Eine These ist, dass die Gemeindepsychologie zu wenig Profil hat, bzw. in Diskussionen zu wenig differenziert hinguckt und sich zu wenig positioniert.

MIKE: Ich würde gerne die Zusammenfassung um einen Punkt ergänzen. Die Entwertung oder Dekontextualisierung von gemeindepsychologischen Konzepten findet statt, wenn die Begriffe verwendet werden. Gleichzeitig haben gemeindepsychologische Konzepte, wenn man sie anderen vorstellt, eine hohe Attraktivität, ihnen wird ein hohes Interesse entgegengebracht. Also am Beispiel erläutert: Wenn man den Leuten über Empowerment erzählt, so wie wir das verstehen, dann finden die das spannend und interessant und wollen das machen. Wenn sie selber den Begriff "Empowerment" verwenden, vergessen sie all das, was wir ihnen dazu erzählt haben.

RALF: Da würde ich gerne Einhaken. David hat vorhin bereits erwähnt, wenn er anderen gemeindepsychologische Konzepte erläutert, finden sie manches spannend und manches nicht so spannend. Wem erzählt ihr das? In welchen Kontexten sind gemeindepsychologische Positionen interessant? Wo sind Anknüpfungspunkte?

MIKE: Ich gebe mal zwei Beispiele. Das eine ist ein Lehrauftrag an der Uni Kassel bei den Sozialpädagogen. Wenn man denen Gemeindepsychologie nahe bringt, dann sehen die das als super Erweiterung ihrer Perspektive. Und das andere Beispiel sind die vielen Fortbildungsveranstaltungen, die ich in der Praxis mache; die Praktiker/innen sind dankbar, wenn sie einen Reflexionsrahmen bekommen, der verstehen hilft, warum man sich in der Praxis in bestimmten Zwängen befindet. Häufig fühlen sich Praktiker/innen in ihrer Arbeit unwohl, wissen aber nicht so recht warum. Durch den gemeindepsychologischen Reflexionsrahmen haben sie eine Chance, für sich neue Handlungsstrategien zu finden. Man muss das Problem der Zwänge nicht sofort überwinden, aber man kann sich anders dazu verhalten. Und das nehmen viele als eine Erleichterung und Befreiung wahr.

Interesse an der gemeindepsychologischen Perspektive aus unterschiedlichen Kontexten

RALF: David, was finden die Leute spannend, wenn du von Gemeindepsychologie erzählst?

DAVID: Das geht es einfach darum, eine erweiterte Perspektive zu gewinnen. Ich habe an der Uni Köln mit einem guten Bekannten zusammen ein Projekt gemacht; der ist Pädagoge. Es ging um Gewaltprävention bei Jugendlichen, die bereits als Jugendliche die ersten strafrechtlichen Probleme hatten. Und der hat sich viel mit Peereducation beschäftigt, was ja auch einen Gleichheitsgedanken hat, und ich habe die gemeindepsychologische Perspektive mit eingebracht. Dabei kommt man in sehr spannende Diskussionen. Und wenn man sich fragt, wie man das im Rahmen eines begrenzten Projektes tatsächlich umsetzen kann, kommen äußere Umstände ins Spiel: Wie lange haben wir wie viel Geld, um etwas Nachhaltiges aufzubauen? Wie könnte man die auftretende Aggressivität der Jugendlichen erklären? Was liegt in der individuellen Biografie begründet oder was liegt an sozialen Umständen? Aber wie bringt man das dann in die Praxis rein? Und in einen Rahmen mit begrenzten Ressourcen? Es ging um die Verbindung der Perspektiven und darum, größer oder weiter zu denken.

CHRISTEL: Ich begleite zweijährige Zusatzausbildungen im Bereich der Sozialpsychiatrie. Die Themen, die ich vorhin genannt habe, also Empowerment usw., sind dort auch relevant. Aber es fällt den Teilnehmern schwer, diese für sich als praxisrelevant wahrzunehmen, weil die Gemeindepsychiatrie in den letzten Jahren immer stärker durch die psychotherapeutische Gruppenarbeit oder die Personenzentrierung zur Individualisierung und zu einer anderen Ausrichtung der Teilnehmer beigetragen hat.
Jetzt merke ich dort allerdings, dass die gemeindepsychologische Perspektive für die Teilnehmer/innen von Fortbildungen auch eine interessante und wieder wertvolle Sichtweise ist, nämlich wegen der zunehmenden Arbeitsbelastung: diese also komplexer zu sehen, zu sehen, was macht die Organisation? Was machen die Leistung- und Vergütungsvereinbarungen? Was macht die Diskussion in der Öffentlichkeit über die Anerkennung unseres Arbeitsfeldes? Was macht die Politik?
Solche Sichtweisen sind für die Teilnehmer entlastend, weil der Arbeitgeber doch zunehmend eine Zuschreibung auf ihr Verhalten vornimmt. Wenn man fragt, wie der Arbeitgeber reagiert auf die Belastung, dann werden Maßnahmen genannt, wie Zeitmanagement, Entspannungsmethoden, usw., die eigentlich ganz deutlich eine Zuschreibung machen. Für betroffene Mitarbeiterinnen kann es unheimlich entlastend sein, das komplexer zu sehen. Zunehmend kommen dann Fragen wie: Wie können wir uns organisieren? Wie können wir auf einer anderen Ebene gemeinsam handeln? Und da kommt man mit anderen Sichtweisen an.

Grenzen der GP

GEORG: Ich sehe ein Hindernis bei der praktischen Umsetzung, nicht nur, dass wir eine unterschiedliche Haltung haben und Sprache sprechen, sondern ich sehe auch viele Gesetzesvorschriften usw. als Hindernis. Nur als Beispiel bei der Versorgung von Kindern: Ich erlebe eine derartige Zunahme von auffälligen Kindern, dass man sich etwas ganz anderes einfallen lassen muss, um dem begegnen zu können. Und da gibt es schlichtweg Hindernisse, z. B. dass es niedergelassene Kinderpsychotherapeuten gibt, die wirklich anders arbeiten. Einfach weil sie auch anders bezahlt werden. Aber auch Institutionen, wie z.B. die Pädiatrie, machen zurzeit nur Diagnostik und entlassen dann die Kinder nach der Diagnostik.
Es gibt viele Hindernisse, sich über gemeinsame Konzepte zu verständigen. Jugendhilfe im Ruhrgebiet ist eigentlich sehr offen für z.B. Kooperationen mit Schule, weil sie selbst unter einem hohen Arbeitsdruck steht und es auch immer an Geld fehlt. Die Kinder- und Jugendhilfe erhofft sich, dadurch auch entlastet zu werden und die Aufgaben auf verschiedene Schultern zu verteilen. Aber ich sehe behördliche Handlungslogiken, Vorschriften, Krankenkassenfinanzierung usw. als enormes Hindernis dabei, Kooperationen aufzubauen. Selbst wenn man eine andere Haltung einnimmt, gibt es einfach viele Schwierigkeiten.
Ich will ein Beispiel nennen aus unserem Ort. Ich sitze selber im Qualitätszirkel ADHS, in dem man einen sehr starken medizinischen Einfluss sehen kann. Es gibt einen starken Trend, Probleme mit Kindern per Verordnung abzustellen und nicht sich über weitere, übergreifende Konzepte zu verständigen, wie man Kindern wirklich helfen kann, zusammen mit Lehrern, Sozialarbeit usw. Genau genommen arbeiten wir gegeneinander. Da wird ein Kind zwei Jahre lang therapiert und kommt dann völlig uninteressiert und therapieresistent auf andere Institutionen zu. Das sind so praktische Beispiele aus meiner Arbeit, wo ich die Grenzen der Gemeindepsychologie sehe.

MIKE: Ich glaube, wir kommen mit unserem Anliegen gemeindepsychologische Ideen zu kommunizieren und sie attraktiv zu machen dann weiter, wenn wir zeigen können, dass man einen Gewinn für die eigene Praxis hat. Dass wir viele Widerstände haben, viele ungünstige Rahmenbedingungen, das können wir gut erklären. In einer immer stärker normierenden, auf Leistung orientierten Gesellschaft komplexe Prozessbeschreibungen in der Anwendung und Bearbeitung psychosozialer Problemlagen vorzunehmen, wie es die Gemeindepsychologie tut, das ist umständlich, unhandlich und verspricht nicht den schnellen Nutzen, sondern erzeugt vielleicht auch noch Veränderungsbedürfnisse bei den Adressaten und nicht eine Verstärkung der Anpassungsleistung. Dass das auf Widerstände stößt, ist klar.
Ich glaube, die Kunst besteht darin, in ganz konkreten Fällen zu zeigen, welchen unmittelbaren Handlungsnutzen man davon hat, wenn man sich der Mühe unterzieht, Dinge ein bisschen komplexer zu betrachten, als man es in der Alltagshektik sonst tut, an dem Beispiel der Kinderschutzfälle sieht man das sehr deutlich.
Das unmittelbare Erleben von "Das hat einen unmittelbaren Nutzen für mich und meine Praxis", das, glaub ich, muss man stärker transportieren.

ANNETTE: Das ist die eine Ebene, die andere Ebene ist schon auch die Forschungsebene. Denn Evaluation ist einfach ein Medium um Gelder zu bekommen. Auf der anderen Seite ist auch die Frage, wie Forschung dann rezipiert wird. Werden die Ergebnisse wirklich wahrgenommen? Passen sie in das Bild? Werden sie aufgenommen? Aber das ist für mich schon eine andere Ebene, um da mehr Zugkraft zu kriegen, wenn es für Leute aus der Praxis darum geht, für irgendwelche Projekte, Gelder an Land zu ziehen.

RALF: Man könnte ja auch sagen, dass die Tendenz durchaus dahin geht, dass viele Begriffe und Themen der Gemeindepsychologie auf einer breiten Ebene verhandelt werden. Vielleicht nicht in unserem Sinne - nicht so kritisch - aber von den Themen her, Sozialraumorientierung, gesellschaftliche Integration, Förderung von Bildungsbenachteiligten, sind das alles Themen, die aktuell sind und eine Chance bieten würden. Nur die kritische Perspektive, die für manche ein Erkenntnisgewinn ist, stellt für viele auch eine Gefährdung dar, im Sinne von: "Dann müsste wirklich was geändert werden. Das ist dann wirklich nicht so einfach, wie wir uns das gedacht haben." Da knirscht es dann, es kommt zu Machtkämpfen. Am Beispiel der Hochschule habe ich erlebt, dass viele Lehrende sagen: "Bildungsverständnis ist Partizipation von Studierenden, Beteiligung, ein Dialog zwischen Lehrenden und Studierenden". Aber wenn man dann wirklich ran geht und sagt: "Wo ist denn hier Partizipation und Empowerment?", dann wird schnell wieder eine ganz klare Hierarchie hergestellt: "Aber es gibt doch fachliche Kriterien, es gibt doch einen gewissen Grundkanon." Weil es als Gefährdung wahrgenommen wird.

Strategien gegen Medikalisierung

MANFRED: Auch im Hinblick auf die Medikalisierung sozialer Auffälligkeiten ist es ein hartes Geschäft, dagegen zu halten, also diese ganze Ausbreitung medizinischer Deutungshoheit und dass immer mehr pathologisiert wird. Das gibt es auf allen Gebieten und geht von den Babys bis zu den alten Menschen: Alles wird pathologisiert, und es gibt einen großen Aufklärungsbedarf. Auch an den Hochschulen, diese Medikalisierung der Psychologie, das geht ja dermaßen weit, ich weiß gar nicht, was man zuerst tun soll. Also Medikalisierung finde ich ein ganz wichtiges Thema. Man muss in diesem Bereich auf jeden Fall Projekte machen.

MIKE: Ja, auch die Medizin ist ja nicht eindeutig, das ist ein Mainstream, den du da beschreibst. Es stellt sich deshalb die Frage, ob es Verbündete gibt, wenn man zukunftsgerichtet blickt: Gibt es innerhalb des Medizinsystems Verbündete, mit denen man gemeinsam Strategien wider der Medikalisierung und Gegenmodelle entwickeln kann? Diese Medikalisierung wird ja auch innerhalb der Medizin nicht von allen mitgetragen. Man hätte wohl schon einiges erreicht, wenn die gemeindepsychologische Perspektive tatsächlich als eine Alternative im Bewusstsein der meisten in diesem Feld Tätigen verankert wäre.

GEORG: Gerade in diesen Bereichen zeigt sich, dass das medizinische Denken sehr mächtig ist, auch in den Köpfen von Eltern, von Beteiligten, aber auch für Sozialarbeiter, für Mitglieder der Verwaltung. Nach dem Motto: Ich habe eine Ursache und dann gibt es ein Mittel. Auch die Frage nach Ursachen alleine ist ja im Grunde schon oft falsch gestellt, weil man meint, man hätte dann irgendwie eine Abhilfe. Andererseits gibt es auch verstärkte Diskussionen, die Alternativen aufzeigen, weil man ja nicht tatsächlich weiter kommt. Und trotzdem glaube ich, dass es viel zu wenige Leute gibt, die sich in diesem Bereich tummeln und Alternativen aufzeigen.

Kooperationsmöglichkeiten

CHRISTEL: Da gäbe es ein konkretes Angebot, auch zur Kooperation zu anderen Verbänden. Wir haben ja als DGSP im Moment diese leidvolle Diskussion, in der wir in Frage gestellt werden. Wir haben ein Memorandum zur Anwendung von Neuroleptika veröffentlicht und von Seiten der DGPPN2 gibt es die heftigsten Antworten mit Unterstellungen, die einfach nicht richtig sind. Wir wollen das Thema fortsetzen, und wir wollen das auch in dem Bereich Kinder und Jugendliche thematisieren. In diesem Zusammenhang würden wir gerne eine Schwerpunkttagung veranstalten und auch die DGVT3 ansprechen. Genauso im Bereich der Altenhilfe: Da ist es ja auch ein riesiges Problem!
Auf der Homepage der DGSP werden die Reaktionen eingestellt: So dass man sehen kann, wer hat wie reagiert auf diese Diskussion. Das Memorandum wird vielfach falsch gelesen. Es werden ja Möglichkeiten von neuen oder umfassenderen Behandlungsformen aufgezeigt und nicht gesagt man soll auf Psychopharmaka verzichten. Aber die DGPPN argumentiert, wir sind verantwortungslos, wir verunsichern die Patienten. Und sie ziehen durch ihre großen Tagungen die Angehörigen- und Nutzerverbände auf ihre Seite.

Gemeindepsychologie in zehn Jahren?

RALF: Die kritischen Punkte sind nun deutlich benannt. Zum Schluss der Diskussion bitten wir noch um ein kurzes Statement zu folgendem Gedankenexperiment: Angenommen, wir treffen uns in 10 Jahren wieder, die Gemeindepsychologie ist inzwischen eine etablierte Disziplin in Praxis und Forschung. Welche Themen werden dann in zehn Jahren verhandelt? Welche Themen in welchen Feldern mit welchen Bündnissen?

MIKE: Ein großes Feld, das ich sehe, ist, wie man in Gesellschaften mit Exklusionsprozessen umgeht, dass die Gesellschaft nicht auseinander fällt. Dieses Thema wird an Brisanz gewinnen. Und da gibt es neben den traditionellen Konzepten, wie höhere Kontrolle oder stärkere Sanktionsmechanismen, auch Bedarf an zusätzlichen Strategien. Und da wird man eine gewisse Attraktivität erzeugen können, aber vor einer großen Gefahr stehen. Wie weit lässt man sich instrumentalisieren? Können wir Strategien der Inklusion voran bringen?

MANFRED: Es gibt eine neue Studie: "Arm und Reich" Also da gibt es ja immer wieder aktuelle Events, die man aufgreifen könnte. Was hält unsere Gesellschaft eigentlich an Auseinanderklaffen aus? Oder was wollen wir von der Gesellschaft?

CHRISTEL: Ich bin ein bisschen pessimistisch. Weil ich sehe, dass die Entwicklungen in der psychosozialen Praxis, da wo ich sie überblicke, eher zu Konkurrenzen führen, zu einseitigen Sichtweisen verschiedener Anbieter. Und ich glaube, dass die jetzt so in den Mund genommenen Formen von Kooperationen und Netzwerken nicht tragen. Und daher wird möglicherweise eine Aufgabe für die Gemeindepsychologie sein, diese Netzwerke und Kooperationen kritisch zu begleiten.

GEORG: Für mich ist die Frage, wie sehr tauschen wir uns Gemeindepsychologen untereinander aus? Sind wir genügend vernetzt? Müssen wir nicht viel mehr die Dinge, mit denen sich jeder Einzelne beschäftigt, mehr kommunizieren? Dadurch entsteht erst eine gemeinsame Identität.

ANNETTE: Der ganze Kreis der Gemeindepsychologen wird ja immer älter, und da muss ich an ein Zitat denken: Älter werden ist wie einen Berg besteigen. Je höher man kommt, desto mühsamer wird es, aber desto weiter schaut man. Und dann denk ich auch, es geht darum, junge Leute mehr rein zu ziehen und das dann weiter zu transportieren.

DAVID: Das mit den jungen Leuten ist natürlich einfacher, wenn man zum Beispiel das auch als Lehre anbieten kann an der Hochschule.

IRMGARD: Also, ihr habt ja diesen Workshop "Wo ist die Heimat der Gemeindepsychologen?" genannt. Mein Resümee ist: Sie ist an vielen Orten, eigentlich auch in vielen Berufszweigen. Sie müsste nur ein bisschen bekannter werden.

Endnoten

  1. Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
  2. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
  3. Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie



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