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ADHS - Kritische Praxis und Empowermentansatz der Erziehungsberatung im Spannungsfeld von Schule, Gesundheitssystem und Jugendhilfe

Markus Fellner
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 17 (2012), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Erziehungsberatungsstellen werden zunehmend hinsichtlich der umstrittenen Diagnose 'ADHS' aufgesucht. Nachfolgend wird skizziert, wie im Sinne eines Empowerment-Ansatzes betroffene Eltern, Kinder und Jugendliche unterstützt werden können, die gesellschaftlichen Zusammenhänge ihrer individuellen Problemlagen sowie des darauf angewendeten ADHS-Begriffes zu reflektieren. Eine maßgebliche Rolle spielt dabei das Verständnis der institutionellen Zusammenhänge von Schule, Jugendhilfe und Gesundheitssystem als materielle Basis des ADHS-Diskurses sowie die Untersuchung dessen immanenter Subjektbegriffe - um seine Funktionen im Sinne eines Normalisierungsdiskurses ausleuchten zu können.

Schlüsselwörter: ADHS, Erziehungsberatung, Empowerment

Summary

ADHD: A Critical Praxis for and an Empowerment Approach to Educational Counseling in the Area of Tension between Schools, the Health System, and Youth Welfare Services

Educational counseling centers are increasingly called upon concerning the controversial diagnosis ADHD. The following article outlines how parents, children, and young people can be helped, in the spirit of an empowerment approach, to reflect on the social context of their individual problems and the concept of ADHD applied therein. Understanding the institutional context of school, youth welfare services, and the health system, plays a substantial role as the material basis for the discourse on ADHD in a study of its immanent concepts of the subject, in order to shed light on its functions in a discourse on standardization.

Key words: ADHD, educational counseling, empowerment



In den letzten 15 Jahren werden Erziehungsberatungsstellen zunehmend mit der Frage nach Abklärung einer ADHS (Aufmerksamkeitsstörung) oder mit dem Anliegen entsprechender Hilfsangebote aufgesucht. Der psychiatrische Begriff 'ADHS’ findet über die Grenzen des klinischen Diskurses hinaus starkes öffentliches Interesse und fordert die Jugendhilfe heraus. Was macht diesen Fachbegriff so populär und gleichermaßen brisant? Nachfolgend soll skizziert werden, welche institutionellen sowie ideologischen Bedeutungen dem Begriff der ADHS zukommen, welche Effekte er im bundesdeutschen Schulsystem entfaltet, welchem gesellschaftlichen Hintergrund er seine diskursive Relevanz verdankt - und wie im Rahmen der Erziehungsberatung diesem Diskurs sowie den damit verbundenen Problemlagen im Sinne eines Empowermentansatzes begegnet werden kann.

Unter dem Begriff des Empowerments werden in der psychosozialen Arbeit im wesentlichen Maßnahmen verstanden, die der Selbstbestimmung und damit dem Wohlergehen der KlientInnen dienen - es geht um sogenannte "Selbstermächtigung", die Überwindung des Gefühls von Einflusslosigkeit und folglich auch Selbstverantwortung. Der Empowermentansatz umfasst dabei Aufklärung, Ressourcenorientierung, Beziehungsarbeit und damit die Erweiterung von Handlungs- bzw. Gestaltungsspielräumen. Letztlich beinhaltet der Empowermentbegriff auch eine politische Dimension, in deren Zentrum die Mündigkeit der BürgerInnen steht (vgl. z.B. Rappaport 1984, Miller & Pankofer, 2000; Herriger 2010).

Einer kritischen Praxis der Erziehungsberatung kommt so gesehen die Funktion zu, neben diagnostischen und therapeutischen Angeboten begreifbar zu machen, innerhalb welcher ideologischen Spannungsfelder und institutionellen Widersprüche sich der Diskurs und die fachliche Praxis zur ADHS bewegen - um darin die eigene Position besser verstehen und gegebenenfalls verändern zu können. Im Hinblick auf die Phänomene der ADHS sind Strategien der Individualisierung sowie Entpolitisierung von schulischen Problemen zu beobachten, in welche die Kinder- und Jugendhilfe eingebunden wird. Die Diagnose einer ADHS ist Gegenstand einer kontroversen öffentlichen Diskussion. Der Spannungsbogen der Debatten reicht von der klinischen Festschreibung des ADHS als Krankheit bis zur Kritik des klinischen Modells der ADHS als Verschleierung struktureller Probleme eines schulischen und gesamtgesellschaftlichen Anpassungsdrucks, dem Kinder und Jugendliche zunehmend ausgesetzt werden.

Es zeigt sich, wie die zunehmende Verbreitung der ADHS-Diagnose Verunsicherungen im Schulsystem schafft. Die Diagnose einer ADHS bedeutet, dass bestimmte Konzentrationsprobleme sich negativ auf die Erfüllung von Leistungs- und Verhaltensanforderungen auswirken, die dem schulischen System immanent sind, während die allgemeine Begabung, d.h. die grundsätzliche Leistungsfähigkeit, von der ADHS jedoch unberührt ist. Daraus folgt hinsichtlich der schulischen Selektion der begründete Anspruch nach Herstellung von Chancengleichheit. Von daher ist auch zu verstehen, dass zunehmend mehr Eltern von Kindern, die Probleme in der Schule haben, über die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems (klinische Diagnose, Attestierung als juristisches Instrument) und der Jugendhilfe (Hilfemaßnahmen, Therapien) auf die schulischen Lebensbedingungen ihrer Kinder einzuwirken versuchen. Unter diesem gesellschaftlichen Druck entsteht für die Institution Schule die Notwendigkeit, ihre Konzepte von Leistungsfeststellung und Selektion zu differenzieren. Hinsichtlich des Anspruchs nach Chancengleichheit und des damit verbundenen konzeptionellen Veränderungsbedarfs werden dabei die etablierten Mechanismen der schulischen Selektion zunehmend widersprüchlicher - so dass zwischen den Institutionen Familie, Gesundheitssystem, Jugendhilfe und Schule Konflikte entstehen.

Klinischer Diskurs der Aufmerksamkeitsdefizitstörung

Der Begriff einer ADHS wird in den international verbindlichen Diagnosemanualen ICD 10 und DSM IV durch die folgenden Leitsymptome bestimmt: Konzentrationsschwierigkeiten, Impulsivität und ggf. Hyperaktivität. Die Symptome sollten dabei seit mindestens sechs Monaten sowie in mindestens zwei verschiedenen Lebensbereichen auftreten und nicht durch eine andere psychische oder körperliche Störung (z.B. Epilepsie, tiefgreifende Entwicklungsstörungen oder Depression) "besser" erklärbar sein. 2-15% aller Schulkinder gelten als mehr oder weniger stark aufmerksamkeitsgestört, wobei die im DSM IV beschriebenen ADHS-Merkmale durchgängig normativen Anforderungen des schulischen Alltags entsprechen (z.B. still sitzen, aufmerksam zuhören, sich am Unterricht beteiligen, ausdauernd und sorgfältig arbeiten, warten bis man an der Reihe ist, nicht stören). Besonders interessant an der ADHS ist hierbei, dass die Betroffenen die Konzentrationsschwierigkeiten nur in Zusammenhang mit Tätigkeiten haben, die sie als uninteressant erleben. Den Kern der ADHS bildet eine sogenannte Selbstregulierungsproblematik. ADHS-Betroffene stehen meist auffällig "unter Strom" und berichten von innerer Unruhe, weil es ihnen sehr schnell langweilig werde. Sie brauchen "Kicks" (Stimulation), um sich konzentrationsfähig, wach und wohl fühlen zu können. Die Ursachen des ADHS werden im psychologischen Mainstream neuropsychologisch (Dopamin- und Noradrenalinmangelhypothese) und humangenetisch (v.a. Expression des Dopamintransportergens DAT 1 auffällig) begriffen (vgl. Krause, Dressel & Krause, 2000). Somit stellt sich ADHS als eine Veranlagung dar, die in Abhängigkeit von spezifischen Umweltbedingungen zu Verhaltensproblemen und einem emotionalen Leidensdruck führen kann.

In der Regel wird eine multimodale Behandlung aus Medikation, Elternberatung und Verhaltens- oder Funktionstherapie (z.B. heilpädagogische Therapie, Ergotherapie etc.) empfohlen (vgl. Döpfner & Lehmkuhl, 2002). Der tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Psychotherapie kommt im ADHS-Mainstream-Diskurs dagegen (bisher) eine eher randständige Rolle zu - sie verweist auf ein erweitertes Erklärungsmodell der ADHS, welches ätiologisch als ursächlich verstandene Beziehungserfahrungen beinhaltet und vom Mainstream hinsichtlich dieser ursächlichen Relevanz wiederum in Frage gestellt wird. Im psychoanalytischen Diskurs sind hier jedoch im Verbund mit der nun auch neurophysiologisch und humangenetisch entdeckten Beziehungshaftigkeit des Gehirns sowie sogar des Genoms zunehmend interessante Forschungsergebnisse zu finden (vgl. Leuzinger-Bohleber et al., 2006; Bovensieper et al., 2004).

Zwischen psychologischem Mainstream und Psychoanalyse gibt es einen grundlegenden Dissens zur Entstehen und damit auch zur adäquaten Behandlung der ADHS. Die unterschiedlichen Sichtweisen basieren dabei auf verschiedenen Forschungskontexten und zum Teil auch auf der Beschäftigung mit unterschiedlicher Klientel. Die psychologische Mainstream-Forschung arbeitet mit positivistischen, quantitativen Methoden der Verhaltensbeobachtung und entsprechend großen Stichproben. Unter diese Stichproben fallen auch relativ viele Kinder, die aufgrund der mittlerweile breit etablierten Klinifizierung von Schulproblemen Kontakt mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufnehmen und psychodynamisch gesehen tendenziell unauffällig sind. Die psychoanalytischen Forschungsergebnisse stammen dagegen aus qualitativen Studien, in denen Therapieverläufe von Kindern mit starken seelischen Problemen und in der Regel gravierenden biographischen Belastungen sehr genau bzw. einzelfallorientiert untersucht werden. Zusammenfassend kann somit festgestellt werden, dass es einerseits seelische Störungen gibt, welche durch das psychoanalytische Modell am besten erklärt (und behandelt) werden können, und dass es andererseits genetisch bedingte Aufmerksamkeitsstörungen gibt, welche ein Verhalten bewirken, das dem von seelisch bedingter Unruhe ähnlich sein kann. Es stellt sich daher die Frage, warum im klinischen Diskurs trotz der Berechtigung beider Sichtweisen so polarisiert um die Diagnose und Behandlung der Aufmerksamkeitsstörung gestritten wird.

Institutionelle Zusammenhänge von Schule, Jugendhilfe und Gesundheitssystem als materielle Basis des klinischen Diskurses der Aufmerksamkeitsstörung

Die Eltern ADHS-betroffener Kinder fürchten um die schulische, soziale und schließlich berufliche Zukunft ihrer Kinder. Der Übertritt auf eine weiterführende Schule wird meistens sehr schwer bis unmöglich. Deshalb drängen viele betroffene Eltern auf die Privatschulen, die kleinere Klassen, mehr pädagogische Förderressourcen und die Aussicht auf einen guten Schulabschluss bieten können. Hier entsteht bereits eine erste Chancenungleichheit, insofern, dass sich nur wohlhabende Familien die teuren Privatschulen leisten können. Die Mehrheit der Eltern versucht deshalb eine Kostenübernahme im Rahmen der Jugendhilfe zu erlangen. Dazu muss das Gesundheitssystem bemüht werden, denn die Jugendämter verlangen eine klinische Diagnose. Häufig wird die Diagnose im Vorfeld auch schon von den LehrerInnen nahe gelegt und Therapiemaßnahmen als Bedingung dafür gefordert, die Kinder auf der Schule zu halten. Die Therapie fungiert dabei strukturell gesehen als eine Anpassungsmaßnahme im Rahmen institutioneller Logik. Auch hinsichtlich der Organisation von Kostenübernahmen für Privatschulen, Fördermaßnahmen oder Therapien öffnen sich Scheren der ungleichen Chancen betroffener Familien. Vor allem die Eltern mit hoher Bildung und informell gut unterstützenden sozialen Netzwerken können sich durch den zunehmend komplizierter werdenden institutionellen Dschungel zur Kostenübernahme kämpfen. Von der Schule werden die Probleme betroffener Kinder dabei durchaus gesehen. Der schulische Veränderungsbedarf wird allerdings nur in Form pädagogischer Modelle bearbeitet. Die strukturellen Bedingungen des Schulsystems hinsichtlich Leistungsfeststellung und Selektion werden nur am Rande zur Disposition gestellt, bzw. deren Diskussion wird abgeblockt und als kontraproduktiver, ideologischer Rest der 70er Jahre zurückgewiesen. In der Regel werden die Probleme auf Seiten der Schule genauso personalisiert wie auf Seiten der betroffenen Kinder, Jugendlichen und deren Familien: die LehrerInnen sollen pädagogisch kompetenter werden.

Angesichts des mittlerweile breiter gewordenen öffentlichen Interesses sowie des zunehmenden Widerstands von Eltern können die auffälligen und störenden Kinder nun nicht mehr ganz so leicht diszipliniert, sanktioniert und ausgegrenzt werden wie früher. Somit entsteht institutioneller Handlungsbedarf, um die etablierten Strukturen des Selektionssystems zu sichern. Berger-Luckmann folgend können hier die grundlegenden Mechanismen "Therapie" und "Nihilierung" beobachtet werden (Berger & Luckmann, 1987, S. 121ff.). Zum einen fokussiert der ADHS -Diskurs in erster Linie Therapiemethoden, Verhaltenstraining und pädagogische Maßnahmen, oder - was zunehmend weniger funktioniert - die Probleme der betroffenen Kinder und Familien werden hinsichtlich ihrer umweltbedingten Ursachen negiert und gänzlich in die Kinder oder die innerfamiliären Bedingungen verlagert. Dagegen wehren sich die betroffenen Eltern zunehmend, indem sie sich in Elterninitiativen organisieren. Im Zentrum deren Bemühens steht dabei die Zurückweisung von Schuldzuschreibungen und damit verbunden die Anerkennung der ADHS als einer biologisch begründeten Störung - oder nicht-pathologisierend formuliert: als einer Verhaltensdisposition, die weder auf Erziehungsfehlern noch auf schlechten Charaktereigenschaften beruht (vgl Krause, 2003). Weiterhin fordern die Elterninitiativen einen analogen Nachteilsausgleich wie für die Legasthenie. Dies wird von Seiten der Schule konsequent abgewiesen. Man stelle sich vor, wie viele SchülerInnen dann einen Nachteilsausgleich erhalten müssten - sicherlich wäre dann die Grenze überschritten, jenseits derer das selektive Schulsystem ad absurdum geführt wäre und unter seinen Widersprüchen einbrechen müsste.

Da die institutionellen Widersprüche der Schule zwischen Förderung und Selektion mit gesamtgesellschaftlichen Widersprüchen und Ungleichheiten der Ressourcenverteilung zusammenhängen, verunsichern die Probleme konzentrationsschwacher Kinder das etablierte Schulsystem. An der Stelle springen die Jugendhilfe und das Gesundheitssystem ein. Jugendhilfe und Gesundheitssystem stellen Ressourcen in Form von Diagnostik sowie Therapie bereit, und die Schule wird hinsichtlich ihres Förderauftrages finanziell entlastet. Doch das ist nicht alles. Das Gesundheitssystem bedient auch eine ideologische Strategie, welche eine Verlagerung von Betrachtungsweisen zur Folge hat - von der institutionellen Logik hin zur Diskursivierung und Behandlung von Schulproblemen als ein medizinisch-psychologisches Phänomen. Die Ursachen der Probleme werden unter medizinisch-psychologischem Blickwinkel individualisiert. Das heißt nicht, dass die entsprechenden Forschungsergebnisse medizinisch-psychologischer Wissenschaft immanent falsch wären. Doch der diskursive Effekt der Medizinalisierung, Psychologisierung und Pathologisierung von Aufmerksamkeitsschwierigkeiten kann kritisiert werden, insofern durch ihn institutionelle Verschleierungsstrategien der schulsystemimmanenten Entstehungsbedingungen des Leidensdrucks betroffener Kinder bis hin zur Stabilisierung gesamtgesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und ungleicher Ressourcenverteilungen bedient werden.

Die Phänomene um den Begriff ADHS werden letztlich mit Hilfe eines gesellschaftlich dekontextualisierten Subjektbegriffs im Rahmen eines klinischen Diskurses verhandelt. Nachfolgend soll kurz dargestellt werden, welche impliziten Menschenbilder im ADHS-Diskurs verwendet werden.

Subjektbegriffe des ADHS-Diskurses: Anthropologisierung versus Selbstmanagement in einer flexibilisierten Gesellschaft

Selbst innerhalb des klinischen Diskurses ist umstritten, inwieweit ADHS notwendig als eine Krankheit bezeichnet werden sollte. Die Ausprägung der ADHS ist variabel, und statt einer Krankheit bezeichnet der Begriff eher eine Erlebens- und Verhaltendisposition im Sinne konstitutionstheoretischer Persönlichkeitspsychologie. Im populärwissenschaftlichen Sprachgebrauch werden ADHS-Betroffene z. B. bevorzugt als "Jäger in einer Gesellschaft von Farmern" bezeichnet (vgl. Barkley, 2005). Damit ist gemeint, dass diese aufgrund ihrer sprunghaften Reizsuche gute JägerInnen wären. Sie würden auf Reizwechsel besonders sensibel reagieren und - man stelle sich eine urzeitliche JägerIn vor - würden dadurch mit hochgradig geschärften Sinnen das Wild besonders gut ausmachen und verfolgen können sowie aufgrund ihrer Impulsivität die Beute in einem wilden Kampf besonders effizient zur Strecke bringen. Die Jagd entspreche ihrem Bedürfnis nach schnellen Kicks. Diesem Bild eines jägerischen, naturhaften Charakters steht das Bild des Farmers gegenüber, der über einen langen Zeitraum hinweg Geduld und Ausdauer benötige. ADHS-Menschen seien so gesehen schlechte Farmer, weil das langwierige Bestellen der Felder überhaupt nicht ihr Fall sei. Nun ist dieser Vergleich zwar offensichtlicher Unsinn hinsichtlich der Tatsache, dass unsere Industriegesellschaft des 21. Jahrhunderts sicherlich keine Gesellschaft von FarmerInnen ist, aber es kann aus diesem Vergleich der heuristische Gewinn abgeleitet werden, dass ADHS-Betroffene spezifische Fähigkeiten haben. Der Begriff der Störung wird zu einer spezifischen Begabung umdefiniert, ADHS- Menschen wird ein besonders hohes Maß an Kreativität oder Engagement bescheinigt. Gewissermaßen wird hier ein ADHS-spezifisches Subjekt konstruiert. Die Konstruktion von Subjekten ist genuin ein gesellschaftliches Phänomen, und von Interesse ist dabei die Theoretisierung eines Innen und Außen der subjektiven Wirklichkeit.

Unter diesem Blickwinkel wundert es nicht, das ADHS auf den Psycho-Märkten mittlerweile ein immer größeres Geschäft wird. Der Gegenstand der Therapien - ob pharmakologisch, kognitionspsychologisch oder esoterisch - ist dabei stets eine Harmonisierung von inneren Zuständen, also ein subjektimmanenter Prozess. Auf einer soziologischen Ebene kann hierbei nach dem Zusammenhang des ADHS-Diskurses mit gesellschaftlichen Konstruktionen von Individualität bzw. Identität gefragt werden. Auf der Grundlage eines "realen Umbaus von Subjektbildungsprozessen" (Keupp, 1997, S.15) in einer flexibilisierten Gesellschaft werden an die Individuen spezifische Anforderungen hinsichtlich ihres Erlebens von Kohärenz und Identität gestellt. Sie müssen stetig die "Passung" (vgl. Keupp, 1999) zwischen ihrem inneren Erleben und den sich verändernden und widersprüchlicher werdenden äußeren gesellschaftlichen Bedingungen herstellen. Daraus resultiert die Notwendigkeit einer "Identitätsarbeit" (vgl. Keupp, 1997), in der das Individuum wie eine Art ManagerIn seiner selbst zu fungieren hat. Interessant ist an der Stelle, dass einer der zentralsten verhaltenspsychologischen Begriffe im klinischen ADHS-Diskurs "Selbstmanagement" ist. Die Formen und Inhalte des ADHS-Diskurses - sowie auch des Konzepts von Aufmerksamkeit an sich (vgl. Crary, 2002) - können somit als Spiegel veränderter gesellschaftlicher Notwendigkeiten der Subjektbildung verstanden werden.

Klinifizierung kindlicher Erlebens- und Verhaltensweisen zur Gewährleistung des Rechts auf Chancengleichheit in der neoliberalen Gesellschaft

Die Klinifizierung von Schulproblemen ist aus institutionellen Gründen notwendig, um im Rahmen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse die Rechte betroffener Kinder auf Chancengleichheit gewährleisten zu können. Diese Verhältnisse sind durch eine zunehmende Ungleichverteilung von Ressourcen und Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen geprägt. Die Klinifizierung von Schulproblemen wirkt dabei in zwei Richtungen. Einerseits werden mit Hilfe der Klinifizierung die schulischen Selektionsmechanismen blockiert. Man denke hier nur daran, dass früher Schulschwierigkeiten von Kindern aus armen Familien nicht zur psychologischen Abklärung führten, sondern zur "Einsicht in die Notwendigkeit, das Kind als dumme, ungelernte Arbeitskräfte dem Markt zur Verfügung stellen zu müssen" (Weber, 2002, S.140). Andererseits wirkt die Klinifizierung im Rahmen einer "Normalisierungsfalle" (ebd. S. 141): Die Kinder fallen in der Schule auf, LehrerInnen sind unzufrieden, der schulische Abstieg droht und Eltern müssen - sofern sie sich gegen drohende institutionelle Sanktionen wehren möchten - hinnehmen, dass ihre Kinder mit der Bezeichnung einer Krankheit etikettiert werden. Der daraus resultierende Leidensdruck auf Seiten der Familien kann nur bedingt durch Therapien aufgefangen werden, da diese dem Klinifizierungs- und Normalisierungsdiskurs immanent sind. Ein nachhaltig hilfreiches und notwendiges Mittel, um der Normalisierungsfalle hinsichtlich der zwangsläufigen Gefühle von Verunsicherung, Angst, Selbstzweifel zu entkommen, sind dabei nicht nur die Aneignung von klinischem oder pädagogischem Wissen, sondern auch die "Reflexion (der) ideologischen Grundmechanismen des Normalisierungsdiskurses" (ebd.). D.h., es ist notwendig, ADHS als eine Konstruktion zu verstehen, die Kinder mit Schulschwierigkeiten vor dem Zugriff der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse schützt und gleichermaßen in diese über einen Normalisierungsdiskurs einbaut. Im Rahmen einer kritischen Praxis der Erziehungsberatung können mit betroffenen Eltern (und Kindern) über therapeutische Hilfsangebote hinaus diese gesellschaftlichen Zusammenhänge gemeinsam reflektiert werden. So gesehen leistet Erziehungsberatung im Sinne des Empowermentansatzes einen Beitrag zur 'Selbstermächtigung’ ratsuchender Eltern, Jugendlicher und Kinder.

Literatur

Barkley, R. A. (2005). Das große ADHS-Handbuch für Eltern. Göttingen: Hans Huber.

Berger, P. & Luckmann, T. (1987) (Orig. 1969). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer.

Bovensieper, G. et al. (Hrsg.) (2004). Unruhige und unaufmerksame Kinder. Psychoanalyse des hyperkinetischen Syndroms. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.

Crary, J. (2002). Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Döpfner, M. & Lehmkuhl, G. (2002). Evidenzbasierte Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 6/02, 419-440.

Herriger, N. (2010). Empowerment in der Sozialen Arbeit: Eine Einführung. Kohlhammer.

Keupp, H. (1997). Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung. In H. Keupp & R. Höfer, Identitätsarbeit heute (S. 11-39). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Keupp, H. (1999). Identitätsarbeit in einer multiphrenen Gesellschaft - Wenn die Passungen zwischen Subjekt und Lebenswelt immer schwieriger werden. Sozialpsychiatrische Informationen, 29 (1), 7-15.

Krause, J. (2003). Überleben mit hyperaktiven Kindern. Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/Hyperaktivität e.V.

Krause, K-H., Dressel, St. & Krause, J. (2000). Neurobiologie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Psycho, 26 (4), 199-208.

Leuzinger-Bohleber, M. et al. (Hrsg.) (2006). ADHS - Frühprävention statt Medikalisierung. Theorie, Forschung, Kontroversen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Miller, T. & Pankofer, S. (2000). Empowerment konkret! Handlungsentwürfe und Reflexionen aus der psychosozialen Praxis. Lucius & Lucius.

Rappaport, J. (1984). Studies in Empowerment: Steps Toward Understanding and Action. Haworth Press Inc.

Weber, K. (2002). Wann ist (m)ein Kind normal? Oder: Wie Erziehungsratschläge Verwirrung stiften. Forum Kritische Psychologie, 45, 131-146.

Autor

Markus Fellner
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Dr. phil. Dipl.-Psych., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Psychologischer Psychotherapeut, Familientherapeut DGSF, Mitarbeiter an der Erziehungsberatungsstelle Germering, in eigener Praxis niedergelassen in München.



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