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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 19 (2014), Ausgabe 1]

Schwerpunkt: Interkulturelles

Die vorliegende Ausgabe des Forum Gemeindepsychologie nutzt als Sammelbegriff die "altmodische" Überschrift "Interkulturelles". Dies durchaus im Bewusstsein, dass der Fachdiskurs viel berechtigte Kritik an diesem Begriff formuliert. Diese Kritik findet sich auch in den drei Beiträgen dieser Ausgabe wieder. Trotzdem erscheint uns der Begriff für die Überschrift passend, da die herrschende gesellschaftliche Diskussion auf die Begegnung zwischen scheinbar unterschiedlichen Kulturen fokussiert, wenn beispielsweise von schuldistanzierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Rede ist. Hier wird eben nicht die ökonomische Lage oder das Geschlecht als Unterscheidungsmerkmal betrachtet, sondern die ethnische Abstammung.

In der Diskussion in Deutschland wird in der Folge dieser dualen Polarisierung das Zusammenleben verschiedener Kulturen häufig als Bedrohung ("Überfremdung") oder zumindest als Problem ("Integrationsproblematik") thematisiert. In der Debatte um das Zusammenleben verschiedener Kulturen in Deutschland wird außerdem Integrationskompetenz vor allem von den MigrantInnen erwartet, nicht von der Mehrheitskultur. Erst in den letzten Jahren wächst die Anzahl der Studien, in denen die Bereitschaft der Angehörigen der Mehrheitskultur Deutschland als Einwanderungsland anzuerkennen, untersucht wird. Ergebnisse der Studien zeichnen ein dramatisches Bild hinsichtlich gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer 2012): es zeigen sich rassistische Tendenzen bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Es scheint nach wie vor dringend geboten, sich Gedanken über die notwendigen Bedingungen für ein gelingendes Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft zu machen. Diesen Bedingungen untersuchen die drei AutorInnen unserer Ausgabe im psychosozialen Feld und diskutieren kritisch die Möglichkeiten.

Ilhami Atabay zeigt in seinem Beitrag Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterKritische Anmerkungen zum Thema "interkulturell" im psychosozialen Kontext, dass sich der Diskurs in psychosozialen Einrichtungen, wenn es um deutsche MitbürgerInnen mit Migrationshintergrund geht, primär auf deren Herkunftskultur bezieht. Hybride Identitäten, also Vermischungen mit der deutschen Kultur, werden kaum thematisiert. Gegenseitige polarisierende Zuschreibungen wie zum Beispiel "die Deutschen" vs. "die Türken" halten das herrschende System in der Mehrheitskultur sowie in der Minderheitenkultur aufrecht und verhindern den Blick auf die Differenzen innerhalb der Kulturen sowie auf die Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen. In den Diskursen zu "Diversity" "Transkulturalität" und "Intersektionalität" wird diese eingeengte Perspektive auf einen ethnisch geprägten Kulturbegriff, der häufig als alleinige Ursache für konflikthafte Kommunikationsstrategien gesehen wird, als "Kulturalisierung" oder "versteckter Rassismus" kritisiert.
Ein notwendiger Schritt wäre die Dekonstruktion der Zuschreibungen, indem unter anderem die Differenzen in der jeweiligen Kultur fokussiert werden. Dafür ist es hilfreich, neben der Dimension der Kultur auch die Dimensionen Geschlecht, Alter, soziale Schicht zu berücksichtigen. Diese Dimensionen verlaufen quer zu der kulturellen Dimension im engeren Sinne und schaffen damit Verbindungen über Ethnien hinweg und ebenso Differenzierungen innerhalb der jeweiligen Herkunftskultur.

Die transkulturelle Kommunikationskompetenz untersucht Elisabeth Zultner in ihrem Beitrag Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterDie Bedeutung des (Trans-)kulturellen in der psychotherapeutischen Beziehung. Sie betont insbesondere die Verzahnung von persönlicher Qualifikation und Veränderung der institutionellen Strukturen. Ein multikulturelles Team beispielsweise fördert die Sensibilität für Rassismus, weil er auf der kollegialen Ebene einfacher sichtbar wird als in der durch vielfältige Machtdifferenzen durchzogenen Beziehung zu den KlientInnen. Zudem wird von der Autorin mehr Wissen über ausländerrechtliche Bestimmungen und Migrationshintergründe gefordert, um die dadurch bedingten Probleme bei KlientInnen zu erkennen und nicht ihrer Individualität oder ihrer kulturellen Zugehörigkeit zuzuschreiben. Spezifisches Wissen über einzelne Kulturen sei eher unwichtig - so eine ihrer Thesen -, da es eine Vielzahl von fremden Kulturen in Deutschland gibt. Sehr sinnvoll kann jedoch die exemplarische Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur sein, um verallgemeinerbare Erfahrungen zu sammeln. Hier wird der Prozesscharakter inter- bzw. transkultureller Kommunikation betont: Fremdes und eigenes Verhalten wird in der Interaktion hergestellt, reproduziert und verändert.

Aus der Idee des Empowerment gespeist wird das Patenschaft- Projekt, das Christiane Perzlmaier in Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterSchwarz auf Weiß ... Potentiale von Patenschaften mit Familien aus sub-saharischen Ländern und deutschen Ehrenamtlichen vorstellt. Afrikanische Familien und deutsche Paten begegnen sich im familiären Raum auf Augenhöhe. Die Familienpatenschaften ermöglichen den Kindern, dass sie die Lebensweise, die gelebten Werte und Normen der Herkunftskultur ihrer Eltern und der westlichen Kultur nicht nach innerfamiliären und außerfamiliären Räumen aufspalten müssen. Durch die Besuche des Paten erleben sie beide Systeme innerhalb ihres familiären Nahfeldes. Am Beispiel der Begegnung zweier Kulturen im Rahmen der Patenschaften wird einmal mehr deutlich: Nur wer die Möglichkeit und die Fähigkeit hat, sich von den eigenen Werten, Normen und kommunikativen Verhaltensweisen zu distanzieren und sich damit ihrer bewusst zu werden, kann Fremdes und Eigenes jenseits einer ausschließenden Dualität verstehen und im Fremden Interessantes und Wertvolles entdecken.

Ralf Quindel (für die HerausgeberInnen)

Literatur

Heitmeyer, W. (2012). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10 (S. 15-41). Frankfurt/Main: SV-Verlag.



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