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Sexualität im Spannungsfeld von Stereotypen, Fremdenfeindlichkeit und konkreten Bedarfen - Sexualpädagogische Notizen aus der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Bernd Christmann
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 21 (2016), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

In der öffentlichen Debatte zur sogenannten "Flüchtlingskrise" offenbart sich eine Vielzahl fremdenfeindlicher oder xenophober Vorurteile und Stereotype. Diese weisen nicht zuletzt stark sexualitätsbezogene Aspekte auf. Anhand von Beobachtungen aus der sexualpädagogischen Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen werden "ethnosexuellen" Grenzziehungen und damit verbundene Diskriminierungen konkrete pädagogisch-therapeutische Bedarfe dieser hoch marginalisierten Gruppe gegenübergestellt.

Schlüsselwörter: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Sexualpädagogik, ethnosexuelle Grenzziehungen

Summary

Sexuality in a field of tension between xenophonia, stereotyping and concrete needs - notes from sex education workshops with unaccompanied minor refugees

The public debate on the so called "refugee crisis" reveals a multitude of anti-immigrant or xenophobic stereotypes which also exhibit aspects closely related to sexuality. Based on observations from sex educational social work with unaccompanied minor refugees such "ethnosexual" boundaries, and the discriminations that go along with them are being contrasted with concrete educational and therapeutical needs of this highly marginalized group.

Keywords: unaccompanied minor refugees, sex education, ethnosexual boundaries

Einleitung

Die "Flüchtlingskrise" kann als das bestimmende gesellschaftspolitische Thema des Jahres 2015 bezeichnet werden. Die darüber entstandene Debatte über adäquate politische Reaktionen auf die große Zahl Flüchtender und Asylsuchender ist so kontrovers wie facettenreich. Ihre extremen Ausprägungen manifestieren sich in Hilfsbereitschaft und Solidarität, wie sie etwa von ehrenamtlichen und professionellen Helfer_innen praktiziert werden, und andererseits unverhohlener Fremden- und Menschenfeindlichkeit, deren Verwirklichung in Form von Brandanschlägen und anderen Gewaltakten wenig Zweifel in Bezug auf ihre Radikalität zulässt. Dazwischen ist die Debatte jedoch reich an Zwischentönen, die sich in unterschiedlichen argumentativen Strängen nachverfolgen lassen. Primär beziehen sich diese sicherlich auf die schieren materiellen Probleme, die sich für die Kommunen aus den Erfordernissen der Beherbergung und Versorgung großer Personengruppen ergeben. Im Zusammenhang damit stehen Fragen nach der Verteilung der Menschen, nach finanziellen Zuständigkeiten sowie Diskussionen über asylrechtliche Regelungen und Integration. Am Konstrukt "des Flüchtlings" entfaltet sich dabei ein gesellschaftliches Spannungsfeld, innerhalb dessen die Flüchtenden zur Manövriermasse verschiedener politischer und ökonomischer Interessen zu werden drohen und die individuelle Haltung zur "Flüchtlingsfrage" zunehmend den Charakter eines Lackmustests politischer Gesinnung annimmt (vgl. Scherr, 2015). Während ökonomische und politische Themen den Beginn der Debatte prägten, wird sie zunehmend von fremdenfeindlichen Argumenten dominiert, die wiederum stark sexualisierte Komponenten beinhalten. Als Teil einer politischen Dimension von Sexualität sollen diese hier aus sexualpädagogischer Perspektive diskutiert werden. Notizen und Beobachtungen des Autors aus der praktischen Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (umF) bilden dabei den Ausgangspunkt für eine Benennung konkreter Bedarfe gegenüber sexuellen Stereotypisierungen. Daran anknüpfend werden mögliche Beiträge von sexueller Bildung zu einer umfassenden pädagogischen Begleitung und sozialen Integration skizziert. Gleichsam ist dies als Plädoyer gegen fremden- und sexualitätsfeindliche Instrumentalisierungen zu verstehen.

Sexualität und Fremdenfeindlichkeit - Theoretische Zugänge

Die sozialwissenschaftliche und -psychologische Beschäftigung mit Vorurteilen und Stereotypen ist durch weit zurückreichende und vielfältige Forschungstätigkeit geprägt (für einen Überblick vgl. Dovidio et al., 2013). Theoretische Zugänge für eine Rahmung der "Flüchtlingskrise" hinsichtlich der sozialen Reaktionen in den Aufnahmeländern lassen sich etwa im Bereich der Rassismusforschung herstellen. Zwar wurden dort Perspektiven auf immigrationsbezogene Ausprägungen von Vorurteilen und die damit zusammenhängende Emergenz sozialer Konflikte entwickelt (vgl. Wagner et al., 2013), für die hier vorgetragenen Überlegungen erweist sich jedoch ein weitgehendes Fehlen sexualitätsbezogener Variablen in diesem Forschungszweig als Hindernis für die Herleitung eines theoretischen Grundgerüstes. Unmittelbar weiterführend ist auch nicht der Blick auf die Sexismusforschung, die für eine Engführung auf die vorliegende Problemstellung nicht die geeigneten analytischen Kategorien bereitzuhalten scheint, um die Zusammenhänge zwischen fremdenfeindlichen und sexualitätsbezogenen Stereotypisierungen zu beschreiben (vgl. Glick & Rudman, 2013). So finden sich in der öffentlichen Debatte zur "Flüchtlingskrise", wie sie in digitalen sozialen Netzwerken, in den on- und offline Leserbrief-und Kommentarspalten von Zeitungen und Magazinen und bei Kundgebungen oder Demonstrationen stattfindet, zahlreiche Belege für eine spezifisch sexualisierte Artikulation fremdenfeindlicher bzw. xenophober Ressentiments. Die Argumentationsketten gehen dabei von einer überproportional großen Anzahl (junger) Männer unter den Flüchtenden aus, denen intensive sexuelle Bedürfnisse bzw. ein unkontrollierter Sexualtrieb attribuiert werden.1 Im Weiteren werden ihnen Annäherungsversuche gegenüber deutschen Frauen und Mädchen unterstellt und sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Es wird ein amorphes Bild des "fremden Mannes" erzeugt, das ihn als primitives und kulturell rückständiges Triebwesen darstellt. In milderen Varianten trägt es die karikaturartigen Züge eines lästigen und sexuell ungebildeten Tölpels2, nimmt jedoch oft die Gestalt des sexuell devianten Gewalttäters an. Eine sachliche Unterscheidung zwischen tatsächlichen und imaginierten sexuellen Übergriffen erübrigt sich dadurch. Für diese Muster liefert die von Nagel (2000, 2003) entwickelte Figur der ethnosexuellen Grenzen einen Deutungsansatz. Sie beschreibt das Vorhandensein ethnozentrisch begründeter sozialer Grenzziehungen, die sowohl eine Sanktionierung sexueller Kontakte zwischen Gruppen wie auch Zuschreibungen bestimmter sexueller Merkmale und Verhaltensweisen an die Eigen- und Fremdgruppe beinhalten. Diese dienen gleichermaßen einer heteronormativen Aufwertung der "eigenen" Männer und Frauen als ehrbar, rein und triebkontrolliert wie einer Abwertung der "fremden" als pervers, triebgesteuert und übergriffig. In Anlehnung an die Nationalismustheorie von Anderson (1983) spricht sie von "sexually imagined communities" (Nagel, 2003, S. 140). Distinkte sexualitätsbezogene Vorstellungen seien dabei Teil nationaler Identitätskonstruktion und eng mit der historischen Entwicklung nationalstaatlicher Verfasstheit verbunden. Maßgebliche Funktionen der Sexualisierung von ethnozentrischen Grenzziehungen bestehen in einer Konstituierung und Unterscheidung von Eigen- und Fremdgruppe über das Intime sowie darin, Konflikte zwischen diesen Gruppen dadurch in höchstem Maße emotional aufzuladen. Sexuelle Diffamierung folgt dabei einer Agenda maximaler moralischer Abwertung als fremd oder bedrohlich kategorisierter Gruppen und dient der Legitimation ihrer Ausgrenzung oder Bekämpfung. Ein Überschreiten ethnosexueller Grenzen kann eine Verletzung nationaler Ehre oder eine Bedrohung der Volksgesundheit symbolisieren und mit Sanktionen belegt werden (vgl. Nagel, 2000). Auf die gegenwärtige "Flüchtlingskrise" bezogen lässt sich mit diesem Ansatz die Hypothese aufstellen, dass eine sexuelle Dämonisierung des "fremden Mannes" als ein Argument gegen die Aufnahme von Flüchtlingen fungiert und als wirkmächtiger Faktor im Zusammenhang mit der Legitimation von Gewalttaten gesehen werden muss.3 Orientiert sich die aggressivere Form ethnosexueller Begründungsmuster zwar primär an männlichen Flüchtlingen, sind Frauen gleichwohl von eigenständiger sexualisierter Stereotypisierung betroffen. Diese scheint weniger deutlich in Erscheinung zu treten, möglicherweise weil das Bild der "Flüchtlingsfrau" im Wesentlichen an Stereotype devoter und unterdrückter Migrantinnen anknüpft. Wird in der so charakterisierten "fremden Frau" zwar keine unmittelbare Gefährdung gesehen, beschwört die damit einhergehende Unterstellung unkontrollierten Reproduktionsverhaltens dennoch das Bedrohungsszenario einer Überfremdung qua Geburtenquote herauf (vgl. Benz, 2012). Fortpflanzungsbezogene Ethnosexualisierung, die die Triebhaftigkeit des "fremden Mannes" integriert, trägt ihrerseits Züge völkischen Gedankenguts und rassistischer Dehumanisierungsstrategien, etwa durch die notorischen Tiervergleiche in diesem Kontext. Dies setzt sich mit der unterstellten Verbreitung sexuell übertragbarbarer Krankheiten durch Flüchtlinge als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit fort.4 Ergänzend findet sich ein weiterer analytischer Referenzrahmen in der kulturgeschichtlichen Abhandlung von Henschel (2008), die am Beispiel des deutschen Antisemitismus die nationale Historie sexueller Stereotype nachzeichnet. Die hier dokumentierten Zuschreibungen sexueller Triebhaftigkeit und Perversion, die sich wesentlich von der vorgestellten Gier des jüdischen Mannes nach der deutschen Frau nährten, scheinen ansatzweise in der gegenwärtigen Situation wieder aufzutauchen und sich auf die Gruppe der Flüchtlinge zu erstrecken. Auch zum von Henschel als treibende Kraft feindseliger Stereotypisierung benannten Sexualneid finden sich Parallelen in der Debatte. So wird in der Zeitschrift des Philologenverbandes Sachsen-Anhalt gefragt: "Wie können wir unsere jungen Mädchen im Alter ab 12 Jahren so aufklären, dass sie sich nicht auf ein oberflächliches sexuelles Abenteuer mit sicher oft attraktiven muslimischen Männern einlassen?" (Mannke & Seltmann-Kuke, 2015, S. 2). Es ist jedoch zu diskutieren, ob dahinter nicht gleichermaßen eine generelle Sexualfeindlichkeit zu vermuten ist. So lässt sich eine inhaltliche Nähe zwischen flüchtlingsfeindlichen Gruppierungen und den Gegner_innen moderner Sexualpädagogik feststellen. Interessengruppen wie die "Besorgten Eltern" beschwören dabei eine Verletzung der unbeschadeten Entwicklung von Kindern durch die u.a. als "Genderwahnsinn" diffamierte sexuelle Aufklärung (vgl. Tuider & Timmermanns, 2015), wie u.a. Pegida-Anhänger_innen ihrerseits männliche Flüchtlinge als Sexualstraftäter stigmatisieren. Gemeinsam ist dem eine Konstruktion von bedrohlicher Sexualität unter Instrumentalisierung des Kindeswohls.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Kinder- und Jugendhilfe - Belastungsmerkmale und strukturelle Bedingungen

Vor dem Hintergrund des hier skizzierten theoretischen Bezugssystems soll der Fokus auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gerichtet werden. Als Adressat_innen der Kinder-und Jugendhilfe eröffnet besonders der enge Kontakt zwischen ihnen und pädagogisch-therapeutischen Fachkräften Perspektiven für ein Verständnis ihrer Belastungsmerkmale, aber auch ihrer Ressourcen und Aspirationen. Die deskriptive Terminologie mag zunächst zu einer Simplifizierung der sich dahinter verbergenden Komplexität verleiten. Folgt man Artikel 2 (i) der 2004 vom Rat der Europäischen Union beschlossenen Richtlinie Nr. 2004/83/EG, so fallen darunter:

 

"Drittstaatsangehörige oder Staatenlose unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines gesetzlich oder nach den Gepflogenheiten für sie verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen, solange sie nicht tatsächlich in die Obhut einer solchen Person genommen werden; hierzu gehören auch Minderjährige, die ohne Begleitung zurückgelassen werden, nachdem sie in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist sind."


Jenseits dieser scheinbaren begrifflichen Präzision und der Suggestion einer eindeutig klassifizierbaren Personengruppe verdeutlicht schon der Blick auf die rechtliche Situation das tatsächliche Ausmaß der Komplexität und Unklarheit. Hier befinden sich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in einer Gemengelage, in der sie sich u.a. mit Vertreter_innen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der Ausländerbehörde, der Jugendhilfe und des Sozialamts konfrontiert sehen. Damit sind sie Objekt unterschiedlicher Rechtsgebiete und deren z.T. widersprüchlichen Zielsetzungen und Handlungslogiken (vgl. Noske, 2015). Zwar hat die Berechtigung und Verpflichtung der Jugendämter zur Inobhutnahme unbegleiteter Minderjähriger durch die Änderung des § 42 SGB VIII im Jahr 2005 eine Verbindlichkeit geschaffen, in deren Folge eine kontinuierliche Entwicklung spezifischer Angebotsformen festzustellen ist (vgl. Espenhorst, 2011). Diese sind jedoch regional begrenzt verfügbar und in ihren Standards sehr unterschiedlich aufgestellt (vgl. Homfeldt & Schmitt, 2012). Der eher zögerliche Ausbau von Strukturen kann im Zusammenhang mit der im Gesamtkontext der Kinder- und Jugendhilfe vergleichsweise geringen Anzahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge gesehen werden. Der stetige und zuletzt starke Anstieg der Inobhutnahmen auf rund 11000 im Jahr 2014 (Noske, 2015, S. 9) zeigt die Notwendigkeit nachholender Entwicklung deutlich auf. Espenhorst (2014) weist allerdings Defizite bei der statistischen Erfassung nach.5 Klar scheint, dass bislang überwiegend Jungen und junge Männer unbegleitet nach Deutschland gelangen (Noske, 2015, S. 9). Mit Blick auf die unbegleiteten Minderjährigen, die als dezidierte Adressat_innen der Kinder- und Jugendhilfe im Vergleich etwa zu begleiteten Flüchtlingskindern über eine deutlich engere Einbindung ins Sozialsystem verfügen (vgl. Scherr, 2014), wird etwa von Noske (2015, S. 3) ein weitgehendes Fehlen der vom UNHCR eingeforderten "durable solutions" konstatiert. Es lassen sich jedoch aus den Erfahrungen aus der Arbeit mit ihnen als intensiv adressierte Gruppe wesentliche Ableitungen für die gesamte Flüchtlingsarbeit ziehen. Der Blick auf die Position unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe muss dazu über strukturelle Schwierigkeiten hinaus auf ihre Belastungsmerkmale gerichtet werden. Diese bilden ein Faktorengeflecht, das in seinem Zusammenwirken kaum zu durchdringen und auch nicht in eine pauschale Hierarchie der Schweregrade zu bringen ist. Die mit dem Verlauf der Flucht und dessen Vorgeschichte verbundenen existenziellen Bedrohungsszenarien sowie die für die Kategorisierung als "unbegleitet" maßgebliche Trennung von familiären Bezugspersonen werden als sequentielle Traumatisierung bezeichnet (vgl. Derluyn & Broekaert, 2008). Im Sinne medizinisch-psychologischer Diagnostik lässt sich dies nur schwer ausdifferenzieren. So gelten unspezifische somatische Beschwerden als häufige Symptome (vgl. Sourander, 1998). Nowotny (2015) schätzt, dass ca. 30% der Jugendlichen Merkmale einer posttraumatischen Belastungsstörung aufweisen. Ebenso weist er auf ein infolge unzureichender hygienischer und medizinischer Bedingungen in den Herkunftsländern und während der Flucht erhöhtes allgemeines Infektionsrisiko hin. Auf Risikobedingungen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt sowie sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten (STI) wird im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch vertiefend eingegangen. Angesichts dieser Mehrfachbelastung ist es für die Arbeit mit unbegleiteten Minderjährigen dennoch geboten, den Blick für Resilienz und individuelle Ressourcen nicht zu verlieren (vgl. Oswald, 2015). Deren Aktivierung erscheint zudem wesentlich für die Bewältigung der weiteren Herausforderung, als die sich das Interagieren innerhalb einer unbekannten sozialen Umgebung unter den zunächst bestehenden Limitierungen durch die Sprachbarriere, die Konfrontation mit Regularien und Normierungen und die Abhängigkeit von Fremden erweisen. Letzteres spiegelt nicht nur den Verlust familiärer Netzwerke wider, es kommt darin auch eine fluchtbiographische Widersprüchlichkeit zum Ausdruck: Das Maximum an Autonomie, das die jungen Menschen sich unterwegs aneignen mussten, wird extrem reduziert (vgl. Derluyn & Broekaert, 2008). Zudem wird vor allem die über viele Jahre hinweg ungewisse Bleibeperspektive und die entsprechend erschwerte bis unmögliche Zukunftsplanung als Belastung empfunden (vgl. Noske, 2015). Dieser problematische Status kann auch einer fehlenden Anwaltschaft zugeschrieben werden. Wird auf individueller Ebene versucht, diese z.B. durch Vormünder zu realisieren, so ist als übergeordneter Akteur vor allem der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (B-UMF) zu nennen. Aber auch in den Wohlfahrtsverbänden haben sich Positionen entwickelt, die sich für ein Primat des Kinder- und Jugendhilferechts gegenüber dem Ausländerrecht stark machen (vgl. Scherr, 2014). U.a. solchen Impulsen ist es auch zu danken, dass sich allmählich die Forschungsliteratur erweitert, wenngleich sexualitätsbezogene Fragestellungen nach wie vor fehlen.

Sexualpädagogische Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Die politische Dimension von Sexualität, wie sie hier anhand von Praxisbeobachtungen aus der sexualpädagogischen Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in spezialisierten stationären Einrichtungen entfaltet werden soll, bedarf weiterer Anmerkungen. Analog zu Sielerts (2005) Definition von Sexualpädagogik als Aspektdisziplin der Sozialpädagogik hat diese sich auch eine Nische im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe geschaffen. Dabei ist sie herausgefordert, zwischen der Anerkennung sexueller Themen als fester Bestandteil des Bildungsanspruchs von Heranwachsenden, einer sich auf die Vermittlung biologischer Vorgänge und präventiver Botschaften reduzierenden Legitimation sowie wiederkehrenden Tabuisierungstendenzen zu lavieren (vgl. Valtl, 2013). So haben sich in den letzten Jahren immer wieder Gruppierungen wie die "Besorgten Eltern" oder die "Demo für Alle" vor dem Hintergrund radikal heteronormativer Auffassungen gegen sexualpädagogische Methoden und Positionen mobilisiert (vgl. Tuider & Timmermanns, 2015). Als jüngster Impuls zur Etablierung sexualpädagogischer Angebote lässt sich demgegenüber die Aufforderung des UBSKM werten, Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen konsequent sexualpädagogisch zu flankieren (vgl. UBSKM, 2013). Damit erfolgt auch eine Würdigung sexualpädagogischer Professionalität und des Bedarfs entsprechender Qualifikationsmerkmale bei Fachkräften. Hat sich nun für die sexualpädagogische Arbeit im stationären Bereich auch zunehmendes Forschungsinteresse entwickelt (vgl. Mantey, 2015), sind Heimeinrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge diesbezüglich weitgehend unerforscht und verfügen ihrerseits als vergleichsweise junger Bereich der Kinder- und Jugendhilfe über einen noch überschaubaren eigenständigen professionellen Erfahrungsschatz. Als Indikator dafür sei auf von hier tätigen Fachkräften vorgebrachte Unsicherheit in Bezug auf das Benennen sexueller Themen gegenüber ihren Adressat_innen verwiesen, die etwa durch die Kooperation mit externen Sexualpädagog_innen aufzulösen versucht wird. Findet sich solche Unsicherheit zwar in allen pädagogischen Kontexten, so wird sie hier explizit mit dem kulturellen und religiösen Hintergrund der Adressat_innen begründet. Dabei ist eine reziproke Dynamik zwischen Jugendlichen und Fachkräften zu beobachten, deren genaue Modalitäten schwer auszumachen sind. Es ist zu hinterfragen, ob der Verweis auf religiöse oder kulturelle Tabus durch Fachkräfte eher Ausdruck stereotypisierender Zuschreibungen bzw. ihres eigenen Unbehagens gegenüber sexuellen Themen ist oder tatsächlich genuiner Ausdruck religiös-kultureller Überzeugungen der Jugendlichen. Als Praxiseindruck zumindest lässt sich schildern, dass eine einladend und informierend vorgetragene Vorstellung sexualpädagogischer Angebote schnell Interesse wecken und zur Beteiligung motivieren kann. Im sexualpädagogischen Dialog mit den Jugendlichen wiederum machen diese von sich aus Religion oder Kultur nicht unbedingt zu prägnanten Themen. Hierbei erweisen sich die inhaltlichen Säulen des Paradigmas der sexuellen Bildung als grundsätzlich tragfähiges Fundament (vgl. Valtl, 2013). So kann die wertschätzende Anerkennung der Teilnehmenden als gleichwertige Mitgestalter_innen eines dialogischen Bildungsprozesses, die sich in der Ermöglichung partizipativer Einflussnahme auf den Gesprächsverlauf ausdrücken sollte, als wesentliche Bedingung markiert werden. Auch an die Ansätze der interkulturellen Sexualpädagogik lässt sich anknüpfen, etwa durch Bezugnahme auf einschlägige Begriffe aus den jeweiligen Muttersprachen (vgl. Wronska & Kunz, 2013). Es ist jedoch zu bedenken, dass auch ein explizit kultursensibles Selbstverständnis dazu führen kann, ethnosexuelle Stereotype zu perpetuieren, indem es Eigen- und Fremdgruppenzuschreibungen unreflektiert übernimmt oder die Salienz kulturell-religiöser Themen für den/die individuelle/n Adressat_in überschätzt. Dies zeigt etwa Bredström (2005) in einer kritischen Analyse schwedischer Aufklärungsmaterialien für Migrant_innen. Ebenso seien unter Verweis auf die Befunde einer kanadischen Studie (Lee & Brotman, 2011) mögliche Zusammenhänge zwischen Flüchtlingsstatus und der Selbstdefinition als Angehörige_r einer sexuellen Minderheit angesprochen, die zu einer Vervielfältigung von Stereotypisierungs- und Diskriminierungstendenzen führen und eigenständige Formen der Marginalisierung erzeugen können. Hier besteht die Notwendigkeit, neben ethnosexuellen auch heteronormative Stereotype professionell zu reflektieren.

Konkrete Bedarfe und Ressourcen

Angesichts der Zerrbilder, die die Konturen ethnosexueller Fremdenfeindlichkeit in der öffentlichen Debatte abbilden, ist die Identifikation konkreter sexualitätsbezogener Bedarfe herausfordernd und notwendig. Der Versuch einer Bestandsaufnahme ist dabei insofern als Paradoxon zu sehen, als er mangels Autonomie und Repräsentanz der Adressat_innen nur in begrenztem Maße als tatsächliche Bedarfsartikulation verstanden werden kann. Er beruht im Folgenden stattdessen auf soweit verfügbaren empirischen Befunden sowie wiederum auf Beobachtungen aus sexualpädagogischer Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.

Sexuelle Gewalt: Die Aufforderung des UBSKM und der Familienministerin in Flüchtlingsunterkünften Standards zum Schutz vor sexueller Gewalt zu etablieren (vgl. UBSKM, 2015), verweist auf eine zentrale Herausforderung für die Hilfesysteme. Die hier getroffene Feststellung, dass insbesondere Kinder und Frauen unter den Bedingungen provisorischer und auch dauerhafter Flüchtlingsunterkünfte6 einem hohen Risiko ausgesetzt seien, Opfer sexueller Gewalt zu werden, richtet den Fokus auf ein ganzes Bündel spezifischer Viktimisierungsrisiken. Das empirisch als überdurchschnittlich hoch belegte Ausmaß an sexuellen Gewalterfahrungen von Flüchtlingen lässt sich u.a. auf die Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen im Heimatland, Schutzlosigkeit in Flüchtlingsunterkünften sowie auf sexuelle Ausbeutung während der Flucht zurückführen (vgl. Keygnaert et al., 2012; Vu et al., 2014). Auch die in manchen Herkunftsländern kulturell verankerten Formen ritualisierter Gewalt, wie die sog. Genitalbeschneidung bei Mädchen (vgl. Seyler, 2011), müssen als spezifische Form sexueller Gewalterfahrung mitberücksichtigt werden. Gleichzeitig besteht angesichts der sich im Wesentlichen auf die Gewalterfahrung von Frauen beziehende Empirie ein Forschungsdesiderat, Viktimisierungsrisiken für männliche Flüchtlinge in den Blick zu nehmen. Die existierenden Befunde sind in der Arbeit mit unbegleiteten Minderjährigen in mehrfacher Hinsicht zu bedenken - so zunächst in Bezug auf (trauma-)therapeutischen und/oder (sexual-)pädagogischen Unterstützungsbedarf von Kindern und Jugendlichen mit Gewalterfahrung. Umgekehrt darf jedoch sexuell übergriffiges Verhalten nicht übersehen oder exkulpiert werden. Diesbezüglich sind empirische Hinweise weniger aufschlussreich. Keygnaert et al. (2012) weisen zwar für einen großen Anteil der befragten Frauen sexuelle Übergriffe durch andere Flüchtlinge nach, dieser Befund aus einer Erwachsenen-Stichprobe lässt sich jedoch nicht nahtlos auf die Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen übertragen, was erneut auf den lückenhaften Forschungsstand verweist. Im Rahmen einer pädagogisch-therapeutischen Begleitung, die zu sexuell selbstbestimmt-verantwortungsvollem Leben befähigen soll, ist es daher notwendig, interdisziplinär in Kooperation der beteiligten Professionen im Hilfesystem mögliche Risikobedingungen sexuell übergriffigen Verhaltens zu erörtern. Die Arbeit mit unbegleiteten Minderjährigen sieht sich hier vor die Herausforderung gestellt, individuelle Bedarfe gegenüber der Annahme pauschaler und kulturalistischer Opfer- oder Täter_innenzuschreibungen zu erkennen und passende Angebote bereitzuhalten ohne in defizitorientierte Handlungsmuster abzugleiten. So kann es sinnvoll sein, Fluchterfahrung nicht allein als Sequenz traumatischer Ereignisse zu begreifen, sondern auch als eine Geschichte des Überlebens unter widrigsten Bedingungen. Die Eigenschaften und Fähigkeiten, die dies ermöglicht haben, bergen gleichermaßen das Potenzial für die Bewältigung der Herausforderungen, die sich nach der Ankunft im Aufnahmeland stellen. Ein erster Schritt besteht darin, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Fachkräften und Adressat_innen entstehen zu lassen, auf deren Grundlage Gesprächsräume für derart sensible und tabubesetzte Themen geöffnet werden können. Im Rahmen einer fachlichen Positionierung gilt es, das verfügbare empirische Wissen zu sexueller Gewalt, insbesondere im Zusammenhang mit Fluchterfahrungen, zu rezipieren und mit den Erfahrungen der jungen Menschen in Relation zu setzen. Wesentlich dabei ist, sie weder auf ihre Fluchterfahrung noch auf ihre kulturell-religiöse Zugehörigkeit zu reduzieren und sie nach außen gegenüber ethnosexuellen Vorurteilen in Schutz zu nehmen. Ebenso erscheint es jedoch unerlässlich, auch mit ihnen selbst die sie betreffenden Stereotypisierungen zu thematisieren und individuelle Verhaltensstrategien gegenüber möglichen Anfeindungen zu entwickeln.

Sexuell übertragbare Infektionen (STI): Im Zusammenhang mit Flüchtlingen wird vor allem die Herkunft aus HIV-Hochprävalenzländern als Risikofaktor diskutiert (vgl. Nowotny, 2015). Die damit zusammenhängenden Unsicherheiten auf Seiten der Mitarbeiter_innen betreuender Einrichtungen, politische Instrumentalisierungsversuche (vgl. Fußnote 3) und die Frage obligatorischer Testungen sorgen für eine professionelle Gratwanderung. So sollte ein HIV-Test ohne Einverständnis ebenso wenig eine Option sein, wie es umgekehrt genuines Interesse der betreuenden Einrichtung sein muss, die Gesundheit ihrer Adressat_innen zu gewährleisten. Damit gehören Prävention oder ggf. Behandlung von STI zweifelsohne zu ihrem pädagogischen Auftrag, dieser kann jedoch ausschließlich im Rahmen aufgeklärter Mitbestimmung umgesetzt werden. Die Herkunft aus einem HIV-Hochprävalenzland ist als Indikator insofern mit Vorsicht zu behandeln, als sie nur einen Faktor eines individuellen Infektionsrisikos darstellt, dessen übrige Variablen zumeist nicht bekannt sein dürften. Dennoch geben für diese Thematik relevante Studien (vgl. Nowotny, 2015; Robert Koch-Institut, 2015) hinreichenden Grund für die Einnahme einer spezifisch präventiven Haltung. Für eine mögliche Herangehensweise kann aus der sexualpädagogischen Praxis auf die große Bedeutung der vorhandenen Wissensbestände der Jugendlichen verwiesen werden. Auch wenn z.B. unklar ist, in welchem Ausmaß sie in ihrem Herkunftsland Zugang zu Schulbildung hatten, wird im Gespräch häufig deutlich, dass viele über Grundlagenwissen, etwa zu HIV, verfügen. Indem diese Wissensbestände sichtbar gemacht und anerkannt werden, werden sie gleichermaßen anschlussfähig für weiteres präventives Handeln. Empirisch konnte in der Studie von Keygnaert (2014) diesbezüglich auch die Bedeutung internaler Kontrollüberzeugungen für sexuelle Gesundheit nachgezeichnet werden. So könnte eine realistische Risikoeinschätzung und -bearbeitung auf der Grundlage selbstbestimmter und selbstwirksamer Mitwirkung der Jugendlichen stattfinden. Gleichzeitig können die Fachkräfte sich im Zuge dessen ihrerseits Fachwissen aneignen, das sie zu mehr Handlungssicherheit befähigt.

Verhütung: Als geradezu klassisches Thema sexualpädagogischer Präventionsarbeit steht Verhütung zum einen im Kontext von STI, bezieht sich aber vor allem auf die Verhinderung ungewollter Schwangerschaften. Diesbezüglich hat sich innerhalb des Spektrums sexualpädagogischer Wissenschaft und Praxis eine Haltung herauskristallisiert, die Informationen über und Zugang zu Verhütung als sexuelles und reproduktives Grundrecht begreift. Entsprechende Bildungsziele - Grundlagenwissen vermitteln, Risiken und Nebenwirkungen thematisieren, notwendige soziale Kompetenzen aufzeigen - lassen sich zunächst nahtlos auf die Arbeit mit jugendlichen Flüchtlingen übertragen. So ergeben sich in der Praxis diverse Parallelen zu vergleichbaren Situationen mit einheimischen Schulklassen oder Jugendgruppen. Vorwissen und Interesse sind individuell unterschiedlich ausgeprägt, die ungleiche geschlechtsbezogene Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln verursacht bei Jungen und jungen Männern Irritationen. Die sich hierum entwickelnden Gesprächssituationen können als Beispiel dafür dienen, wie etwa genderbezogene Aspekte sich als transkulturelles Phänomen erweisen können. Dennoch ist auch hier zu berücksichtigen, dass in der Forschungsliteratur spezifische verhütungsbezogene Bedarfe identifiziert wurden (vgl. Aptekman et al., 2014). Diese belegen etwa ein erhöhtes Risiko für ungewollte Schwangerschaften, woraus sich wiederum pädagogische Handlungsaufträge ableiten lassen (vgl. Goosen et al., 2009). So kann umfassendes Wissen über Verhütungsmethoden als Vorbedingung einer selbstbestimmten Lebens- und Familienplanung interpretiert werden. Dies wiederum ist hochkompatibel mit den Aspirationen der Jugendlichen, sich eine eigene Existenz im Aufnahmeland aufzubauen. Verhütungswissen kann für sie also eine Kernkompetenz auf dem Weg zu sozialer Integration sein. Dies umso mehr, als es sich dabei nicht lediglich um Faktenwissen zu den einzelnen Verhütungsmethoden handelt, sondern damit Themen wie Verantwortung und gleichberechtigte Partnerschaftlichkeit einhergehen. Anhand des Themas Verhütung sei auch darauf verwiesen, wie der Aspekt der Peer-Verantwortung eine besondere Rolle zu spielen scheint (Keygnaert et al., 2014). So lässt sich regelmäßig beobachten, wie Jugendliche mit fortgeschrittenen Deutschkenntnissen gegenüber Neuankömmlingen eine Art Mentor_innenrolle übernehmen und bei sprachlichen Schwierigkeiten Unterstützung leisten. Diese Konstellationen mit Merkmalen von Peer Education erweisen sich für sexualpädagogische Angebote als ausgesprochen nutzbar, indem auf diese Weise Hierarchieunterschiede zwischen Fachkräften und Adressat_innen nivelliert und die Jugendlichen in ihrer gegenseitigen Verantwortung bestärkt werden.

Zusammenfassend bieten sexualpädagogische Angebote großes Potenzial dafür, den Jugendlichen Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen. Dies kann sowohl durch die Einladung zur partizipativen inhaltlichen Gestaltung der Angebote, die Wertschätzung ihrer individuellen Wissensbestände oder ihre aktive Beteiligung als Dolmetscher geschehen. All diese Punkte scheinen geeignet, individuelle Ressourcen zu aktivieren und diese der schrittweisen Verwirklichung von Autonomiebestrebungen zugänglich zu machen.

Ausblick - Sexuelle Bildung und Beiträge zu Integrationsprozessen

Es sei hier ein Plädoyer dafür ausgesprochen, die Möglichkeit des Dialogs zu sexualitätsbezogenen Fragen, wie er in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ermöglicht werden kann, für eine Reflexion der Bedeutung und der Wirkmächtigkeit ethnosexueller Grenzen zu nutzen. So kann der Kontakt mit dem "Fremden" als Aufforderung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der "eigenen" Sexualkultur verstanden werden. Begreift man diese als ein in pädagogischen Kontexten erklärungspflichtiges Konstrukt, zeigen sich rasch ihre Ambiguität, die durch ethnosexuelle Grenzziehungen zu vermeintlicher Homogenität des "Eigenen" und des "Fremden" verschmolzen wird. Die hierin liegenden Einsichten können für die gesamte Flüchtlingsdiskussion von Nutzen sein. Dieser Komplexität und (subtilen) Widersprüchlichkeit "unserer" Sexualkultur, die sich von religiösen und staatlichen Strukturzwängen weitgehend emanzipiert und Verhandlungsmoral als zentralen Maßstab an deren Stelle gesetzt hat, kann nur durch die Befähigung junger Menschen zu einem selbstbestimmten und aufgeklärten Umgang begegnet werden. Für Heranwachsende, die zuvor in sexuell traditionelleren oder restriktiveren Gesellschaften sozialisiert wurden, mag dies umso mehr gelten. Dennoch dürfen sie nicht auf kulturelle, religiöse oder ethnische Zugehörigkeit reduziert werden, sondern müssen in ihrer Individualität mit eigenständigen Wissensbeständen, (Bildungs-)Aspirationen und Ressourcen gesehen werden. Eine Bezugnahme auf universelle sexuelle und reproduktive Rechte ist daher geeignet, verbindende Aspekte von Sexualität als allgemeiner und existenzieller Bestandteil menschlichen Lebens gegenüber sozial konstituierten Unterschieden hervorzuheben und zu einer Überwindung sozial konstruierter Grenzziehungen beizutragen. Dies schließt in besonderer Weise das Thema sexuelle Orientierung ein, weil die Anerkennung von nicht-heterosexuellen Lebensweisen- und Partnerschaften ein essentieller Bestandteil sexueller Rechte ist, die in vielen Herkunftsländern keine Anerkennung findet bzw. sogar negiert wird, woraus sich auch ein Asylgrund ableiten kann (vgl. Lee & Brotman, 2011). Sexualpädagogische Ansätze haben weiterhin einen eigenständigen Wert, indem sie auch die persönlichen und intimen Motive ihrer Adressat_innen aufgreifen. Im Vergleich zu der im Integrationsdiskurs prominent diskutierten Logik von Integration via Einbindung in den Arbeitsmarkt, steht Integration hier auch im Zusammenhang mit der Aufnahme und langfristigen Aufrechterhaltung von intimen und romantischen Beziehungen. Beziehungswünsche, und zwar keinesfalls ausschließlich sexuell konnotierte, werden regelmäßig von jugendlichen Flüchtlingen angesprochen. Zugang zu sexueller Bildung und Aufklärung ist entsprechend ein elementarer Bestandteil der Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe. All dies als legitime Themen auf der Ebene pädagogisch-therapeutischer Arbeit mit Blick auf die besonderen psychosozialen Unterstützungsbedarfe aufzugreifen ist genauso relevant, wie gegen politische Instrumentalisierung und ethnosexuelle Diffamierung von Flüchtlingen und eine damit einhergehende Abwertung von Sexualität Position zu beziehen. Dies beinhaltet ebenso, einer nationalistischen Vereinnahmung des universellen Wertes der sexuellen Selbstbestimmung entgegenzutreten. Ein Mandat sexualpädagogischer Arbeit kann somit lauten, im und durch den Dialog mit ihren Adressat_innen zu einer Versachlichung der aktuell, wie von Nagel (2000) beschrieben, ethnosexuell aufgeladenen Debatte beizutragen.

Endnoten

  1. Ein prägnantes, wenngleich schwierig einzuordnendes Beispiel hierfür findet sich in der Berichterstattung über den im März 2015 im bayrischen Siegertsbrunn aufgekommenen Vorschlag kostenloser oder vergünstigter sexueller Dienstleistungen durch Prostituierte für männliche Flüchtlinge.
  2. Als kontrovers diskutiertes Beispiel hierfür können die "Benimmregeln" für Flüchtlinge dienen, die von der Gemeinde Hardheim im Herbst 2015 veröffentlicht wurden.
  3. Neben zahlreichen gewalttätigen Übergriffen im Herbst/Winter 2015 kann als Beispiel hierfür nicht zuletzt die Bildung von "Bürgerwehren" in zahlreichen Kommunen ab Januar 2016 genannt werden. Infolge der aus der Silvesternacht berichteten sexuellen Übergriffe durch Gruppen von Migranten werden diese als notwendige Selbstschutzmaßnahmen deklariert und dabei zur Anwendung von Gewalt instrumentalisiert.
  4. So im Februar 2015 im Rahmen einer Anfrage der Aachener AfD an den Stadtrat zum HIV/Hepatitis-Status der in der Stadt lebenden Flüchtlinge.
  5. Für das Jahr 2015 schätzt der B-UMF ihre Anzahl auf mehr als 30000.
  6. Stellvertretend sei auf den Sexualmord an dem vierjährigen Sohn einer aus Bosnien-Herzegowina stammenden Familie verwiesen, der im Oktober 2015 aus einer Sammelunterkunft in Berlin entführt worden war.

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Autor

Bernd Christmann
bernd.christmann@bitte-keinen-spam-wwu.de

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe "Pädagogische Professionalität gegen sexuelle Gewalt - Prävention, Kooperation, Intervention" im Institut für Erziehungswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit den Arbeitsschwerpunkten sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten und Disclosure von sexueller Gewalt sowie Sexualpädagogik, darüber hinaus tätig als Sexualpädagoge bei pro familia Marburg



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