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Küssen, Streicheln, Doktorspiele ... Konstruktionen kindlicher Sexualität als Herausforderung für pädagogische Disziplin und Profession

Johanna Hess, Alexandra Retkowski, Dominik Wehrhahn
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 21 (2016), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Der Umgang mit kindlicher Sexualität ist in der Gesellschaft wie auch in der Pädagogik ein umstrittenes Thema. Anhand einer qualitativen und einer quantitativen Studie wird in dem vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen, welche Vorstellungen über kindliche Sexualität die pädagogische Arbeit mit Kindern prägen und welche Einschätzungen zum pädagogischen Umgang mit kindlich-sexuellen Handlungen vorliegen. Die Ergebnisse verweisen auf eine starke Heterogenität der Thematisierungsweisen kindlicher Sexualität unter pädagogischen Fachkräften. Sie lassen zudem Rückschlüsse auf die relationale Verfasstheit pädagogischer Generationenbeziehungen zu sowie auf eine tendenzielle Biographisierung und Individualisierung pädagogischer Interventionen bei kindlich-sexuellen Handlungen. Für Professionalisierungs- und Organisationsentwicklungsprozesse bedeuten diese Befunde eine Herausforderung, die abschließend vor dem Hintergrund professionsethischer Überlegungen diskutiert werden.

Schlüsselwörter: Kindliche Sexualität, pädagogische Generationenbeziehung, pädagogische Professionalität, Professionsethik

Summary

Kissing, Caressing, Playing Doctor ... Constructions of children's sexuality as a challenge to pedagogical science and profession

How society and pedagogy deal with sexual activities of children is a highly controversial subject. Based on one qualitative and one quantitative study the article focuses on two questions: 1) Which perceptions or ideas of infantile sexuality shape pedagogic interventions?, 2) How do pedagogical professionals assess interventions relating to infantile sexuality? The findings show a wide variety of perceptions of infantile sexuality among pedagogic professionals. The findings also indicate a tendency towards biographically influenced and individualized pedagogic interventions concerning child-sex acts. For professionalization and organizational development processes, these results lead to challenges that are discussed in the light of professional-ethical considerations.

Keywords: sexuality of children, generational relations, pedagogic professionality, professional ethics

1. Einleitung

Die Frage nach der Bedeutung von kindlicher Sexualität gibt in Pädagogik und Gesellschaft regelmäßig Anlass für Kontroversen. Je nachdem aus welcher Perspektive auf Kinder und Kindheit geblickt wird, geraten unterschiedliche Aspekte in den Blick (vgl. Thole, Milbrandt & Göbel, 2013; Bühler-Niederberger & Sünker, 2006). Auch die Frage, wie Eltern, Pädagog_innen und andere Erwachsene mit kindlich-sexuellen Handlungen umgehen (sollten), ist umstritten. Gleichzeitig liegt wenig empirisches Wissen über kindliche Sexualität und pädagogische Professionalität vor. Aus diesem Grund wird in diesem Beitrag anhand zweier empirischer Studien der Frage nachgegangen, welche Bilder und Vorstellungen über kindliche Sexualitäten die pädagogische Arbeit mit Kindern prägen, und welche Einschätzungen zum Umgang mit kindlicher Sexualität bei pädagogischen Fachkräften vorliegen. So wird zunächst die Forschungsfrage in die theoretische und empirische Auseinandersetzung zum Thema kindliche Sexualität eingebettet (Abschnitt 2) und die Datengrundlage der Untersuchungen dargestellt (Abschnitt 3). Die Ergebnisdarstellung des qualitativen Teils (Abschnitt 4) präsentiert drei zentrale Konstruktionen kindlicher Sexualität, die aus berufsbiographischen Erzählungen pädagogischer Fachkräfte herausgearbeitet wurden. Die Ergebnisdarstellung des quantitativen Teils (Abschnitt 5) beleuchtet Faktoren, die Einschätzung und Umgang pädagogischer Fachkräfte im Hinblick auf kindliche Sexualität beeinflussen. Im letzten Schritt werden die Ergebnisse beider empirischer Teilstudien zusammenführend diskutiert und reflektiert (Abschnitt 6). In einem Fazit (Abschnitt 7) werden Vorschläge zur Einordnung der Ergebnisse für Professionalisierungsbemühungen entwickelt.

2. Theoretische Perspektiven auf Sexualität und Kindheit

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Menschen von Beginn ihres Lebens an sexuelle Empfindungen und Wünsche haben (vgl. etwa Quindeau, 2014; Leuzinger-Bohleber, 2015; Kluge, 2013). Es wird von einer grundlegenden Verschiedenheit von kindlicher und erwachsener Sexualität (vgl. etwa Freund & Riedel-Breidenstein, 2006, 2010) bzw. von qualitativen Unterschieden der Sexualitäten in verschiedenen Lebensaltern ausgegangen (vgl. Weller, 2010). Kindliche Sexualität drücke sich vorwiegend durch Sinnlichkeit und Zärtlichkeit aus und sei weniger zielgerichtet und auf genitale Befriedigung hin orientiert als bei Erwachsenen (vgl. Wanzeck-Sielert, 2004). Die strukturelle Differenz von kindlicher und erwachsener Sexualität wird auch im Rahmen der fachlichen Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und der Verletzung von Generationengrenzen in pädagogischen Kontexten hervorgehoben (vgl. etwa Leuzinger-Bohleber & Burkhardt-Mußmann, 2012; Rentdorff, 2012).

Insbesondere die Sexualpädagogik betont seit langem die Bedeutsamkeit einer konzeptionellen Klarheit im Umgang mit kindlich-sexuellen Handlungen (vgl. Freund & Riedel-Breidenstein, 2006; Rohrmann & Wanzeck-Sielert, 2014), und es existieren eine Reihe von Ansätzen und Konzepten zum pädagogischen Umgang mit kindlicher bzw. jugendlicher Sexualität (vgl. Sielert, 2015; Maywald, 2013; Tuider, Müller & Timmermanns, 2012; Schmidt & Sielert, 2012). In Bezug auf Kindertagesstätten zeigt Kägi, dass die Thematik in den Einrichtungen jedoch kaum gezielt aufgegriffen werde (vgl. Kägi, 2012, S.192 ff.). Hingegen sei von einer ausgeprägten Verhaltensunsicherheit pädagogischer Fachkräfte auszugehen (vgl. Philipps, 2012), die zum Teil auf das Fehlen von fachlichem Wissen zurückgeführt (vgl. Berger, 1986, 2013) oder mit biographischen Faktoren erklärt werde (vgl. Wanzeck-Sielert, 2013).

Die fachliche Auseinandersetzung zu kindlicher Sexualität wie auch zu sexualisierten Grenzverletzungen gegen Kinder weist bisher allerdings eine relative Unverbundenheit zu aktuellen Ansätzen in der Kindheitsforschung auf. Diese beschäftigt sich zentral mit der Frage, wie Kinder und Kindheit gesellschaftlich hervorgebracht werden und auf welche Weise bestimmte Bilder oder Vorstellungen von Kindheit und Kindern mit gesellschaftlichen Macht- und Generationenverhältnissen verwoben sind (vgl. etwa Behnken & Zinnecker, 2000; Honig, 2009, 2012). Aus der Kritik an einer adultistischen Sichtweise (vgl. Bühler-Niederberger, 2014) werden die sozialen Prozesse und Praktiken in den Blick genommen, in denen Kinder zu Kindern gemacht werden. Unter anderem mit Bezug auf die Arbeiten von Alanen (2005) wird versucht, Kinder nicht mehr nur als »becomings«, sondern als »beings« zu betrachten. Auch in die Erziehungswissenschaft wurden Ansätze, die »Heranwachsende als Objekte erzieherischer Eingriffe« (Thole, Milbrandt & Göbel, 2013, S. 31) betrachteten, zunehmend von Ansätzen abgelöst, die Kinder als Subjekte und soziale Akteure in den Blick nehmen und auf die performativen Aspekte des Kindseins bzw. -werdens zielen (vgl. etwa Eckermann & Heinzel, 2015; Teervoren, 2007). Die Hervorhebung der relativen Autonomie und Handlungsmächtigkeit von Kindern wird in der Erziehungswissenschaft jedoch auch kritisiert, da sie die Einsicht in Vulnerabilität von Kindern erschwere (vgl. Andresen, Koch & König, 2015). Baader (2015) plädiert in diesem Zusammenhang dafür, die Frage nach der Verletzbarkeit und Handlungsfähigkeit von Kindern grundsätzlich im Rahmen generationaler Ordnungen zu untersuchen, nicht nur in ihrer grundsätzlichen Struktur der Differenz, sondern auch als relationales Verhältnis »in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit und Interdependenz, einschließlich ihrer emotionalen Dimension« (Baader, 2015, S.94). Wenn wir im Folgenden in den empirischen Studien nach den beruflichen Erfahrungen pädagogischer Fachkräfte mit kindlich-sexuellem Handeln sowie nach ihren Einschätzungen zum beruflichen Umgang mit kindlicher Sexualität fragen, dann schließen wir uns der letztgenannten Perspektive an, indem wir versuchen, in ihren Aussagen auf den relationalen und beziehungsförmigen Gehalt vor dem Hintergrund asymmetrisch strukturierter Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft zu fokussieren.

3. Datengrundlage und Methodik

Im Folgenden werden Daten aus zwei unabhängig voneinander durchgeführten Kasseler Studien mit Fachkräften aus der pädagogischen Arbeit in einen wechselseitigen Dialog gebracht. Verbindendes Element ist, dass die befragten Pädagog_innen jeweils mit Kindern bis zwölf Jahren arbeiten.1 Während die qualitative Studie auf die in den subjektiven Sichtweisen enthaltenen sozialen Konstruktionen kindlicher Sexualität zielt, erlaubt die quantitative Studie Einblick in biographische und organisationale Dimensionen und Hintergründe.

Die Datengrundlage der qualitativen Untersuchung bilden 18 berufsbiographische Erzählungen mit Pädagog_innen, die zum Befragungszeitpunkt in drei Bereichen des Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit beschäftigt waren: den Stationären Hilfen zur Erziehung, der Sozialpädagogischen Familienhilfe und der außerschulischen Bildung.2 Die Analyse des Datenmaterials erfolgt anhand des Ansatzes zur narrativen Identität von Lucius-Hoene und Deppermann (2004). Allerdings werden für die Analyse der Konstruktionsweisen des sexuellen Kindes im vorliegenden Beitrag weder narrationsstrukturelle Aspekte einbezogen noch Narrationen im Sinne von komplexen Sinneinheiten rekonstruiert; vielmehr werden in einer thematisch-interpretativen Herangehensweise fallübergreifende Themenstrukturen zum Gegenstand der Analyse gemacht (vgl. Lucius-Hoene, 2010, 588). Dies ermöglicht ein »Aufbrechen« des Datenmaterials entlang der theoriegeleiteten Forschungsfrage nach den Konstruktionen des sexuellen Kindes und mündet in einer Bündelung der relevanten Kernaussagen zum Thema der kindlichen Sexualität.

Die quantitative Befragung zu pädagogischen Interventionen bei kindlicher Sexualität in Einrichtungen der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung (FBBE), deren Items sich unter anderem an einer Befragung von Berger (1986) orientieren, gründet auf einem onlinebasierten Fragebogen. Der Feldzugang erfolgte bundesweit per elektronischem Anschreiben (Email) an Kindertageseinrichtungen sowie durch die gezielte Ansprache potenzieller Studienteilnehmer_innen in einschlägigen Gruppen und Foren der Sozialen Arbeit und Kindheitspädagogik in den digitalen sozialen Netzwerken. Die Erhebung fand im Frühsommer 2014 als Querschnittuntersuchung statt. Insgesamt beteiligten sich N = 114 Personen an der Befragung. Zehn der ausgefüllten Fragebögen wurden aufgrund mangelnder oder fehlerhafter Bearbeitung als ungültig klassifiziert und bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Die verbleibenden 104 Teilnehmer_innen setzen sich aus 99 (95,2%) Frauen und fünf (4,8%) Männern aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen. Diese Verteilung entspricht dem in der Praxis vorherrschenden Geschlechterverhältnis unter Mitarbeiter_innen in Kitas.3 Das Durchschnittsalter der Teilnehmer_innen beläuft sich zum Zeitpunkt der Befragung auf M = 33,0 Jahre, wobei die jüngste Teilnehmerin 21 Jahre und die älteste 61 Jahre alt ist. 68,4% der Befragten sind ausgebildete Erzieher_innen, 17,9% weisen einen akademischen Abschluss auf und weitere 13,7% sind Sozialassistent_innen, Auszubildende und Berufspraktikant_innen. Die Auswertung erfolgt neben einer deskriptiven Datenbetrachtung anhand von gerichteten bivariaten Zusammenhangshypothesen (Korrelationen).

4. Qualitative Ergebnisse: Berufliche Perspektiven auf kindliche Sexualität

Die vorliegende thematisch orientierte Rekonstruktion fokussiert auf jene Thematisierungen innerhalb der berufsbiographischen Erzählungen, in denen von »Kindern« und gleichzeitig von »Sexualität« gesprochen wird. Diese Thematisierungen können sich sowohl auf die gegenwärtige Beschäftigung innerhalb eines der drei oben genannten sozialpädagogischen Handlungsfelder oder auf zurückliegende Erfahrungen in weiteren Beschäftigungsfeldern der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung beziehen. Im Folgenden werden drei Konstruktionsweisen des sexuellen Kindes, die im Sprechen über die eigene berufliche Tätigkeit hervorgebracht werden, vorgestellt und exemplarisch belegt.

4.1. »Das waren ja Kinder und da spielte das einfach keine Rolle« - Das asexuelle Kind

Als erster Befund zeigt sich in den Erzählungen eine Thematisierungsweise, innerhalb derer im Medium des Vergleichs der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen oder Erwachsenen sexuelle Aspekte in den Beziehungen zu Kindern als gar nicht oder weniger bedeutsam hervorgebracht werden. Erwachsene, Jugendliche oder ältere Kinder einerseits und (jüngere) »Kinder« andererseits werden implizit jeweils als Gegenhorizonte herangezogen, um die An- bzw. Abwesenheit des Sexualitätsthemas zu begründen. In den pädagogischen Beziehungen zu Kindern wird Sexualität als Thema somit keine oder eine geringere Relevanz zugesprochen als in den Beziehungen zu jugendlichen bzw. erwachsenen Klient_innen. Über die Altersdifferenzierung werden auch handlungsfeldbezogene Tätigkeiten neu bestimmt:

 

»Dieses ganze Thema hat mich dann nicht mehr so beschäftigt. Ich habe dann in der Frühförderung weitergearbeitet. Da hatte ich mit den wirklich Kleinen, ja, mit den bis dreijährigen Kindern zu tun.«
(Sozialarbeiterin, 56 Jahre, >25 Jahre Berufserfahrung)

»Wie gesagt, diese Sexualität begegnet mir jetzt von den Kindern her weniger, eher so von den Klienten und Klientinnen.«
(Sozialarbeiterin, 46 Jahre, >15 Jahre Berufserfahrung)

»Später bin ich dann wieder solchen Situationen begegnet als ich mit Erwachsenen gearbeitet habe. Das waren ja Kinder und da spielte das einfach keine Rolle.«
(Sozialarbeiterin, 56 Jahre, >25 Jahre Berufserfahrung)


Kindliche Sexualität wird in dieser Thematisierungsweise somit zunächst als das Andere hervorgebracht, das von der Sexualität erwachsener Klient_innen klar zu unterscheiden sei. Dies könnte auf eine Orientierung an einem Entwicklungsmodell von Sexualität verweisen, das dieser erst in späteren Lebensaltern Relevanz zuschreibt und auf der Vorstellung kindlicher Asexualität basiert. Bezogen auf die pädagogische Tätigkeit wird auf der Grundlage dieser Konstruktion die Vorstellung evoziert, dass sich Pädagog_innen bei der beruflichen Arbeit mit Kindern nicht mit Fragen von Sexualität befassen müssen. Es ist denkbar, dass diese Thematisierungsweise auf eine Vermeidungshaltung der Pädagog_innen verweist, ebenso wie aber auch fehlendes Wissen über kindliche Sexualität die Grundlage sein kann.

4.2. »Das Kind kann nichts dafür« - Das vulnerable Kind

Als zweiter Befund zeigt sich in den Erzählungen eine Thematisierungsweise von kindlicher Sexualität, welche die Vulnerabilität von Kindern in den Vordergrund stellt und kindlich-sexuelles Handeln zentral unter den Aspekt eines Einflusses »von außen« stellt. Dabei wird zum einen eine potentielle Kindeswohlgefährdung fokussiert. In diesem Fall wird kindliche Sexualität als Folge äußerer Bedrohungen durch grenzverletzende Bezugspersonen betrachtet:

 

»Also wir hatten so eine Kuschelecke und da hat der Junge das nämlich auch bei einem anderen Jungen gemacht. Es kam dann eben heraus, dass er von seinem Vater misshandelt wurde.«
(Sozialarbeiterin, 27 Jahre, 4 Jahre Berufserfahrung)

»Am Ende kam heraus, dass die Großeltern sehr freizügig sind. Auch wenn die Kinder dort sind, dass sie sich nackt sonnen. Und wahrscheinlich auch so Videos haben, die offen herum lagen, wo die Kinder das halt sehen konnten.«
(Sozialarbeiterin, 27 Jahre, 4 Jahre Berufserfahrung)


Zum anderen wird kindliche Sexualität als Folge einer inneren Bedrohung, das heißt einem quasi ›triebhaften‹ Bedürfnis nach Sexualität hervorgebracht, das übermächtig und (noch) nicht kontrolliert werden kann, so dass das Kind demgegenüber als unschuldig und vulnerabel beschrieben wird:

 

»Als ich das [die Masturbation] beobachtet habe, wusste ich, das ist so. Das Kind kann nichts dafür. Es ist kein komisches Gefühl vom Kind oder keine böse Absicht.«
(Erzieherin, 40 Jahre, >15 Jahre Berufserfahrung)

»Die hat das wirklich ständig gemacht. Wir haben dann nur kurz gesagt, mal gucken und schon wieder. Die hat es schon wieder beim Sitzen gemacht, beim Malen, in jeder Ecke, wo irgendeine Liege war oder ein Kissen oder ein Bett.«
(Erzieherin, 40 Jahre, >15 Jahre Berufserfahrung)


Beide Thematisierungsweisen zeugen von einer hohen Wahrnehmungssensibilität der pädagogischen Fachkräfte für sexuelle Handlungen der Kinder. Zugleich erscheint das sexuelle Handeln nicht als selbstbestimmtes Handeln, sondern als Symptom. Diese Rahmung kindlich-sexuellen Handelns in dieser Thematisierungsweise verweist auf eine Orientierung an pädagogisch-diagnostischen Einschätzungen. Herausgestellt wird, dass die Kinder nicht verurteilt oder verantwortlich gemacht werden dürfen, sondern dass es jeweils Gründe für ihr sexuelles Handeln gibt, für die sie den Schutz der pädagogischen Fachkräfte entweder auf Grund von Kindeswohlgefährdung oder auf Grund des Risikos der Stigmatisierung benötigen. Bezogen auf die pädagogische Beziehung zeigt sich in der Konstruktion des vulnerablen Kindes eine besonders deutliche solidarische Positionierung der pädagogischen Fachkräfte mit den Kindern, die den Kindern implizit zugleich eine selbstbestimmte Sexualität abspricht.

4.3. »Dann legt sie immer ihre Hand so auf den Tisch und sagt: streicheln« - Das sexuell aktive Kind

Die dritte in den Erzählungen pädagogischer Fachkräfte dominierende Thematisierungsweise von kindlicher Sexualität basiert auf der Konstruktion von Kindern als sexuelle Akteure. Kinder werden hier als sexuell aktiv dargestellt, die sich selbstbestimmt mit dem eigenen Körper und den Körpern von anderen befassen und ihre Wünsche und Bedürfnisse nach Zuneigung und Zärtlichkeit gegenüber anderen Kindern und Pädagog_innen artikulieren. Sprachlich zeigt sich dies darin, dass die Kinder auch grammatikalisch Subjekte der Handlungen sind. Die Thematisierungsweisen vermitteln die Direktheit kindlich-sexueller Handlungen, die als intentionale Handlungen hervorgebracht werden und mitunter eine wahrgenommene Eigensinnigkeit und Widerspenstigkeit der Kinder andeuten. Innerhalb dieser Thematisierungsweise kindlicher Sexualität positionieren sich die Pädagog_innen als reaktiv auf die Handlungen der Kinder eingehend. Es zeigen sich zwei unterschiedliche Reaktionen der pädagogischen Fachkräfte. Zum einen wird gegenüber der erlebten Direktheit kindlich-sexueller Handlungen die Frage der pädagogischen Intervention aufgegriffen:

 

»Da sitzt ein Kind mitten im Wohnzimmer und befriedigt sich selber. Aber die Mutter zeigt keine Reaktion. [...] In der Situation hab ich gesagt, hör mal kurz damit auf. Weil da auch einfach zu viele Personen waren.«
(Sozialarbeiterin, 27 Jahre, 4 Jahre Berufserfahrung)

»Das waren die Mädels oder die Jungs, die ejakuliert haben. Für mich war das, ehrlich gesagt, auch ganz normal. Ich hab sie auch gelassen.«
(Erzieherin, 40 Jahre, >15 Jahre Berufserfahrung)

»Die eine, die macht das schon gerne vor dem Fernseher. Da sag ich schon, das finde ich jetzt nicht richtig. Geh in Dein Zimmer, du kannst in Dein Zimmer gehen, wenn Du alleine sein möchtest.«
(Erzieherin, 40 Jahre, >15 Jahre Berufserfahrung)


Die Wahrnehmung der Kinder als Akteure erzeugt hier die Notwendigkeit auf Seiten der Pädagog_innen, sich spiegelbildlich ebenfalls als Akteure zu den Kindern zu positionieren. Entsprechend begründen sie ihre Intervention situativ und zwar als begrenzende Aufforderung, als gezieltes Nicht-Eingreifen oder als Anleitung bzw. Modifikation der sexuellen Handlung des Kindes. Die zweite Reaktion der pädagogischen Fachkräfte, die innerhalb der Thematisierungsweise von kindlich-sexueller Aktivität rekonstruiert werden kann, bezieht sich nicht auf die Frage der Intervention, sondern einer sexualmoralischen Einschätzung des kindlich-sexuellen Handelns. Das sexuelle Handeln der Kinder wird als »süß« oder »putzig« und ihre Handlungen als »witzig« dargestellt und damit verniedlicht:

 

»Also ich fand es schon irgendwie süß. Die hatten eine Schere ((lacht)) und die waren soweit, dass sie die Hose herunter hatten. Die wollten den Penis abschneiden ((lacht)).«
(Erzieherin, 40 Jahre, > 15 Jahre Berufserfahrung)

»Kinder sind auch putzig. Die kriegen das manchmal gar nicht mit, wie schlecht die sich verstecken ((lacht)).«
(Sozialarbeiter, 30 Jahre, 5 Jahre Berufserfahrung)

»Ein Kind ist auch total süß. Die wird bald drei. Wenn die beim Abendessen sind und ich noch da bin, dann legt sie immer ihre Hand so auf den Tisch und sagt: streicheln. Ja, und dann muss ich immer ihre Hand so streicheln. Das findet sie total schön. Und ich finde es witzig.«
(Sozialarbeiterin, 41 Jahre, 8 Jahre Berufserfahrung)


Die Verniedlichung kindlich-sexuellen Handelns lässt die pädagogischen Fachkräfte einerseits als gelassen im Umgang mit kindlicher Sexualität erscheinen. Implizit enthält sie jedoch auch eine Abwertung der sexuellen Aktivität der Kinder. Der sexuelle Charakter des kindlichen Handelns wird über die Verniedlichung zudem verschlüsselt, was zur Tabuisierung kindlicher Sexualitäten führen kann. Zugleich können über die Rahmung der kindlichen Handlungen als »süß« oder »witzig« die eigenen Emotionen der Pädagog_innen gegenüber dem kindlichen Handeln - seien dies Emotionen der Anziehung oder der Ablehnung - relativiert werden.

4.4. Fazit - Qualitative Ergebnisse

Die qualitative Analyse zeigt drei mögliche Thematisierungsweisen von Kindern und kindlich-sexuellen Handlungen in pädagogischen Kontexten, die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Denkbar wäre zum Beispiel die Thematisierung eines ›sexuell gehemmten Kindes‹ und die Frage, ob und wenn ja wie das Kind pädagogisch im Dienste einer selbstbestimmten Aneignung des eigenen Körpers unterstützt werden kann. Diese oder weitere Thematisierungsweisen treten in dem zugrundeliegenden Datenkorpus jedoch nicht auf. Daneben scheinen die Thematisierungsweisen situationsspezifisch zu sein. Doch auch die Klärung dieser Frage bedarf weiterer Forschung. Allerdings konnten erste Aussagen über die relationale Verfasstheit der verschiedenen Konstruktionsweisen des sexuellen Kindes erschlossen werden. Während sich bei der Konstruktion »das asexuelle Kind« der pädagogische Beziehungsmodus differenziert in Abhängigkeit zur jeweiligen Altersgruppe und Aufgabenstellung im pädagogischen Handlungsfeld zeigte, konstituierte sich die Relationalität in der Konstruktion »das vulnerable Kind« über ein solidarisches Selbstverständnis der Pädagog_innen gegenüber den Kindern. In der Konstruktion »das sexuell aktive Kind« zeigte sich die relationale Verfasstheit vor allem in der Notwendigkeit, sich (reaktiv) gegenüber dem Handeln der Kinder auch persönlich zu positionieren. Stellt man die drei Konstruktionsweisen einander vergleichend gegenüber, so zeichnet sich das Verhältnis von Aktivität und Passivität als eine übergreifende Thematik der Beziehung der Pädagog_innen zu den Kindern ab. Dieses zeigt sich entweder als ein spiegelbildliches Verhältnis, wenn mit der Konstruktion kindlich-sexueller Passivität eine Selbstpositionierung der pädagogischen Fachkräfte verbunden wird, die sich ebenfalls nicht aktiv mit Fragen von kindlicher Sexualität auseinandersetzen muss. Oder es wird mit der Konstruktion des aktiven, sexuell aktiven Kindes die Reflexion der eigenen Handlungsweisen evoziert. Nicht zuletzt erweist sich das Aktiv-Passiv-Verhältnis als ein komplementäres, wenn mit der Konstruktion des vulnerablen Kindes eine solidarisch-schützende Selbstpositionierung pädagogischer Fachkräfte einhergeht. Überdies unterscheiden sich die Sexualitätsverständnisse der Pädaog_innen. Zeigt sich in der Konstruktion »Das asexuelle Kind« ein dichotomes Verständnis analog der Frage »Ist in dem Handlungsfeld/der Altersgruppe Sexualität gegeben bzw. nicht gegeben?«, so beinhaltet die Konstruktion »Das vulnerable Kind« die Gefahr, kindlich-sexuelles Handeln auf Symptomkomplexe zu reduzieren. In der Konstruktion »Das sexuell aktive Kind« scheint hingegen ein fast unendlicher Bedeutungsüberschuss in Bezug auf die kindlichen Handlungen mittransportierbar, der sowohl auf eigenes Macht- wie Ohnmachtserleben der pädagogischen Fachkräfte verweist.

5. Quantitative Ergebnisse

In der quantitativen Studie wurde zunächst der Frage nachgegangen, inwieweit pädagogische Fachkräfte sexuell gefärbte Handlungen bei Kindern in Kindertageseinrichtungen überhaupt wahrnehmen. Insgesamt gaben 87,5% der Befragten an, sexuell gefärbte Handlungen bei den Kindern in ihrer Einrichtung zu beobachten. Innerhalb dieser Befragtengruppe stellt sich diese Beobachtung wie folgt dar: 46,4% geben an, dass sie »Küssen« unter den Kinder beobachten. 30,5% sagen, dass »Streicheln« eine wahrzunehmende Handlung unter den Kindern ist, wohingegen das Ausziehen und gegenseitige Präsentieren des Körpers und der Genitalien mit nur 7,3% eine eher untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Die sogenannten »Doktorspiele« werden von 26,8% derjenigen, die eine Angabe zu dieser Frage gemacht haben, in der Alltagspraxis beobachtet. Selbstbefriedigung der Kinder, bzw. das gezielte Berühren und Stimulieren der Geschlechtsorgane wird von 19,5% beschrieben. Diese Angaben zeigen, dass sexuelles Verhalten von Kindern in Kindertageseinrichtungen insbesondere in Form von interaktionalen Handlungen zwischen den Kindern (küssen, streicheln) wahrgenommen wird. Vergleichsweise seltener wird von Handlungen berichtet, welche mit Nacktheit oder Beteiligung der Genitalien in Verbindung stehen. Bedacht werden muss an dieser Stelle, dass nicht nach der Häufigkeit der beobachteten Situationen gefragt wurde. So könnte es durchaus sein, dass befragte Fachkräfte nur sehr selten ebendiese Handlungen bei den Kindern beobachten. Ebenso muss betont werden, dass die Studie sich auf die Wahrnehmung der pädagogischen Fachkräfte richtet, nicht auf das kindliche sexuelle Verhalten selbst.
Insgesamt wurden die folgenden Items für die Auswertung erfasst:

Tabelle 1
  Teil I
Fragen zur pädagog. und institut. Rahmung
Teil II
Fragen zu frühkindlicher Sexualität bzw. dem Umgang mit ebendieser in den Einrichtungen

Teil III
Fragen zu Sozialisation und Ausbildung

Items Trägerschaft sexuell gefärbte Handlungen in der Einrichtung Aufklärung
Pädagogisches Konzept Reaktionen auf ebendiese Umgang mit dem Thema Sexualität in der Familie
Betreuungsschlüssel Vorgaben der Einrichtung Erinnerung an Doktorspiele oder andere sexuell gefärbte Handlungen
Geschlechterverhältnisse Sexualaufklärung in der Einrichtung Reaktionen auf ebendiese
Alter der päd. Fachkräfte didaktische Einheiten zum Thema Sexualität Sexualität als Themen der Ausbildung und/oder Fort- und Weiterbildungen
Dauer der Beschäftigung Aufklärungsbücher Häufigkeit von Fort- und Weiterbildungen zum Thema
  Elternfragen / Infomaterial Beschäftigung mit Fachliteratur

 

5.1. Alter und Berufserfahrung als Einflussfaktoren für den Umgang mit kindlicher Sexualität

Die Auswertung zeigt deutlich, dass das eigene Alter einen starken Einfluss auf die Selbsteinschätzung der pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen ausübt. Interessant ist, dass vor allem ältere Teilnehmer_innen eher eine zustimmende Haltung gegenüber kindlichen Sexualäußerungen aufweisen als jüngere. Die Vermutung liegt nahe, dass dies an der Berufserfahrung, welche proportional zum Alter verläuft (r = .82, p < .01, n = 83), liegt. Um einen differenzierteren Blick über die Korrelationen von Alter und Reaktionen auf sexuell gefärbte Handlungen zu gewinnen, wurden die Teilnehmer_innen bei der weiteren Analyse in drei Altersstufen (unter 30, 31-40 und über 41 Jahre alt) eingeteilt und verglichen. Je älter die Befragten waren, desto weniger stimmen sie zu, dass sie nicht wissen, wie sie mit Fragen der Kinder bezüglich Themen der Sexualität umgehen sollen (r = -.35, p < .05, n = 51 ). Jüngere Erzieher_innen scheinen hingegen Berührungsängste mit Themen der frühkindlichen Sexualität zu haben, welche sich in Form von Unsicherheit auf die pädagogische Arbeit auswirken. Je niedriger das Alter der Teilnehmer_innen, desto seltener stimmen sie zu, dass sexuell gefärbte Handlungen mit den Kindern thematisiert werden (r = .22, p < .05, n = 84). Diese Unsicherheit zeigt sich ebenfalls bei einer offen gestellten Frage zur persönlichen Einstellung zu frühkindlicher Sexualität. So schreibt eine Berufsanfängerin, die unter 25 Jahre alt ist und weniger als zwei Jahre Berufserfahrung hat:

 

»Ich finde es aufgrund der vorherrschenden Tabus schwierig mit Kolleg_innen darüber in Austausch zu kommen. Trotzdem habe ich immer wieder Fragen zu dem Thema und würde mir vor allem in der Ausbildung mehr Informationen und einen offeneren Umgang wünschen.«


Eine andere Berufsanfängerin im gleichen Alter, mit ebenfalls weniger als zwei Jahren Praxiserfahrung, schreibt:


»Leider zu wenig aufgeklärt und unterstützt von Kollegen.«


Diese exemplarischen Aussagen lassen den Schluss zu, dass die geschilderte Unsicherheit in fehlendem Wissen zu frühkindlicher Sexualität und mangelnder Auseinandersetzung mit diesem Thema begründet liegt.

5.2. Sexuelle Sozialisation als Einflussfaktor und der Wunsch nach mehr Fort- und Weiterbildung

Die Daten verweisen auf einen Zusammenhang zwischen der eigenen sexuellen Sozialisation und den Bewertungen der organisationalen Rahmungen in der Einrichtung bezüglich (sexual-) pädagogischer Interventionen. Es zeigt sich, dass innerhalb der mittleren Altersspanne (31-40 Jahre) diejenigen, die angeben, selbst offen mit Themen der Sexualität aufgewachsen zu sein, stärker davon ausgehen, dass die Einrichtung, in der sie arbeiten, tendenziell eine eher ablehnende Haltung gegenüber kindlicher Sexualität aufweist (r = .41, p = .07, n = 20). Dagegen geben innerhalb derselben Altersspanne (31-40 Jahre) diejenigen, die konstatieren, nicht aufgeklärt worden zu sein und eine eher repressive sexuelle Sozialisation erfahren zu haben, eher an, dass ausreichend auf sexuell gefärbte Handlungen eingegangen wird (r = .41, p = .06, n = 22). Daraus könnte geschlossen werden, dass die offen sozialisierten pädagogischen Fachkräfte einen fokussierteren Blick auf kindlich-sexuelle Handlungen haben und daher bei ihnen der Wunsch nach einer liberaleren Einstellung zu Themen der frühkindlichen Sexualität innerhalb der eigenen Einrichtung besteht.

In Bezug auf Fort- und Weiterbildungen geben nur 6,2% der Befragten an, dass sie oft bis sehr oft an Fortbildungen im Bereich Sexualpädagogik bzw. Sexuelle Bildung teilnehmen. Dagegen hat die Mehrheit von 57,7% noch nie an einer solchen Fortbildungsmaßnahme teilgenommen. Dieses Ergebnis spiegelt sich auch im Wunsch nach Fort- und Weiterbildung im genannten Bereich wider, der von 82% der Befragten geäußert wird. Insbesondere bei jüngeren pädagogischen Fachkräften ist dieser Wunsch sehr ausgeprägt (s. Diagramm 1). Je geringer das Alter der Befragten, desto größer ist der Wunsch nach Fort- und Weiterbildungen (r = -.38, p < .01, n = 76).

Diagramm 1: Wunsch nach Fort- und Weiterbildung zum Thema frühkindliche Sexualität

Darüber hinaus wird deutlich, dass die Phase der Berufsausbildung sehr wenig zum Wissenserwerb bezüglich frühkindlicher Sexualität beiträgt. Nur 3,8% der Befragten gaben an, dass die Thematik in der Ausbildung in ausreichendem Maße behandelt wurde.

5.3. Fazit - Quantitative Befund

Die Ergebnisse der quantitativen Untersuchung zeigen ebenso wie die qualitativen Befunde, dass die Perspektiven des pädagogischen Personals auf kindliche Sexualität sehr heterogen sind. Besonders das Alter, die Berufserfahrung und die eigene sexuelle Sozialisation erweisen sich für die Bedeutung des personalen Faktors und die Einschätzung des Umgangs mit kindlicher Sexualität in pädagogischen Einrichtungen als relevant. Dies sowie der Befund der fehlenden Verankerung sexualpädagogischer Konzepte und Weiterbildungsangebote in Einrichtungen der frühkindlichen Pädagogik verweist auf eine starke Biographisierung und Individualisierung im Umgang mit kindlicher Sexualität. Aufgrund der heterogenen Wahrnehmungsweisen kann für viele pädagogische Einrichtungen von Beziehungs- und Normkonflikten zur Thematik von kindlicher Sexualität innerhalb des pädagogischen Personals sowie möglicherweise auch zwischen Leitung und Personal ausgegangen werden.

6. Diskussion der empirischen Befunde

Die Ergebnisse beider empirischer Studien verweisen auf die Vielfalt pädagogischer Orientierungen, die in Bezug auf das Thema der kindlichen Sexualität in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und der Sozialen Arbeit existieren. Während im qualitativen Ergebnisteil gezeigt wurde, welche Vorstellungen und Konstruktionen von kindlicher Sexualität in Erzählungen über berufliches pädagogisches Handeln hervorgebracht werden und wie diese relational mit der eigenen Positionierung innerhalb pädagogischer Generationenbeziehungen verbunden sind, deuteten die quantitativen Ergebnisse daraufhin, dass die Frage, wie mit kindlicher Sexualität umgegangen wird, maßgeblich von den persönlichen Erfahrungen der pädagogischen Fachkräfte abhängt. Zwar wurde im quantitativen Teil auch gezeigt, dass die Handlungsunsicherheiten des pädagogischen Fachpersonals mit zunehmender Berufserfahrung abnehmen, mit Blick auf die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung ist es jedoch fraglich, inwiefern dies auch auf eine Professionalisierung des pädagogischen Handelns zurückzuführen ist. Während die Konstruktion »Das asexuelle Kind« überwiegend bei älteren Fachkräften (>40-Jährigen) vorzufinden ist, werden andere Konstruktionen überwiegend von jüngeren Fachkräften (25 bis 40-Jährigen) hervorgebracht. Gleichzeitig sagen in der quantitativen Teilstudie tendenziell eher die älteren pädagogischen Fachkräfte aus, dass der Umgang mit kindlicher Sexualität für sie keine Schwierigkeit darstellt. Dies führt zu weiteren Forschungsfragen, wie etwa der Frage, ob die Handlungsunsicherheit pädagogischer Fachkräfte mit der Wahrnehmung der sexuellen Eigenaktivität von Kindern wächst oder ob die Wahrnehmung der sexuellen Aktivität von Kindern mit der Abnahme der Wahrnehmung von Differenz im Generationenverhältnis zusammenhängt?

7. Fazit: »Sexualität ist politisch?« Abschließende Überlegungen zur Professionalisierung des Umgangs mit Sexualität in pädagogischen Kontexten

Welche Vorstellungen über Sexualität und den Umgang mit Sexualität in Gesellschaft und Pädagogik zugrunde gelegt werden, ist auch eine politische Frage. Umso wichtiger ist es für die wissenschaftliche Pädagogik und die pädagogisch Handelnden, die eigene Position zu reflektieren, auf Normierungen zu überprüfen und diese offenzulegen. Der Blick in die pädagogische Praxis zeigt uns, dass sehr unterschiedliche Konstruktionen des sexuellen Kindes existieren und das Alter bzw. die Berufserfahrung wie auch die eigene sexuelle Sozialisation wichtige Einflussgrößen für die Selbsteinschätzungen von pädagogischen Fachkräften in Bezug auf den Umgang mit kindlicher Sexualität darstellen. Die relationale Verfasstheit wie auch die biographische Bedingtheit der unterschiedlichen Konstruktionen pädagogischer Fachkräfte im Hinblick auf kindliche Sexualität sind hoch bedeutsame, aber - gerade auch angesichts der kontroversen gegenwärtigen Diskurslage - äußerst sensible Thematiken. Daher ist in einem ersten Schritt die Anerkennung der Vielfalt der unterschiedlichen Sichtweisen Grundvoraussetzung für Professionalisierungs- und Organisationsentwicklungsprozesse. Nur so können pädagogische Fachkräfte aus der Situation der Biographisierung und Individualisierung im Umgang mit kindlicher Sexualität heraustreten, um dann in einem zweiten Schritt in einen systematischen und (selbst)kritischen Auseinandersetzungsprozess über ihre Bilder von kindlicher Sexualität einzutreten. Dass ein solcher Auseinandersetzungsprozess notwendig ist, deuten die vorliegenden Ergebnisse an. Dabei sollte der Fokus jedoch nicht nur auf das Wissen und Können pädagogischer Fachkräfte im Umgang mit kindlicher Sexualität liegen. Ebenso bedeutsam ist die Arbeit an einem professionsethischen Rahmen mit entsprechender theoretischer Ausstattung.4 Dieser müsste insbesondere die Frage des Umgangs mit kindlicher Sexualität in seinen relationalen Verknüpfungen und Interdependenzen fokussieren. So deuten die sich in den hier präsentierten Thematisierungsweisen abbildenden (emotionalen) Reaktionen von pädagogischen Fachkräften auf einen Bedarf an professionalisierter Reflexion im Hinblick auf die Rolle der eigenen Person im Umgang mit kindlicher Sexualität hin, welcher nicht durch abstrakte Verhaltensnormierungen im Sinne von Ethikkodizes aufgelöst werden kann. Die britische Sozialwissenschaftlerin Banks bietet einen tugendethischen Ansatz zur Ausbildung einer solchen professionalisierten ethischen Reflexionskompetenz an, der im Konzept des »ethics work« die Reflexion des Verhältnisses von professioneller Zuständigkeit und persönlichem Engagement integriert (vgl. Banks, 2013). Die Reflexion auf die eigenen Wertorientierungen und die Normen und Standards der Institution werden so nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in einen produktiven Dialog gebracht.

Endnoten

  1. Die qualitativen Daten und Ergebnisse wurden im Rahmen des BMBF-geförderten Projekts »Berufsbiographische Identitätskonstruktionen und Sexualität« an der Universität Kassel erhoben und ausgewertet. Siehe auch: www.professionsethik.org.
    Die quantitativen Daten und Ergebnisse entstammen der unveröffentlichten Masterthesis von Dominik Wehrhahn (2015), die den Titel »Der pädagogische Umgang mit frühkindlicher Sexualität in Kindertageseinrichtungen« trägt.
  2. Um eine möglichst breite Fallvarianz für spätere Kontrastierungen zu erzeugen, erfolgte die Auswahl der Interviewpartner_innen im o.g. Projekt entlang weiterer theoretisch relevanter Kategorien (Geschlecht, Berufserfahrung, Trägerschaft der Einrichtung und Bundesland). Der Feldzugang wurde über ein Anschreiben der pädagogischen Einrichtung sowie der telefonischen Kontaktaufnahme mit potentiellen Interviewpartner_innen realisiert. Im gesamten o.g. qualitativen Forschungsprojekt wurden weitere sechzehn Interviews mit Lehrkräften aus dem Handlungsfeld Schule geführt (N=34). Die Interviews mit den Lehrkräften werden in dem vorliegenden Beitrag nicht mit in die Analyse einbezogen.
  3. Laut Statistischem Bundesamt (destatis.de) liegt der männliche Anteil von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtung aktuell bei 4,9% (Stand: März 2014).
  4. Ähnlich wie in der allgemeinen Berufsethik der DBSH (Siehe: https://www.dbsh.de/fileadmin/downloads/DBSH-Berufsethik-2015-02-08.pdf [21.2.2016].

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Autor*innen

Alexandra Retkowski
alexandra.retkowski@bitte-keinen-spam-uni-kassel.de

Alexandra Retkowski hat im Fach Erziehungswissenschaft promoviert und ist Juniorprofessorin für das Fachgebiet "Professionsethik. Sexualität und Macht in Schule und Sozialer Arbeit" an der Universität Kassel. Forschungsinteressen: Professionsforschung, Familien- und Generationsforschung, Qualitative Sozialforschung.


Johanna Hess
johanna.hess@bitte-keinen-spam-uni-kassel.de

Johanna Hess ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Berufsbiographische Identitätskonstruktionen und Sexualität" und Promovendin der Universität Kassel. Forschungsinteressen: Soziale Ungleichheit, Sexualität und Sexualisierte Gewalt, Qualitative Methoden.


Dominik Wehrhahn
wehrhahn@bitte-keinen-spam-uni-kassel.de

Dominik Wehrhahn ist wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt "Berufsbiographische Identitätskonstruktionen und Sexualität".



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