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Brustkrebs und Sexualität - thematisiert und doch Tabu. Annäherung an ein Paradox

Anja Hermann
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 21 (2016), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

In diesem Beitrag thematisiert eine Psychoonkologin Praxiserfahrungen in einem Brustzentrum im Zusammenhang mit Thesen und Fragen zu Sexualität und Brustkrebs. Damit werden bisher nicht ausreichend beachtete Aspekte für die empirische Forschung und theoretische Auseinandersetzungen zum Thema Brustkrebs und Sexualität aufgezeigt. Ausgangspunkt ist die These, dass Sexualität während der Behandlung von Brustkrebs gleichzeitig als machbar thematisiert und im Zusammenhang mit Leiden tabuisiert wird. Leiden wird in zweierlei Hinsicht identifiziert, und es wird die Frage erörtert, wie Leiden in der medizinischen Behandlung von Brustkrebs tabuisiert wird. Eine weitere Überlegung geht von der Todesnähe aus, die die betroffenen Frauen sowohl beschäftigt, wenn die Krebserkrankung diagnostiziert und behandelt wird, als auch in Bezug auf Sexualität. Im Fazit werden aus salutogenetischer Perspektive die tabuisierenden Auswirkungen einer pathogenetisch ausgerichteten medizinischen Praxis zusammengefasst.

Schlüsselwörter: Brustkrebs, Sexualität, Tabu, Pathogenese, Salutogenese

Summary

Breast Cancer and Sexuality - Discussed but Still Taboo: Addressing a Paradox

In this essay, a psycho-oncologist discusses her experiences practicing at a breast-center in relation to theses and issues of sexuality and breast cancer. She points out aspects that have not been sufficiently considered in empirical research and theoretical discussions of breast cancer and sexuality. Starting point is the thesis that sexuality during treatment for breast cancer is both discussed as feasible and tabooed in connection with suffering. Suffering is identified in two ways, and the question how suffering is tabooed in medical treatment of breast cancer is discussed. Further concerns derive from the proximity to death, which preoccupies affected women when cancer is diagnosed and treated, as well as in regards to their sexuality. In the conclusion, the tabooing effects of medical practice focused on pathogenesis are summarized from a salutogenetic perspective.

Keywords: breast cancer, sexuality, taboo, pathogenesis, salutogenesis

Einführung

Dem Robert-Koch-Institut zufolge ist Brustkrebs mit "rund 70.000 Neuerkrankungen jährlich (...) die mit Abstand häufigste Krebserkrankung bei Frauen in Deutschland. Das Mammakarzinom tritt wesentlich früher auf als die meisten anderen Krebsarten. Fast 30 Prozent der betroffenen Frauen sind bei Diagnosestellung jünger als 55 Jahre - ein Alter, in dem die meisten übrigen Krebserkrankungen zahlenmäßig noch kaum eine Rolle spielen" (Robert Koch Institut, 2015, Absatz 1).

Frauen wie Annette Rexrodt von Fircks (2002, 2009, 2013, 2016), Miriam Pielhau (2009) und viele mehr (siehe INKA - das Informationsnetz für Krebspatienten und Angehörige) nutzen ihre Bekanntheit, um in ihren Veröffentlichungen auch auf die psychosozialen Auswirkungen hinzuweisen, ihre Texte werden von vielen Betroffenen gelesen. Psychosoziale Aspekte der Brustkrebserkrankung und -behandlung sind häufig und vielfältig untersucht1. Brustkrebs wird zunehmend in zertifizierten Brustzentren2 behandelt, in deren Teams für jede Frau eine Psychoonkolog*in und Sozialarbeiter*in zur Verfügung stehen müssen.

Im Zentrum dieses Beitrags steht der Umgang mit Sexualität vom Zeitpunkt der Diagnose Brustkrebs an. Während der Behandlung ist Sexualität sowohl medizinisch relevant als auch Thema in der Lebenswelt der betroffenen Frau.

Als Psychoonkologin in einem Brustzentrum habe ich das Thema Sexualität und Brustkrebs in meinen Gesprächen mit den Frauen, Partner*innen3 und Paaren im Brustzentrum angeboten und in verschiedensten Weiterbildungen für z.B. Pflegekräfte und Ärzt*innen und auf Veranstaltungen für Patientinnen und Angehörige eingeführt. Während meiner psychoonkologischen Praxis- und Lehrtätigkeit bin ich dabei auf ein Paradox gestoßen, mit dem ich mich in diesem Beitrag auseinandersetzen möchte.

Das Paradox

Sexualität wird in Bezug auf bzw. während der Behandlung von Brustkrebs als machbar thematisiert und gleichzeitig im Zusammenhang mit Leiden tabuisiert. Sexualität während der Behandlung nicht für sich selbst befriedigend aus- bzw. erleben zu können, nehmen die Frauen nicht unbedingt sofort als Leiden wahr, da sie mit ganz anderen Probleme konfrontiert sind, wie ich ausführen werde. Wenn Sexualität aber für sie zum Thema wird, finden viele Frauen keine Form und keinen Raum, darüber zu sprechen.

Im Zentrum dieses Beitrags stelle ich als Psychoonkologin die Frage, wie die an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen, die verschiedenen Zugehörigen und Patientinnen dieses Paradox (Sexualität als machbar zu thematisieren und im Zusammenhang mit Leiden zu tabuisieren) gemeinsam herstellen, es mitgestalten und vor dem Hintergrund unseres gesellschaftlichen, kulturellen und medizinischen Umgangs mit Sexualität aufrechterhalten.4

Ausgangsbeobachtungen

In den fast sieben Jahren als Psychoonkologin in einem Brustzentrum habe ich unzählige Gespräche geführt, habe Frauen, Paare, Familien in teilweise intensivem Kontakt während der Behandlung und in der ersten Phase nach Abschluss der Primärtherapie begleitet. Sexualität wurde nur selten thematisiert und durfte noch seltener jenseits von Machbarkeit besprochen werden. Im Folgenden möchte ich anhand von Beispielen illustrieren, wie ich diese Erkenntnis gewonnen habe.

 

Frau Maier5 sagt im Abschlussgespräch, d.h. nachdem sie aus der Anschlussheilbehandlung zurück ist, wir uns bereits viele Monate kennen und zum letzten Mal in diesem Kontext zusammenfinden: "Ein Thema beschäftigt mich zurzeit besonders. Ich habe seit Beginn der Behandlung nicht mehr mit meinem Mann geschlafen. Ich war mit anderem beschäftigt. Ich hatte Angst, ich musste die Wochentage mit unserer Tochter allein überstehen, da er pendelt und woanders arbeitet, mir war übel, ich hatte keine Kraft, ich konnte mich nicht konzentrieren ... Sie wissen ja. Wenn er zum Wochenende kam, hatte er genug zu tun mit Haus und Garten, Tochter, damit, sich selbst von seiner anstrengenden Woche zu erholen, und mit meinen Launen. Während der Chemo dünstete mein Körper diese Chemie aus, ich konnte mich selbst nicht riechen. Wenn er es noch schaffte, für sich zu sorgen, dann stieg er aufs Motorrad. Ich habe immer noch kein Bedürfnis, mit ihm zu schlafen, die antihormonelle Therapie sorgt dafür. Aber etwas ist jetzt anders. Ich möchte wissen, wie es ihm eigentlich im letzten Jahr ging, wie er mit seinen Sehnsüchten und seiner Lust gelebt hat. Ich möchte es wissen, aber ich weiß nicht, wie ich ihn fragen soll, wie ich es ansprechen kann." Frau Maier hat Angst davor, wie ihr Mann reagieren könnte. Sie weiß nicht, ob sie emotional verkraften kann, was er ihr erzählt, sie weiß nicht, was sie zu hören wünscht. Sie weiß, wonach sie sich sehnt. Sie sucht Anschluss an die alte körperlich und seelisch zärtlich-intime Vertrautheit zwischen ihnen, welche die Diagnose, die Behandlungen und ihre Nebenwirkungen, die Angst und Sorgen und der Alltag in ein Nebeneinander-Funktionieren verwandelt haben.


Aber auch unter Patientinnen wird der Austausch über unterschiedliche Erfahrungen mit der eigenen Sexualität eher gemieden, während viele andere persönliche und durchaus intime Erfahrungen geteilt werden, was ich mit folgender Beobachtung beispielhaft illustrieren möchte:

 

Frauen sitzen in der Tagesklinik zusammen und warten auf ihre Chemotherapie. Frau Fuchs erzählt, dass sich, was den Sex mit ihrem Mann betrifft, eigentlich nichts geändert habe. Die anderen Frauen schauen aus dem Fenster, wechseln das Thema und sprechen über die verschiedensten Nebenwirkungen und ihre Alltagserfahrungen während der Chemotherapie.


Ich frage mich: Würden nicht erkrankte Frauen außerhalb eines Settings wie der Tagesklinik offener über ihre Sexualität sprechen? Vielleicht wollten die Frauen, die nonverbal so deutlich das Thema wechseln, sich schon vor der Brustkrebserkrankung und damit vor Eintritt in den medizinischen Kontext nicht darüber austauschen, ob sie Sexualität für sich selbst befriedigend aus- und erleben? Finde ich hier eine Fortführung einer allgemeinen Tabuisierungstendenz angesichts einer Über-Thematisierung von Sexualität?

Eine Überlegung ist, dass Frauen mit Brustkrebs Körperlichkeit anders ausgesetzt sind als Frauen ohne Brustkrebs und alle Themen, die mit Körperlichkeit in Verbindung gebracht werden, nicht mehr so leicht ignorieren können. Um in dieser Richtung weiterdenken zu können, gehe ich zunächst auf die medizinische Behandlung von Brustkrebs ein und werde in diesem Zusammenhang auf die körperlich erfahrenen Nebenwirkungen zu sprechen kommen.

Medizinische Machbarkeit

Die Krankheit ist behandelbar - das ist die klare und überzeugende medizinische Botschaft zu Beginn der Primärtherapie. Diese eindeutige Botschaft gibt den Betroffenen Halt, das wollen sie hören, daran orientieren sie sich. Sie erfahren zunächst im Gespräch und später auch ganz körperlich, kognitiv und psychisch: Diagnostik und Behandlung bringen Wirkungen und Nebenwirkungen mit sich - keine Wirkungen ohne Nebenwirkungen. Aber es werde alles medizinisch Mögliche dafür getan, die Nebenwirkungen zu kontrollieren und zu minimieren.

Die Ärzt*innen und das gesamte Behandlungsteam bieten einen Diskurs der Machbarkeit bezüglich der (Primär-)Behandlung von Brustkrebs an, den die Betroffenen dankbar aufnehmen. Sexualität ist darin als machbar eingeschlossen. Diesbezügliche Ratschläge, z.B. zur Verhütung während der Chemotherapie, werde ich hier nicht im Detail ausführen, sie finden sich in allen relevanten Ratgebern, z.B. von der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Krebshilfe und dem Deutschen Krebsforschungszentrum.

Wieso identifiziere ich hier einen Ausgangspunkt für die Tabuisierung von Sexualität bei Brustkrebs? Was die medizinische Behandlung, wenn möglich mit dem Ziel der Kuration, einer Frau körperlich und psychisch zumutet, wird nach meiner Beobachtung dadurch tabuisiert, dass Nebenwirkungen als managebar eingeführt und behandelt werden. Leiden ist nicht im Fokus der Behandlung. Dies geschieht, indem im medizinischen Kontext nicht zwischen Leiden und Erkrankung unterschieden, sondern Leiden unter die Erkrankung Brustkrebs subsumiert wird, die - wie deren Nebenwirkungen - als behandelbar gilt.

Eine Erkrankung und zweierlei Leiden

Die Unterscheidung von Leiden und Erkrankung entnehme ich Wilber (1996). Im Kapitel "Zum Sinn verdammt" in seinem Buch "Mut und Gnade" erklärt er seiner Frau, die gerade die Diagnose Brustkrebs erhalten hat:

 

"Bei jeder Krankheit steht man vor zwei ganz verschiedenen Dingen. Zunächst einmal ist da der Krankheitsprozess selbst - ein Knochenbruch, eine Grippe, ein Herzinfarkt, ein bösartiger Tumor. Nennen wir diesen Aspekt der Krankheit «Erkrankung». Die Erkrankung ist mehr oder weniger wertfrei, weder wahr noch unwahr, weder gut noch schlecht - sie ist einfach. Zweitens aber hat ein Erkrankter mit der Haltung zu tun, die seine Gesellschaft oder Kultur gegenüber dieser Erkrankung einnimmt, also mit Urteilen, Ängsten, Hoffnungen, Mythen, Geschichten, Wertvorstellungen, kurz mit der Bedeutung, die eine bestimmte Gesellschaft mit jeder Erkrankung verbindet. Nennen wir diesen Aspekt der Krankheit das «Leiden». Krebs ist nicht nur eine Krankheit, ein medizinisch-wissenschaftliches Phänomen, sondern zugleich ein Leiden, das heißt ein mit kultureller und sozialer Bedeutung befrachtetes Phänomen. Die Wissenschaft sagt uns, wann und in welcher Weise wir krank sind; unsere Kultur oder Subkultur sagt, wann und in welcher Weise wir leidend sind" (ebd. S. 54f).


Wilber und seine Frau beschäftigen sich mit der Schulmedizin als einer Kultur unter vielen, die Erklärungsangebote bereitstellt, und kommen zu dem Schluss, dass das Leiden im oben zitierten Sinn hier kein Thema ist. Dies hindert sie nicht daran, schulmedizinische Behandlungsangebote in Anspruch zu nehmen. Im Gegenteil, aber sie sensibilisieren sich dafür, was sie dort erwarten können:

 

Eine Erkrankung (hier Brustkrebs) ist "im Wesentlichen eine biophysikalische Störung aufgrund von biophysikalischen Faktoren (von Viren über Traumata bis zu genetischer Veranlagung und auslösenden Umweltfaktoren). Bei den meisten Erkrankungen zerbricht man sich über psychologische und spirituelle Behandlungsformen am besten gar nicht erst den Kopf, denn meistens sind sie wirkungslos und verhindern eher, dass einem die richtige medizinische Versorgung zuteil wird" (ebd. S. 60).


Und damit sensibilisieren sich Wilber und seine Frau auch dafür, was sie nicht erwarten können.

Leiden thematisiere ich in diesem Beitrag unter zwei Aspekten: Die Frauen leiden körperlich unter den (Neben-)Wirkungen der Behandlung, d.h. sie erfahren ihren Körper als Schauplatz des Leidens. Für dieses Leiden bietet ihnen die Schulmedizin Linderungen an, die auf einem biomedizinischen Verständnis beruhen. Das Leiden als "mit kultureller und sozialer Bedeutung befrachtetes Phänomen" kann pathogenetisch nicht gelindert werden und wird somit ignoriert. Mit anderen Worten: Ich verstehe die Suche von Wilber und seiner Frau als eine salutogenetisch orientierte (vgl. Antonowsky, 1997). In Bezug auf das Leiden finden sie im biomedizinischen Kontext ausschließlich pathogenetisch fundierte Antworten.

Ausgehend von diesen Überlegungen zum Leiden halte ich fest: Die an Brustkrebs erkrankte Frau und ihr Partner bzw. ihre Partnerin sind ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung mit der Frage konfrontiert, wie sie allein oder auch gemeinsam mit Veränderung und Leiden umgehen. Der Umgang mit sexuellen Bedürfnissen ist ein intimer Schauplatz unter anderen für die Auseinandersetzung mit Veränderungs- und Leidenserfahrungen.

Die Schulmedizin bietet pathogenetisches Denken und Behandeln des Brustkrebses an. Sexualität wird dabei im Behandlungskontext, so meine These, im Sinne von Aufklärung über Risikofaktoren oder Behebung von Problemen wie Scheidentrockenheit oder Problematisierung der Infektionsrisiken während der Chemotherapie ebenfalls pathogenetisch gerahmt.

Informations- und Identifikationsangebote für Betroffene

In Zeitschriften, in Ratgebern und im Internet wird frau leicht fündig zum Thema Sexualität in Bezug auf Brustkrebs. Ob als Frau, die aufgrund eines diagnostizierten bzw. behandelten Mamma-Karzinoms auf der Suche nach Informationen ist, oder als Partner*in - ich kann mich leicht informieren: Welche Formen der Behandlungen wirken sich wie auf die Sexualität aus? Nebenwirkungen von Chemo- und Hormontherapie, der Strahlentherapie, Körperschemastörungen nach Ablatio oder Brustaufbau, aber auch nach Brust erhaltender Operation - über all das und vieles mehr kann ich Wissen erwerben, kann mich vorbereiten, kann nachvollziehen, was gerade mit mir bzw. ihr passiert, kann nachträglich rekapitulieren. Die Texte beinhalten vielfältige Empfehlungen. Es finden sich nicht nur Informationen über Verhütung während der Chemotherapie, über die Möglichkeiten, noch schwanger zu werden, oder über die eingeleiteten Wechseljahre, sondern auch Vorschläge, an Sexualität nicht nur als körperlichen Akt zu denken, sondern auch als Austausch von Zärtlichkeiten und als liebevolle Aufmerksamkeit und Zuwendung6. Darüber hinaus können behandelnde Gynäkolog*innen in Aufklärungs- und Behandlungsgesprächen um Hinweise zu sexuellen Fragen gebeten werden oder diese von sich aus einbringen.

Was erfahre ich über Frauen mit Brustkrebs aus Zeitschriften, Autobiographien, Ratgebern und Angeboten wie Kosmetikseminaren? Sie können auch unter der Behandlung hübsch und attraktiv sein, es gibt tolle Perücken, frau muss sich nicht gehen lassen, sollte Sport treiben, auf ihre Ernährung achten... Ich sehe und lese von schlanken, sportlichen, gut gekleideten Frauen. Selbst auf den Dessouswerbungen für Frauen nach Brust erhaltenden OPs bzw. Ablatio sind eher jüngere oder wohl situiert in Szene gesetzte Best Ager7 abgebildet. Die Konzentration auf Behandlung, Nebenwirkungsmanagement und die Motivierung der Frau für ihre Fitness, gesunde Ernährung, Lebensführung und Attraktivität zu sorgen, rücken wiederum Machbarkeit in den Vordergrund. Leiden bleibt auch hinsichtlich der Informations- und Identifikationsangebote im Verborgenen, so wie Sinngebung und Sexualität.

Sexualität, Leiden und Partnerschaft

Ich möchte eine Wortmeldung zum Thema Angehörige von an Brustkrebs erkrankten Frauen von einer niedergelassenen Onkologin während einer Weiterbildung zitieren. Sie sagte, sie praktiziere in einer eher wohlhabenden Gegend und müsse feststellen, dass dort viele Paare die Zeit der Primärbehandlung nicht überstehen. Viele Frauen säßen irgendwann in ihrer Sprechstunde und berichteten, verlassen worden zu sein für eine junge, hübsche, gesunde, vorzeigbare Frau.

Hat das mit Sexualität zu tun?

Meiner Meinung nach ja, denn Sexualität ist u.a. assoziiert mit sichtbaren und erwarteten Attributen weiblicher Anziehungskraft, die den Partner / die Partnerin dazu verführen, zu begehren, sich zu erregen und sexuell auszuleben. Was aber, wenn die Partnerin aufgedunsen ist, ihr Körper Chemikalien ausdünstet, sie ihre Haare verliert oder verloren hat, sich emotional verändert, Angst hat, sich nicht gut konzentrieren kann, sich vor möglichen Gefährdungen ihres fragilen Immunsystems schützen soll und will, Schmerzen oder Wunden hat? Sucht sie Intimität? Wie erlebt sich ihr Partner mit seinen bzw. ihre Partnerin mit ihren sexuellen Bedürfnissen?

In der Behandlung verlieren die Frauen nicht nur sichtbare und erwartete Attribute ihrer weiblichen Anziehungskraft, sondern gleichzeitig wird vom Partner / von der Partnerin bzw. dem privaten Umfeld erwartet, die Folgen des Diagnoseschocks, die Brüche in den bisherigen Verantwortlichkeiten und Lebensroutinen sowie die Nebenwirkungen der Behandlung aufzufangen, auszubalancieren bzw. zu begleiten. Das heißt, auch das Rollenspektrum des Partners / der Partnerin verändert sich.

Die Frauen erhalten einen durchgehend ambulanten Behandlungsplan und werden nur für die Operation/en und ggf. zur Behandlung schwerer Nebenwirkungen stationär aufgenommen. Leiden (in jeder Hinsicht) wird in erster Linie Zuhause durchlebt und mit den Nächsten entweder geteilt oder neben ihnen gelebt oder vor ihnen zu verbergen gesucht. Nicht mit den Behandler*innen - das möchte ich hervorheben - teilt man im Alltag Momente von Einsamkeit, Sinnfragen, Ekel, bisher unbekannte körperliche Reaktionen, Schwäche, aber auch Schlaflosigkeit, Konzentrationsmängel und vieles mehr. Zuhause ist die Frau nicht mehr die, die sie vorher war.

Die beschriebenen Veränderungen beinhalten u.U. die Erfahrung, dass die eigenen (auch sexuellen) Wünsche und Bedürfnisse zurückgewiesen werden. 'Es gibt Wichtigeres als Sexualität' kann verstanden werden als: 'Es gibt Wichtigeres als dich'. Beide Seiten können sich als Opfer erleben oder als Täter*in auftreten, die / der zurückweist, wonach sie / er sich vielleicht selbst sehnt, was aber derzeit zu schmerzhaft, unvorstellbar, zu beängstigend ist. Es kann auch zurückgewiesen werden, wofür vorher ein Argument fehlte, das akzeptiert wurde. Mit anderen Worten, das Leiden ermöglicht auch Ausstiege aus Partnerschaft und Sexualität bzw. deren (nachträgliche) Legitimierung.

In dieser Lebenssituation können sich also Begehren, sexuelle Phantasien und gelebte Sexualität und Zärtlichkeit sowie die Kommunikation darüber verändern, gleichzeitig ist in der Ratgeberliteratur zu lesen, dass es nur wenige medizinisch relevante Gründe gibt, auf Sexualität zu verzichten.

Sexualität, Krebs und Tod

Auf Grundlage meiner Praxiserfahrungen möchte ich eine weitere Überlegung anbieten, warum Sexualität bei Brustkrebs tabuisiert wird. Sexualität kann in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem eigenen Brustkrebs bzw. dem Brustkrebs der Partnerin als (tödliche) Bedrohung assoziiert oder erlebt werden.

Woraus kann sich Bedrohungserleben bei Brustkrebs speisen?

Eine Brustkrebserkrankung, die nicht behandelt wird, bringt, das wird von den Behandler*innen vom Diagnosezeitpunkt an kommuniziert, Leiden und den Tod. Dies entspricht gleichzeitig den subjektiven Krankheitsvorstellungen (vgl. Filipp et al., 1987), also den Laienvorstellungen über Krebs, die zum Diagnosezeitpunkt aktiviert werden.

Aber auch die (kurative) Behandlung von Krebs kann (wie bereits beschrieben) zu Empfindungen von Todesnähe führen. "Ich dachte, ich muss sterben", ist eine häufige Formulierung von betroffenen Frauen, wenn sie Nebenwirkungen schildern.

Ich gehe davon aus, dass die betroffenen Frauen nicht nur Brustkrebs, sondern auch Sexualität mit Todesnähe assoziieren, und zwar als Kontrollverlust oder 'kleinen Tod'. Mit anderen Worten: Sexualität kann mit Kontrollverlust assoziiert werden, und die Betroffenen erleben bei Krebs ebenfalls Kontrollverlust, da Krebs von ihnen unbemerkt in ihrem Körper entstanden und gewachsen ist. In der medizinischen Behandlung wird nun auf die Notwendigkeit der Kontrolle aller Parameter hingewiesen, die Einfluss auf den Körper während der Behandlung haben - und ihm gefährlich werden könnten.

Schulmedizin stellt ein Kontrollangebot dar8. Wenn die Frau ihre Sexualität ebenfalls auf dieses Kontrollversprechen ausrichtet, wird auch in dieser Hinsicht der Tod gebannt. Ich könnte auch sagen: tabuisiert, weil auf Machbarkeit und Kontrolle reduziert.

Möglichkeitsräume

Ich möchte nun auf meine Ausgangsbeobachtungen zurückkommen und danach fragen, wie die Frauen Kontrolle über ihre Körperlichkeit und Sexualität gestalten. Wofür stand Sexualität im bisherigen Leben der Frau und wofür soll sie nun stehen? Wofür stand sie in der Beziehung und wofür soll sie jetzt stehen? Mit welchen Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten, Stellvertreterangeboten ... ist Sexualität nach der Diagnose Brustkrebs verbunden? Sexualität ist auf gesellschaftliche, subkulturelle oder medial vorgelebte Normen ausgerichtet, welche die Einladung bzw. das Versprechen enthalten, sich sexuell selbst erfinden und ausleben zu können (sowohl in Beziehungen als auch mit sich) - und das offener ausgesprochen und sichtbarer (verletzt) als sonst in der Gesellschaft.

Frau Herbst war diesbezüglich bereits vor ihrer Erkrankung auf der Suche und hörte nach Diagnosestellung damit nicht auf: Sie hat sich nach der Ablatio ihrer Brust gegen einen Aufbau entschieden und plant, sich stattdessen ein Tattoo neben der Narbe stechen zu lassen. Längere Zeit nach Abschluss ihrer Primärbehandlung treffe ich sie wieder und sie zeigt mir ihr Tattoo. Sie erzählt, sie habe ihren Freund geheiratet und er habe sich dasselbe Tattoo stechen lassen. Nicht nur ihre Körperhälfte mit Brust, sondern auch die mit dem Tattoo werde begehrt und geliebt.

Was habe ich aus den Gesprächen mit den an Brustkrebs erkrankten Frauen während und nach ihrer Behandlung gelernt? Frauen gehen - so wie sie das auch schon vor ihrer Erkrankung taten - sehr unterschiedlich mit Sexualität um. Frau Fuchs zieht Sicherheit und Lebensfreude daraus, dass die Beziehung zu ihrem Mann unverändert bleibt. Sie nutzt z.B. ein Gleitmittel, wenn sie in Folge der Chemotherapie körperliche Veränderungen bemerkt, die sie in ihrem Sexleben einschränken. Sie zieht für die Phase der Chemotherapie also Kraft daraus, Sexualität mit ihrem Mann weiterhin so zu leben wie bisher. Es besteht eine Passung zur medizinischen Machbarkeitslogik.

Für Frau Maier ist dies unvorstellbar. Sie möchte sich zunächst selbst wieder ertragen und mögen, sich stabiler erleben, bevor sie sich intim ihrem Mann anvertraut. Sie sucht nach eigener Kontrolle. Sexualität will sie erst wieder körperlich leben, wenn sie dies auf der Grundlage von gesundheitlich erneut gewonnener Sicherheit und Stabilität kann.

Frau Herbst gewinnt Sicherheit und Kontrolle durch den kreativen Einbezug ihrer veränderten Körperlichkeit in die Beziehung zu ihrem Partner.

Wenn ein Paar seine Beziehung auf Sexualität gründet oder mit Sexualität reguliert (z.B. befriedet), dann kann Brustkrebs, wenn dessen Behandlung die bisher gelebte Sexualität verändert, die Beziehung in Frage stellen. Diese Entwicklung wird von vielen als bedrohlich erlebt und tabuisiert.

Abschließende Überlegungen

Frau Maiers, Frau Fuchs' und Frau Herbsts Umgang mit Sexualität stehen beispielhaft für Reaktionen von Frauen in Partnerschaft während ihrer Behandlung.

Aber auch Frauen ohne Partner*in will ich in meine Überlegungen einbeziehen: So wie jeder Mensch kann auch eine Frau mit der Diagnose Brustkrebs, muss aber keinesfalls, herausfinden, was Sexualität für sie bedeutet und ob, mit wem und wie sie Sexualität leben will. Mit ihrem Partner / ihrer Partnerin, vom Partner / der Partnerin zurückgezogen oder getrennt, auf der Suche nach einem neuen Partner / einer neuen Partnerin, mit sich allein, in der Phantasie, virtuell ...

Was sie will und kann, entwickelt und verändert sich durch die Krankheit und den Krankheitsverlauf und ist Kontext abhängig.

Wenn eine Frau, die sich aufgrund der Diagnose Brustkrebs als existenziell bedroht und während der Behandlung als fragil erlebt (hat), Sexualität enttabuisieren will, braucht sie zusätzlich zur schulmedizinischen Rahmung meines Erachtens eine Rahmung, die andere Angebote als Machbarkeit auf der Bedeutungs- und Sinngebungsebene macht. Mit anderen Worten: Sie braucht das Angebot einer salutogenetischen Rahmung, die über die pathogenetische Rahmung der medizinischen Behandlung hinausgeht und Bedeutsamkeit als emotionale Komponente des Sense of Coherence anspricht.

Endnoten

  1. Einen Überblick bieten Ditz et al. (2006).
  2. siehe Deutsche Gesellschaft für Senologie
  3. Frauen leben mit Männern oder Frauen in Partnerschaft bzw. Sexualität, so auch Frauen, die mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert werden, deshalb wähle ich im Folgenden die verallgemeinernde Form: Partner*in.
  4. Meine Hypothese ist, dass sich die von mir in der Praxis vorgefundene Tabuisierung auch in der Forschung zeigt, wenn sie innerhalb der medizinischen Logik bleibt. Ein Review der vorliegenden Forschungsliteratur ausgehend von dieser Hypothese wäre spannend, ist aber nicht Inhalt dieses Artikels, der den Fokus auf Praxisreflexion setzt.
  5. Die Namen der Patientinnen sind anonymisiert.
  6. Vgl. ausführlich in: Krebsinformationsdienst (2014): Weibliche Sexualität und Krebs.
  7. Best Ager: Ich wähle diese aus dem Marketing und der sozialwissenschaftlichen Forschung stammende Kategorie der Beschreibung für Menschen ab 50, um auf die Ausrichtung auf Konsum hinzuweisen.
  8. Das heißt, eine äußere Kontrolle, die das intime Gefühl der Ohnmacht nicht aufhebt, sondern manchmal sogar verstärkt, da eine Abhängigkeit eingegangen wird.

Literatur

Antonowsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Ausgabe von Alexa Franke. Tübingen: dgvt-Verlag.

Deutsche Gesellschaft für Senologie. Verfügbar unter: www.senologie.org/brustzentren/ [7.3.2016].

Ditz, S., Diegelmann, C. & Isermann, M. (2006). Psychoonkologie - Schwerpunkt Brustkrebs. Ein Handbuch für die ärztliche und psychotherapeutische Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.

Filipp, S.-H., Aymanns, P., Ferring, D., Freudenberg, E. & Klauer, T. (1987). Elemente subjektiver Krankheitstheorien: Ihre Bedeutung für die Krankheitsbewältigung, soziale Interaktion und Rehabilitation von Krebskranken. Trier: Universität, Fachbereich I - Psychologie.

INKA - das Informationsnetz für Krebspatienten und Angehörige, Verfügbar unter: www.inkanet.de/krebsarten/brustkrebs/brustkrebs-buecher, [7.3.2016].

Krebsinformationsdienst Deutsches Krebsforschungszentrum (2014). Weibliche Sexualität und Krebs. Ein Ratgeber für Patientinnen und ihre Partner. Heidelberg: dkfz. 2. Teilaktualisierte Auflage.

Pielhau, M. (2009). Fremdkörper. München: mvg-Verlag.

Rexrodt von Fircks, A. (2002). ...und tanze durch die Tränen. Auf dem Weg zur Heilung. Berlin: Ullstein Verlag.

Rexrodt von Fircks, A. (2009). Dem Krebs davon leben - Wir haben die Chance. Berlin: Ullstein Verlag.

Rexrodt von Fircks, A. (2013). Im Mittelpunkt Leben - Wieder stark werden nach Brustkrebs. München: Mosaik-Verlag.

Rexrodt von Fircks, A. (2016). Ich brauche Euch zum Leben - Gemeinsam den Krebs besiegen. Berlin: Ullstein Verlag (Neuauflage).

Robert-Koch-Institut. Verfügbar unter: www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Krebsarten/Brustkrebs/brustkrebs_node.html [7.3.2016].
Wilber, K. (1996). Mut und Gnade. München: Goldmann.

Autorin

Anja Hermann
Anja.Hermann@bitte-keinen-spam-KHSB-Berlin.de

Promovierte Diplompsychologin und Systemische Therapeutin (DGSF), nach langjähriger Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Freien Universität Berlin mit den Arbeitsschwerpunkten Gemeindepsychologie, psychosoziale Versorgung, Dialog- und Kooperationsmodelle sowie Psychoonkologie und knapp 7jähriger Tätigkeit als Psychologin im Brustzentrum des Klinikums Ernst von Bergmann in Potsdam derzeit als Vertretungsprofessorin für Sozialmedizin und gesundheitsorientierte Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin tätig



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