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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 14 (2009), Ausgabe 2]


Zur Gegenwart der Gemeindepsychologie in Europa

Gemeindepsychologische Perspektiven, Haltungen und Konzepte verlieren in Deutschland auf akademischer Ebene an Bedeutung. An verschiedenen Hochschulen wurden in den letzten Jahren Professoren verabschiedet, die maßgeblich zur Entwicklung der Gemeindepsychologie beigetragen haben. Nachfolgebesetzungen gab es nicht. Immer weniger Studienangebote an deutschen Ausbildungsstätten tragen "Gemeindepsychologie" in ihrem Titel. Sind das äußere Zeichen für das nahende Ende, für ein Versinken in der Bedeutungslosigkeit?

Parallel zu dieser Entwicklung lässt sich eine wachsende Attraktivität gemeindepsychologischer Themen erkennen. Auf Fachtagungen unterschiedlichster Professionen und in den öffentlichen Medien sind nicht erst seit der Wirtschaftskrise und im Zusammenhang mit der Suche nach Umgang und Erklärung von steigenden Arbeitslosen- und Depressionszahlen Resilienz, Ressourcenorientierung, Empowerment und Netzwerkarbeit - um nur einige Beispiele gemeindepsychologischer Praxis- und Forschungsthemen zu nennen - in aller Munde. Ob die Nutzung des gemeindepychologischen Vokabulars gleichbedeutend mit einem wachsenden Interesse an einer gemeindeorientierten, den Kontext einbeziehenden Perspektive auf psychosoziale Problemlagen ist, wird zukünftig zu beobachten und zu diskutieren sein. Die Expertise von Kolleginnen und Kollegen ist in vielen Zusammenhängen stark nachgefragt, die Qualität gemeindepsychologischer Aktivitäten und Projekte wird geschätzt.

Es scheint ganz so, als würden wir im Moment zwar nicht mehr an den universitären (Macht)Spielen teilhaben können, dafür aber sehr viel mehr Resonanz in Praxis, Verwaltung und Politik erfahren.

Um diese scheinbar widersprüchliche Entwicklung besser verstehen und einordnen zu können, haben wir Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen europäischen Ländern, konkret aus Polen, Italien, Portugal, England und Norwegen gebeten, über die Entwicklung der Gemeindepsychologie anhand von Beispielen aus Praxis und/oder Forschung in ihrem Land zu schreiben. Ihre Beiträge geben einen Einblick in aktuelle, vielleicht auch strittige Entwicklungen innerhalb der Gemeindepsychologie. Sie verdeutlichen die Vielfalt theoretischer und praktischer gemeindepsychologischer Ansätze. Die Artikel in der vorliegenden Ausgabe sind englischsprachig mit einer deutschen Zusammenfassung.

Mit dem Blick über den eigenen Tellerrand hinaus, erhoffen wir uns neue Perspektiven bei der Beurteilung der Entwicklung in Deutschland und Anregungen für eine Weiterentwicklung der Gemeindepsychologie.

Ende Oktober fand der europäische Kongress der Gemeindepsychologie in Paris statt. Damit ist ein weiterer weißer Fleck auf der europäischen Landkarte verschwunden, in Frankreich entwickelt sich gegenwärtig eine lebendige gemeindepsychologische Szene. Auch dies ist ein Zeichen des Aufbruchs. Vielleicht haben Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterEileen Nafstad, Rolv Mikkel Blakar und Erik Carlquist mit ihrer These recht, dass gemeindepsychologische Ideen und gemeindepsychologisches Know-How in Zeiten neoliberaler Veränderungen des Sozialstaats besonders gefragt sind. Gemeindepsychologische Konzepte gewinnen an Attraktivität - so die These -, weil sie gesellschaftspolitische Analysen ermöglichen, die verstehen helfen, warum Menschen unter den gegeben Bedingungen leiden. Gemeindepsychologie kann dazu beitragen, Inklusionsprozesse zu fördern und Exklusionsprozesse zu erkennen und zu durchbrechen.

Auch die Entwicklung in Portugal zeigt, so Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterPedro M. Teixeira, Carlos M. Gonçalves und Isabel Menezes, dass Gemeindepsychologie mit ihren Kernkonzepten Empowerment, Partizipation und Stärkung des SOC Widerstandspotenziale und Selbstorganisationskräfte fördert, die besonders in Zeiten gesellschaftlicher Übergänge und Instabilitäten gefragt sind.

Empowerment und Partizipation sind auch in der italienischen Gemeindepsychologie zentrale Themen der Forschung und Intervention. Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterBruna Zani und Elvira Cicognani stellen in ihrem Artikel zwei Beispiele aus dem Kontext der Gesundheitsforschung vor. Ziel der partizipativen Aktionsforschungsprojekte in der Region Emilia Romagna war es, die Bürger bei Entscheidungen über Fragen der Gesundheit einzubeziehen. Einbeziehung meint dabei mehr als eine Berücksichtigung von Bürgerinteressen. Sondern vielmehr eine Stärkung ihrer Interessen und Ermutigung, von politischen Entscheidungsträgern eine Positionierung einzufordern, welche Bürger als dringend benötigte Beteiligte beim Thema Gesundheitsförderung anerkennt.

Polen erlebte 1997 eine Jahrhundertflut, die viele Todesopfer forderte, Orte zerstörte - und das Fehlen von organisierten und koordinierten Hilfestrukturen bei Großschadensereignissen verdeutlichte. Als erfolgreichstes Angebot für die Betroffenen zeigten sich damals gemeindeorientierte psychosoziale Versorgungskonzepte. Die Gemeindepsychologie hat seit dem einen enormen Entwicklungsschub erlebt - in Praxis und Forschung. Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAnna Bokszczanin beschreibt einen grundlegenden Wandel in der Psychologie in Polen. Zwei Forschungsprojekte, welche die psychologischen und sozialen Folgen der Flutkatastrophe für Kinder und Jugendliche zum Thema hatten, werden vorgestellt.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterPaul Duckett mahnt in seinem Beitrag die Gemeindepsychologie, sich nicht unkritisch auf die eigenen Konzepte zu beziehen, sondern den Verlust des eigenen kritischen Potenzials wahrzunehmen und fordert zu einer reflexiven Selbstvergewisserung auf. Er provoziert mit der Frage, ob wir uns inzwischen im Mainstream verloren haben und daher gar nicht bemerken, dass wir Scheinwelten mit erheblichem Exklusionspotenzial aufgebaut haben?

Der Blick abroad stimmt nachdenklich. Gleichzeitig macht er Mut, ob der Vielfalt der entdeckten Potenziale. Wir als Herausgeber des Heftes laden sie ein, mit uns an der Weiterentwicklung des gemeindepsychologischen Projekts zu arbeiten. An welchen Stellen sehen Sie die Gefahr einer moralischen Überhöhung unserer Konzepte; oder auch einer Vereinnahmung von gemeindepsychologischen Konzepten durch Nutzung des Vokabulars bei (oftmals unausgesprochener) Ablehnung oder subtiler Umdeutung der dahinterstehenden Haltung? Welche Veränderungen in gemeindepsychologischen Konzeptionen sind notwendig, damit sie auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ihre Bedeutung erhalten oder wieder gewinnen? Wir freuen uns auf Ihre/Eure Beiträge, Zuschriften und Kommentare!


Asita Behzadi und Mike Seckinger



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