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Anti-, Gemeinde- und Sozialpsychiatrie im Denken Heiner Keupps - von der Verknüpfung gesellschaftstheoretischer Reflexion und dem Engagement in und für soziale Bewegungen

Ernst von Kardorff
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 2]

I. Der universitäre Kontext zu Beginn der 70er Jahre und die Kritik an der Psychiatrie

In den Nachwehen der Studentenbewegung - ich habe mein Studium der Psychologie und der Soziologie im Winter-Semester 1969/70 in München begonnen -  zeigte sich schon bald ein Wechsel der Themenschwerpunkte auch in der Auseinandersetzung der Studierenden mit ihrer jeweiligen Disziplin: von Klassenanalyse und Klassenkampf zu den horizontal disparitären Lebenslagen und, für die Psychologie nicht ganz unerwartet, zur Reflexion der Rolle des Subjekts und seinen vielfältigen Beschädigungen, die durch Verdrängung, Familiennormen, repressive Erziehung bedingt oder durch die sozialen Urteile pädagogischer, psychologischer und psychiatrischer Diagnostik sowie durch institutionelle Ausgrenzung erzeugt und verfestigt werden. Zwar standen Kapitalismuskritik und die Kritik an der bürgerlichen Wissenschaft noch auf der Tagesordnung, aber das Interesse vieler politisch interessierter und engagierter Studierender suchte in den einzelnen Fächern auch nach Perspektiven einer Veränderung der eigenen Disziplin, nach einer an Gerechtigkeitsnormen und Selbstbestimmung orientierten Neugestaltung der psychosozialen Arbeitsfelder, nach neuen identifikationsfähigen Berufsperspektiven jenseits einer nur kritischen Kritik und nicht zuletzt nach einer Selbst(auf)klärung. Vielleicht waren Grenzen und Paradoxien einer revolutionären Veränderung der ganzen Gesellschaft aus dem Geist einer Revolte, wenn schon nicht analytisch erfasst, so bei vielen doch spürbar und am Zerfall des Studentenprotests in rivalisierende Fraktionen auch sichtbar geworden. Und da haben sich dann die auf den ersten Blick "weichen" Felder der gesellschaftlichen Reproduktion - die sich dann noch als ausreichend "harte Nüsse" erweisen sollten - wie etwa die Jugendhilfe, skandalisiert, nicht zuletzt durch Ulrike Meinhofs "Bambule", und eben die Schlangengruben der Psychiatrie mit ihrer Verletzung der Menschenrechte und ihren "menschenunwürdigen Zuständen", wie sie in der 1969 von der Bundesregierung beauftragten Psychiatrie-Enquête sogar offiziell benannt wurden, als fast schon "natürliche" Handlungsfelder für eine nicht individualisierende und dennoch an den gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Subjekts orientierte Praxis angeboten. Hinzu kam, dass die Debatten um die Psychiatrie, (ver-)störendes Verhalten und seelisches Leiden exemplarisch die Frage nach Normalität und Abweichung, weiter gefasst nach den sozialen Konstitutionsbedingungen des Subjekts und seinen gesellschaftsverändernden Potentialen berühren. Alle diese Motive hat Heiner Keupp in seinen immer übervollen, lustvoll und manchmal bis zur Schmerzgrenze disputierenden interdisziplinären Seminaren aufgegriffen, an denen neben den Studierenden der Psychologie, SoziologInnen, PädagogInnen etc. sowie nicht zuletzt auch Psychiatrieerfahrene, Suchende und Gefährdete teilnahmen.

Heiner Keupp war an der Münchener Universität einer der ersten und ganz wenigen Hochschullehrer, der Studierende damals exemplarisch an der Psychiatrie und der psychosozialen Versorgung für eine gesellschaftskritische Perspektive sensibilisieren konnte, die nicht nur vielfältige Anregungen für intellektuelle Interessen, sondern auch für die Klärung noch vielfach ungeklärter, aber starker politischer Intentionen nach einer konkreten Gesellschaftsveränderung als PsychologIn anbot. Dazu hat er uns mit wissenschaftlichen Ansätzen bekannt gemacht, die sich jenseits des und/oder in kritischer Auseinandersetzung mit dem Mainstream der akademischen Sozialpsychologie kontroversen gesellschaftlichen Themen gestellt und in ihrem analytischen Zugriff zugleich politisch Position bezogen haben. Über Heiner Keupp haben wir die einzigartige Verbindung zwischen wissenschaftlichen Ansätzen einer gesellschaftsanalytischen und dadurch -kritischen Sozialpsychologie kennen gelernt - von den frühen Schriften Erichs Fromms zur analytischen Sozialpsychologie über die Arbeiten von Theodor W. Adorno und anderen zur autoritären Persönlichkeit, die heute weitgehend vergessenen Arbeiten des französischen Psychologen Georges Politzer, die kritische Psychologie Klaus Holzkamps, die Theorien von Erving Goffman zur totalen Institution und der moralischen Karriere der Geisteskranken, die Theorien von Thomas Scheff zum "Etikett Geisteskrankheit" bis zu den Arbeiten von Klaus Dörner, Franco Basaglia, Michel Foucault und vielen anderen. Im Zentrum der Lehrveranstaltungen stand die Vermittlung und Auseinandersetzung mit an Karl Marx anknüpfenden Ansätzen, der kritischen Theorie, der Psychoanalyse und ihren subjektpolitischen Interpretationen bei so unterschiedlichen Autoren wie Herbert Marcuse oder Dieter Duhm, des Symbolischen Interaktionismus und einer kritischen Phänomenologie, die sich der Analyse psychischer Störungen und der psychiatrischen Praxis angenommen hatten. Heiner Keupps Seminare haben für den systematischen Zusammenhang zwischen den "gesellschaftlichen Leiden" und dem "Leiden an der Gesellschaft"1 sensibilisiert, neue Erfahrungen eröffnet und zum eigenständigen Weiterdenken angeregt. Letzteres auch deshalb, weil Heiner Keupp sich selbst deutlich als engagierter Verfechter einer menschenwürdigen Versorgung, einer aktiven Rolle des Subjekts und einer ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewussten und kritisch-reflexiven Sozialpsychologie positioniert hat, ohne sich oder gar die Studierenden auf eine dogmatische Position oder Schulrichtung festzulegen. Dabei verschonte er uns nicht mit langen Literaturlisten, die viele Entdeckungen ermöglichten, neugierig machten und zugleich auch einen hohen akademischen Anspruch vermittelten und zum Diskurs motivierten.

II. Psychiatriekritik, Anti-Psychiatrie, Demokratische Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Gemeindepsychologie in der Lehre und Forschung Heiner Keupps

Heiner Keupp hat in seiner Lehre, in seiner Forschung und seinen zahlreichen Veröffentlichungen - darunter damals Anfang der 70er Jahre die Herausgabe zentraler Texte einer kritischen Sozialpsychiatrie und psychiatrischen Epidemiologie2 -, immer bestens über den internationalen Forschungsstand informiert, das gesamte Spektrum der Psychiatriekritik und der Psychiatriereform sowie der damaligen Ansätze zu einer Sozialpsychiatrie und Gemeindepsychologie in den Blick genommen und sich dabei als scharfer und scharfsinniger Kritiker des Hegemonialanspruchs der biologischen Psychiatrie und der psychiatrischen Praxis positioniert ohne zugleich Anti-Psychiater3 im strikten Wortsinne zu sein. Aber natürlich war das durchaus heterogene Spektrum der Anti-Psychiatrie in Heiner Keupps Seminaren präsent und wurde intensiv diskutiert: so unter anderem die radikal liberale Kritik an der psychiatrischen Zwangsbehandlung durch Thomas Szasz, die Auseinandersetzungen um das Heidelberger Patientenkollektiv, die phänomenologisch-existentialistischen Praxisexperimente und Reflexionen von Ronald D. Laing und die stärker gesellschaftspolitisch akzentuierten und mit einer radikalen Kritik an der bürgerlichen Familie verbundenen psychiatriekritischen Essays von David Cooper, und nicht zuletzt die Diskussionen über und mit den ersten bundesdeutschen antipsychiatrischen Initiativen von Betroffenen, u.a. mit Wolfram Pfreundschuh, dem Mitbegründer des antipsychiatrischen Betroffenenorgans "Türspalt" oder der Berliner "Irrenoffensive" und den Texten von Peter Lehmann gegen die chemische Knebelung durch Psychopharmaka und Elektroschock. In diesen Debatten wurde der grundlegende Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Normalitätsdruck der spezifischen politischen Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaft (und auch eines dogmatischen "real existierenden Sozialismus", in dem die Menschenrechte für psychisch Kranke und psychiatrisierte Dissidenten nicht galten) auf die Formierung des Subjekts, sein Freiheitsbedürfnis und seine grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte zum Thema. Zugleich hat Heiner Keupp den weiteren Kontext sozialwissenschaftlicher Analysen zur Sozio-Logik gesellschaftlicher Abweichungsproduktion aufgegriffen, sei es in den Institutionen der Psychiatrie, etwa anhand der Analysen von Erving Goffman und Thomas Scheff oder die Rolle der Etikettierungsprozesse im Alltag im Zusammenspiel zwischen der Mehrheit und den Instanzen der sozialen Kontrolle, wie sie etwa in den Arbeiten von Edwin Lemert und Howard Becker analysiert wurden. Klaus Dörners programmatische Formel, dass Psychiatrie nur als Soziale Psychiatrie möglich sei, konnte in den Seminaren unter anderem an Studien über die Ungleichheit der psychiatrischen Versorgung und die Lage der "armen Irren" (Ernst Köhler), über Dörners Sozialgeschichte der Psychiatrie "Bürger und Irre" über die Auseinandersetzung mit Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft" nachvollzogen und verstanden werden. In einem spannungsreichen Wechsel zwischen der Auseinandersetzung mit den damals aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in der Psychiatrie und ihrer Kritik auf der einen und analytischen wissenschaftlichen Texten der Psychiatriekritik aus Soziologie, Psychologie, Geschichte, Kulturtheorie auf der anderen Seite, ist es Heiner Keupp gelungen, ein exemplarisches Verständnis historischer und aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen am Feld der Psychiatrie und psychosozialen Versorgung mit einer auch berufsbezogenen politischen Veränderungsperspektive zu vermitteln. Dazu trug nicht zuletzt die intensive Auseinandersetzung mit der zwischen innovativen lokalen Reformprojekten und einer administrativen Modernisierung schwankenden sozial- und gemeindepsychiatrischen Neuorganisation in Folge der Psychiatrie-Enquête bei: Mit der Gründung des Mannheimer Kreises und der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) entstand unter Initiative und tatkräftiger Beteiligung, Beratung und Ermutigung Heiner Keupps eine gemeindepsychologisch orientierte Münchener Psychiatrieszene. Die damaligen Debatten um die bundesdeutsche Psychiatriereform waren eingebettet in und beeinflusst von der Frauengesundheits- und Selbsthilfebewegung in der Bundesrepublik (Gesundheitsläden und Beschwerdezentren), vor allem aber durch die internationalen Entwicklungen und Reformdiskurse, die Heiner Keupp auch in seinen Veranstaltungen intensiv aufgegriffen hat: vom Community Mental Health Act zu Beginn der 70er Jahre in den USA und ihrer ausdrücklichen Gemeinde- und Empowermentorientierung, aber auch der ambivalenten kalifornischen Entlassungspraxis Betroffener aus Anstalten und Heimen aus Kostengründen über die französische Sektorpsychiatrie bis vor allem zur Bewegung und den Projekten sowie den theoretischen Begründungen der Demokratischen Psychiatrie Italiens durch Franco Basaglia, Giovanni Jervis und andere.

In seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie liegt ein besonderes Verdienst Heiner Keupps aus meiner Sicht darin, zentrale Texte vor allem der amerikanischen Sozialpsychiatrie, Psychiatriekritik und soziologischen Analysen der Psychiatrie und des abweichenden Verhaltens als einer der Ersten in Deutschland bekannt und für die damals aktuellen Debatten um eine Reform der Psychiatrie und psychosozialen Versorgung fruchtbar gemacht zu haben. Besonders für die Sozialpsychologie und Psychologie war Heiner Keupp hier ein Pionier und nicht zuletzt ein entscheidender Wegbereiter der deutschen Gemeindepsychologie. Neben den bereits erwähnten Sammelbänden "Verhaltensstörungen und Sozialstruktur" (1974) und "Psychische Störungen als abweichendes Verhalten" (1972), seiner Habilitationsschrift über die Labeling-Theorie (1976) haben der mit Manfred Zaumseil herausgegebene Band "Zur gesellschaftlichen Organisierung psychischen Leidens" (1978) und seine vielen Handbuchartikel zum Thema des (psychisch) abweichenden Verhaltens, ein von der DFG Anfang der 80er Jahre gefördertes Forschungsprojekt zur deutschen Psychiatriereform (1985)4 im Kontext der von ihm mitbegründeten Münchener Projektgruppe für Sozialforschung und eine Vielzahl von initiierten und begleiteten Evaluationsprojekten im Bereich der sozial- und gemeindepsychiatrischen Versorgung in München und Bayern den gemeindepsychologischen Diskurs geprägt. In seiner weiteren wissenschaftlichen Arbeit reißt die Verbindung zu Themen der Psychiatrie nach Mitte der 80er Jahre nicht ab, auch wenn sie heute nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Vielfältige Verbindungslinien ergeben sich zu den umfangreichen Forschungsarbeiten zur Selbsthilfe Betroffener und zum freiwilligen sozialen Engagement als einem Stützpfeiler der gefährdeten sozialen Netzwerke psychisch kranker Menschen5 sowie zur Frage der "riskanten Chancen"6 der Identitätskonstruktionen im rasanten gesellschaftlichen Wandel. Aus den gesellschaftstheoretischen Analysen konnte Heiner Keupp am (an)greifbaren Feld der psychiatrischen Repression, der desolaten sozialen Lage psychisch Kranker und der autoritären nur aus dem Blickwinkel der Abweichung und auf Anpassung hin konzipierten psychiatrischen Behandlung die Kritik nachvollziehbar und Alternativen sichtbar machen. Die theoretische Neugier und der Wunsch, mit Hilfe der Wissenschaft die Welt besser begreifen (und verändern) zu können, wurde in Heiner Keupps Seminaren befriedigt: Die theoretischen Debatten verwiesen dabei auch auf grundlegende ethische Fragen und die Selbstverständigung über die Rolle des gesellschaftlichen Subjekts und dienten so im besten Sinne einer "Reflexiven Sozialpsychologie", wie die nun nach seiner Emeritierung von der Abwicklung bedrohte Abteilung an der Münchner Universität von Heiner Keupp programmatisch benannt wurde.

III. Das Engagement Heiner Keupps für eine gemeindepsychologische Perspektive in der sozialpsychiatrischen Versorgung

Von Anfang an hat sich Heiner Keupp in der Sozialpsychiatrie politisch7 und praktisch engagiert, ganz besonders in der Münchner Sozialpsychiatrie. Seine Lehrtätigkeit und sein praktisches Engagement als Berater, Mentor, Förderer, Beirat, aber auch als psychosozialer Berater, Kollege und Freund bei Konflikten und auf öffentlichen Podiumsveranstaltungen haben deutliche Spuren in der psychosozialen Szene hinterlassen. Kaum eine wichtige Initiative oder Einrichtung im Umfeld der Münchener Gemeinde- und Sozialpsychiatrie und psychosozialen Versorgung im Jahrzehnt nach der Psychiatrie-Enquête und auch noch danach, an der Heiner Keupp nicht in der einen oder anderen Weise beteiligt war und in der nicht ehemalige Studentinnen und Studenten vielfach beim Aufbau wesentlich beteiligt waren und/oder heute noch beschäftigt sind. Um nur einige wenige in München und Umgebung zu nennen: in den ersten Sozialpsychiatrischen Diensten in München, im Selbsthilfezentrum, in Beschäftigungsprojekten für psychisch behinderte Menschen, in der Familienberatung des SOS-Kinderdorfs, im Münchener Frauentherapiezentrum, bei therapeutischen Wohngemeinschaften, in Einrichtungen der Behindertenhilfe, in Montessori-Einrichtungen, in der Gesundheitsverwaltung der Landeshauptstadt München, im gerontopsychiatrischen Dienst, in Begleitforschungsprojekten oder am Deutschen Jugendinstitut etc. Insofern ist Heiner Keupp bis heute ein prägender Bestandteil der Münchener Gemeinde- und Sozialpsychiatrie.

IV. Von der Psychiatriekritik zur Analyse von Identitätsbildungsprozessen im gesellschaftlichen Wandel

Am Thema Psychiatrie spitzt sich die Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit gestörten/störenden, irritierenden, ver-rückten und kreativ aus der Norm fallenden Verhaltensweisen und Biografien zu: Sie können als sensibler Indikator für die krankmachenden Bedingungen der Gesellschaft wie auch (und oft gleichzeitig) für ein Scheitern an oder einen Widerstand gegen neue Subjektivierungsmuster gelesen werden. Das Thema der Gemeinde- und Sozialpsychiatrie hat Heiner Keupp bis heute begleitet, wenn auch in einem deutlich erweiterten gesellschaftlichen Kontext durch die Aufnahme und Weiterentwicklung der Überlegungen zur reflexiven Moderne8 und vor allem zu ihrer Ambivalenz und Flüchtigkeit9: Die eine Linie in Heiner Keupps Denken erweitert die gemeindepsychiatrische und -psychologische Perspektive in Richtung bürgerschaftlichen Engagements im Sinne einer Suche nach gesellschaftlichen Spuren für Ansätze neuer, ggf. professionell zu unterstützender Formen der Vergemeinschaftung in der reflexiven Moderne; eine weitere Linie sehe ich in Heiner Keupps Überlegungen zur Wiedergewinnung bzw. zur Neukonstruktion eines keineswegs allein bei den Ver-rückten bedrohten Kohärenzsinns unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Mit den im Rahmen eines langjährigen DFG-Sonderforschungsbereichs durchgeführten narrativ-rekonstruktiven Mikroanalysen zu den Konstruktionsprinzipien von Patchwork-Identitäten Jugendlicher in der Adoleszenzkrise rückt die Psychiatrie dann noch einmal unter einer sehr grundsätzlichen Perspektive in den Blick: Scheiternde Identitätskonstruktionen können multiple Persönlichkeiten hervorbringen, die als Normalfall und als Pathologie der modernen gesellschaftlichen Anforderungen gleichermaßen erscheinen.

Die fast schon beängstigende Produktivität Heiner Keupps, dokumentiert in einer beeindruckende Liste wissenschaftlicher Veröffentlichungen, einer kaum überschaubaren Anzahl von Vorträgen vor ganz unterschiedlichen Auditorien, öffentlichen Stellungnahmen in Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehinterviews und nicht zuletzt in seinem vielfältigen Engagement im weiten Feld gemeindepsychiatrischer/-psychologischer Theorie und Praxis, hält ungebrochen an, auch wenn die Schwerpunkte sich seit vielen Jahren auf Prozesse jugendlicher Identitätsbildung unter den veränderten Vergesellschaftungsbedingungen verlagert haben. Aber auch hier geht es ja um ein zentrales für die psychosoziale Versorgung und die Sozialpsychiatrie grundlegendes und anschlussfähiges Thema: um "riskante Chancen" der Subjektbildung, um Gefährdungen und Probleme der Identitätsbildung, um salutogenetische Ressourcen und Resilienz und ihre biografisch narrativ rekonstruierbare Basis in milieuabhängigen Sozialisationsumgebungen. In den fragilen Identitätskonstruktionen bleibt die Frage nach der Abweichung von normalistischen Zumutungen und die psychische Vulnerabilität mit ihren das Selbst und die anderen irritierenden Äußerungsformen, die an die Institutionen der psychosozialen Versorgung und der Psychiatrie delegiert werden, eine bleibende Herausforderung, der sich Heiner Keupp auch in seinem Unruhestand weiter annimmt, wie ich einer aktuellen Tagungsankündigung der Evangelischen Akademie entnommen habe.

Endnoten

  1. Diese Formulierung entstammt dem Titel eines auch noch heute lesenswerten Buches von Hans-Peter Dreitzel (1967), das wir in Heiners Seminaren lasen.
  2. Vgl. u.a. die von Heiner Keupp herausgegebenen Bände "Verhaltensstörungen und Sozialstruktur", 1974 (u.a. mit Texten von Hollingshead/Redlich, Faris/Dunham etc.) und "Psychische Störungen als abweichendes Verhalten", 1972 (u.a. mit Texten von Goffman, Szasz, Engel etc.) sowie seine Habilitationsschrift zur Labeling-Theorie, 1976.
  3. Anti-Psychiater war zur damaligen Zeit ein Schimpfwort der konservativen Universitäts- und Anstaltspsychiatrie für alle Kritiker der Psychiatrie: In diesem Sinne wurde auch Heiner Keupp als Anti-Psychiater angefeindet.
  4. Das Ergebnis dieser Studie wurde 1985 unter dem Titel "Modernisierung statt Reform - Gemeindepsychiatrie in der Krise des Wohlfahrtsstaats", Ffm: Campus, veröffentlicht (Projektleiter: Heiner Keupp; Autoren: Bonß/v. Kardorff/Riedmüller/Rerrich).
  5. Vgl. hier auch Heiner Keupps Beiträge in Keupp, H./Röhrle, B. (Hrsg.) (1987) Soziale Netzwerke. Ffm.
  6. So der Titel eines 1988 erschienen Sammelbandes mit Aufsätzen von Heiner Keupp.
  7. Neben der Wahrnehmung eines öffentlich politischen Mandats in unzähligen Vorträgen gehört hier ganz wesentlich sein verbandspolitisches (etwa im gesundheitspolitischen Ausschuss der DGSP, in der BayGSP, in der DGVT) und wissenschaftspolitisches Engagement (z.B. durch eine Vielzahl von Gutachten) oder die Gründung und Mitgliedschaft in der Gesellschaft für gemeindepsychologische Praxis hinzu.
  8. u.a. im Kontakt mit seinem soziologischen Kollegen Ulrich Beck in der Nachbarfakultät und in zwei langjährigen DFG-Sonderforschungsbereichen
  9. Meiner Einschätzung nach charakterisieren die Schriften Zygmunt Baumanns Heiner Keupps theoretische Intentionen zur Analyse der Voraussetzungen der modernen aktiven Subjektkonstruktionen besonders treffend.

Literatur beim Verfasser

Autor

Prof. Dr. Ernst von Kardorff
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Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.reha.hu-berlin.de/soziolog/

Ernst von Kardorff, Prof. Dr., Jg. 1950, seit 1995 Professur für Soziologie der Rehabilitation am Institut f. Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen und Studien u.a. zur qualitativen Sozial- und Evaluationsforschung, zu sozialen Netzwerken, zur psychosozialen Versorgung, zur Pflegepolitik, zur Selbsthilfe, zur Rolle von Angehörigen in der Rehabilitation, zur virtuellen Kommunikation und zur beruflichen Eingliederung psychisch kranker Menschen



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