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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 19 (2014), Ausgabe 2]

Hilfe, Kontrolle, kontrollierende Hilfe oder helfende Kontrolle

Psychosoziale Arbeit als helfende Kontrolle ist wahrlich kein neues Thema, schon gar nicht in der gemeindepsychologischen Tradition. Wichtige Gründungsimpulse für die Gemeindepsychologie entsprangen der Auseinandersetzung mit dem doppelten Mandat der sozialen, aber auch psychologischen und psychiatrischen Arbeit. Wer eigentlich ist der Auftraggeber der psychosozialen Arbeit? Die Person, die Hilfe braucht, oder die Gesellschaft, die bestimmte Lebenslagen als hilfebedürftig definiert? Der Widerspruch zwischen einerseits staatlichen bzw. gesellschaftlichen Zurichtungsanforderungen, die von Akteuren im psychosozialen Bereich zu erfüllen seien (schließlich werden sie aus öffentlichen Mitteln gefördert) und andererseits dem Wunsch mehr für die Emanzipation und Stärkung der an den Rand Gedrängten und Ausgegrenzten zu tun, trägt zur stetigen Reflexion des Verhältnisses von sozialer Kontrolle und Hilfe innerhalb der Gemeindepsychologie bei. In dieser Ausgabe wollen wir anhand von Beispielen und Debatten aus unterschiedlichen Themenfeldern zu einer solchen Reflexion anregen.

Den Auftakt macht Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterRalf Quindel mit seinem Beitrag, in dem er mit Hilfe der Metaphernanalyse nachspürt, wie Fachkräfte Kontrollfunktionen und Zwangsanwendung erleben, beschreiben und in ihr Verständnis von Professionalität und helfender Rolle einordnen. Es wird deutlich, welche Reflexionskompetenz und welcher Reflexionsaufwand erforderlich sind, um nicht in einfachen Rechtfertigungsmustern oder gar Verleugnungsstrategien stecken zu bleiben.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterTamara Musfeld arbeitet aufbauend auf einer Gruppendiskussion mit SozialpädagogInnen aus der Kinder- und Jugendhilfe heraus, wie schwierig es ist, den Spagat zwischen Hilfe und Kontrolle gegenüber deren AdressatInnen hinzubekommen. Die SozialpädagogInnen stehen regelmäßig vor der fachlichen Anforderung, eine vertrauliche und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und zu pflegen, sowie ihre Kontrollfunktion insbesondere mit Blick auf mögliche Kindeswohlgefährdungen auszuüben. Tamara Musfeld kommt in ihrem Beitrag zu dem Ergebnis, dass ohne eine strukturell abgesicherte und regelmäßige Reflexion dieser sich widersprechenden und doch gleichzeitig vorhandenen Rollenanforderungen das Risiko groß ist, dass die Kontrollfunktion verschleiert wird. Dies wiederum verringert die Bereitschaft der Familien, Hilfen anzunehmen und trägt somit womöglich dazu bei, das Risiko von Kindeswohlgefährdungen zu erhöhen.

In den beiden folgenden Beiträgen von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterOliver Freiling sowie von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterRegina Friedmann, Axel Bohmeyer und Christian Spieß wird eine seit den 70er Jahren bestehende Kontroverse wieder aufgegriffen: Wie können Menschen lernen, gute Eltern zu werden? Dürfen Staat und Gesellschaft Voraussetzungen für eine gelungene Elternschaft definieren? Oliver Freiling erlebt in seiner beruflichen Praxis als Erziehungsberater, wie sehr Kinder unter elterlichen Handlungen zu leiden haben. Er wirft deshalb die Frage auf, ob es nicht Maßnahmen und Strategien gibt, den Anteil dieser Kinder zu verringern und schlägt eine Art Bildungspflicht für Eltern vor, um den Kinderschutz zu verbessern. Es ist zu hinterfragen, ob und inwiefern eine solche Perspektive tatsächlich einen Beitrag zur Prävention leisten kann, ob nicht vielmehr eine Einführung eines "Elternführerscheins" ein Schritt in totalitäre gesellschaftliche Verhältnisse darstellen würde. Wer entscheidet eigentlich, auf welcher Grundlage welche Gruppe von Personen zu welchem Zeitpunkt mit welchen Vorstellungen von guter Erziehung belehrt werden muss? Betrachtet man zudem, wie sehr sich Erziehungsvorstellungen allein im letzten Jahrhundert gewandelt haben, dann wird deutlich, wie zeit- und kontextgebunden die Ideen guter Erziehung sind. Regina Friedmann, Axel Bohmeyer und Christian Spieß greifen in ihrer Erwiderung solche Fragestellungen auf. Sie stellen die Frage danach, ob die einer Bildungspflicht von Eltern zugrunde liegende Idee einer perfekten Erziehung mit dem Mängelwesen Mensch und der Vielfalt familialer Lebensformen überhaupt in Einklang zu bringen ist. Sie sehen in der Forderung nach einer Bildungspflicht für Eltern zum einen den Ausdruck des staatlichen und gesellschaftlichen Misstrauens gegenüber Familien und zum anderen eine mögliche, aber eher hilflose Reaktion auf die strukturelle Überforderung von Familien. Bildungspflichten für Eltern - so ihre Überlegungen - sind nichts anders als eine Instrumentalisierung von Familien für gesamtgesellschaftliche Interessen. Wir freuen uns auf Kommentare und Statements zu dieser Diskussion (an: Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailredaktion@bitte-keinen-spam-gemeindepsychologie.de).

Der Beitrag von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterMiriam Krücke thematisiert das Verhältnis von Zwang, Kontrolle und Hilfe am Beispiel der Diskussion und Neuregelungen zur Zwangsbehandlung. Sie wirft die Frage auf, inwiefern Zwangsbehandlungen psychisch erkrankter Menschen noch als "Hilfe wider Willen", als erforderliche Notfallmaßnahme verstanden werden können oder ob sie nicht vielmehr auch als "Disziplinierungsmaßnahme" eingesetzt werden. Sie zeigt damit auf, wie schnell der Deckmantel der Hilfe genutzt wird, um unerwünschte Verhaltensweisen, die möglicherweise die Brüchigkeit der so genannten Normalität aufzeigen, wieder unter Kontrolle zu bringen. Der Fall "Gustl Mollath" zeigt die Aktualität dieser Thematik.

Wir von der Redaktion wünschen eine anregende Lektüre!

Mike Seckinger und Ralf Quindel



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