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Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war!

Heiner Keupp
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 20 (2015), Ausgabe 2]

Zusammenfassung

Die im gesellschaftlichen Diskurs jeweils vorherrschenden und identitätsrelevanten Vorstellungen vom Alter korrespondieren gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Imperativen. Das lässt sich auch von den wissenschaftlich generierten Alterskonzepten behaupten. Hier ist Dekonstruktion notwendig. Es stellt sich dann die Frage, wie überhaupt eine selbstbestimmte Altersidentität zu begreifen ist, die nicht von heteronom vorgegebenen Alterskonstruktionen bestimmt wird? Und weiterhin ist zu fragen, wie eine Reflexion zum Lebensende erfolgen kann, das natürlicherweise und trotz Anti-Aging immer häufiger auch mit erheblichen Einschränkungen der körperlichen und psychischen Gesundheit verbunden ist.

Schlüsselwörter: Gesellschaftlicher Strukturwandel, demografische Entwicklung, Altersdiskurse, Alterskraftunternehmer. Identitätsentwicklung, Selbstsorge, Salutogenese, Empowerment

Summary

Even age is no longer what it used to be!

Within social discourse prevailing and identity-related notions of age correspond to social, economic and political imperatives. The same applies to scientifically generated age concepts. Here, deconstruction is necessary. The question arises of how to understand a self-determined age identity which is not determined by heteronomously given age structures. It also needs to be asked, how reflection at the end of life, which is naturally and despite of anti-aging increasingly associated with significant physical and mental health limitations, can occur.

Keywords: Societal structural change, demographic trends, age discourses, age entreployee, identity development, self-care, salutogenesis, empowerment



Die aktuellen Diskurse zum "grau" oder "silbern" schwanken zwischen katastrophischen Prophetien und optimistischen Prognosen. Optimistisch klingen Überschriften wie "Die Zukunft ist silbern" - so in der SZ vom 04./05.02.2006. "Attraktives Alter" heißt eine Serie, in der Seniorinnen und Senioren der Alterskohorte 50plus als besonders attraktive Kunden für alle möglichen Märkte entdeckt werden. Häufiger waren bislang allerdings solche Kommentare zu unserer "alternden Gesellschaft", die vor allem ein demographisches Horrorszenario konstruieren, das dann mit düsteren Prognosen zu einem Generationenkrieg oder zu einem Zusammenbruch sozialstaatlicher Systeme verkoppelt wird. Gegenwärtig jagen uns Thesen vom "Clash of Generations" oder vom "biologischen und sozialen Terror der Altersangst" (so im Klappentext von Frank Schirrmachers (2004) "Das Methusalem-Komplott") Zukunftsängste ein. Da ist vom "demografischen Salto" die Rede, der die klassische "Bevölkerungspyramide" von einer "zerzausten Wettertanne" zum "kopflastigen Pilz" hat werden lassen (Barz et al., 2003, S. 113). Diese Szenarien, deren demographische Basis gar nicht bestritten werden soll, verbreiten eher Panik und Hilflosigkeit, als dass sie auf zentrale gesellschaftliche Veränderungsprozesse und deren Konsequenzen für die Lebensführung und die Identitätsarbeit im Alter hinweisen und darauf vorbereiten. Allerdings hat sich seit einiger Zeit ein ganz neuer Diskurs entfaltet. Er sieht in der wachsenden Zahl von "jungen Alten" eine wichtige gesellschaftliche Ressource, die ermutigt werden soll, sich gesellschaftlich einzubringen, sich zu engagieren und das eigene Älterwerden in die eigenen Hände zu nehmen.

Vor einem Jahrzehnt haben Unternehmen und auch die öffentliche Verwaltung große Anstrengungen unternommen, um ihre älter werdenden MitarbeiterInnen möglichst schon Jahre vor dem Renteneintritt los zu werden. Vorruhestandsregelungen wurden propagiert und kamen gut an. IBM hat in den 80er und 90er Jahren einiges unternommen, um Betriebsangehörigen, die älter als 50 Jahre waren, den Weg in die Rente zu erleichtern und dazu durchaus interessante finanzielle Anreize geboten. 1982 sorgte der niederländische Elektronik-Konzern Philips für Furore, weil er seine 40jährigen Wissenschaftler in den Forschungslabors ablösen wollte. Diese "älteren Menschen" seien für die aktuellen technologischen Entwicklungen nicht fit genug. Personalchefs aus der IT-Branche verkündeten in dieser Zeit stolz, dass das Durchschnittsalter ihrer Mitarbeiter unter 40 Jahren läge.

Der ökonomisch und demografisch informierte Zeitgeist hat sich aber längst gedreht und jetzt erfährt vor allem der älter werdende Arbeitnehmer eine neue Wertschätzung, es werden Kampagnen ersonnen, um diese neue Haltung gesellschaftlich durchzusetzen (Denninger et al., 2014). Aus der biographisch frühzeitigen Exklusion aus der Erwerbsbevölkerung wird eine Konstruktion des "Alterskraftunternehmers" (van Dyk & Lessenich, 2009) und damit auch eine veränderte Sicht auf das Alter, das jetzt in den einschlägigen Diskursen kaum mehr mit Krankheit, nachlassenden körperlichen und psychischen Energien und Resignation verknüpft wird, sondern mit Aktivitäten, Produktivität und Engagement bis ins hohe Alter. Die Lehrbücher der Gerontologie müssen umgeschrieben werden und die Medien liefern die Popularisierung dieses Paradigmenwechsels.

Meine Ausgangsthese: Die jeweils vorherrschenden und identitätsrelevanten Vorstellungen vom Alter korrespondieren gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Imperativen. Das lässt sich auch von den wissenschaftlich generierten Alterskonzepten behaupten. So kann man in historischer Reihenfolge sowohl Disengagement-, Stigma-, Befreiungs- oder Aktivierungsvorkonzepte vom Alter einordnen. Es bleiben aber zwei Frage zu beantworten: Zum einen, wie überhaupt eine selbstbestimmte Altersidentität entstehen könnte, die nicht von heteronom vorgegebenen Alterskonstruktionen bestimmt wird? Und zum zweiten, wo bleibt die Reflexion zum Lebensende, das natürlicherweise und trotz Anti-Aging immer häufiger auch mit erheblichen Einschränkungen der körperlichen und psychischen Gesundheit verbunden ist?

Zunächst will ich persönlich einsteigen und darüber einen Blick auf ein verändertes Alter ermöglichen. Älter werden ist in hohem Maße von unserer Kultur und Gesellschaft abhängig und gerade in den gesellschaftlichen Umbrüchen, die gegenwärtig das Leben aller Menschen betreffen, wird auch das Thema Alter in zentraler Weise berührt. Danach gehe ich auf die Frage ein, welches Identitätsverständnis diesen veränderten Bedingungen gerecht werden kann und komme am Ende auf Fragen der Lebensgestaltung und Identitätsarbeit im Alter und den dazu erforderlichen Ressourcen zurück.

1. Älter werden in einer Gesellschaft des "disembedding"

Lebensstile und Identitäten und die damit verbundenen Vorstellungen vom "guten Leben" verändern sich gegenwärtig in dramatischer Weise. Und natürlich hat dies auch Auswirkungen auf das Älterwerden und auf die Lösungen, die wir für Lebensformen suchen (müssen), wenn wir unsere Vorstellungen vom "guten Leben" mit der Frage verbinden, wie wir auch im Alter gut leben wollen. Klar wird immer mehr, dass es dafür keine traditionellen lebensweltlichen Lösungen mehr gibt und auch die öffentlich angebotenen Lösungen längst nicht mehr überzeugend sind. Die eigene Selbstsorge wird immer wichtiger und gerade in der Notwendigkeit solcher Überlegungen zeigt sich am deutlichsten, was gesellschaftlicher Wandel für unser Thema bedeutet. Ich möchte noch bei meinen eigenen Erfahrungen verweilen und die gerontologische bzw. gerontopsychiatrische Geschichte meiner Familie rekonstruieren. Es ist eine Geschichte von Menschen, die die dramatische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts in Gestalt einschneidender Veränderungen in ihrer Biographie erlebt haben, in erstaunlicher Weise damit fertig geworden sind und dann im hohen Alter von Problemen eingeholt wurden, die sie sich nie hätten vorstellen können. Es geht um die beiden Generationen vor mir. Und es geht um Gründe, warum wir deren Vorstellungen über Altwerden und Wohnen im Alter nicht mehr als unser Modell ansehen können.

Mein Großvater ist 88 Jahre alt geworden. Er ist im Kreis seiner Familie gestorben. Die letzten fünf Lebensjahre sind aus den geordneten Bahnen seines mehr als acht Jahrzehnte geformten Lebens ziemlich herausgefallen. Er fand sich oft im Zeitschema seines eigenen Lebens nicht mehr zurecht, sein Gedächtnis fiel immer mehr aus und in unserem oberfränkischen Dorf hat er sich bei seinen Spaziergängen oft verlaufen. Aber alle im Dorf kannten ihn und ich sehe ihn noch stolz auf dem Traktor eines Bauern sitzen, der ihn irgendwo aufgelesen hatte und ihn nach Hause brachte. Er konnte uns nicht verloren gehen. Er war in ein Netzwerk eingebunden, das seine altersbedingten Defizite wahrnahm und ihn dort unterstützte, wo er alleine nicht mehr zurechtkam. Im engeren Rahmen der Großfamilie war ein noch engeres Netz da, auf das sich Opa Tag und Nacht verlassen konnte. Vor allem war es meine Großmutter, die in loyalem, traditionellem Frauenselbstverständnis feinnervig und aufopferungsvoll ihren Mann bis in seine Todesstunde begleitete. Sie selbst ist 90 geworden und war selbständig und geistig hellwach bis zu ihrem eigenen Tod im Beisein ihrer beiden Töchter. Sie starb im Haus meiner Eltern.

Und meine Eltern? Nach etwa 30 Jahren Leben und Arbeiten in einem alten fränkischen Pfarrhaus haben sie sich entschlossen, ihre Wohn- und Lebensform möglichst auch über das 68. Lebensjahr meines Vaters hinaus zu verlängern. Sie bezogen wiederum ein leerstehendes altes fränkisches Pfarrhaus, mit mehreren Treppen und einer Anzahl von Zimmern, die vor allem ihren fünf Kindern und deren Familien jederzeit einen Besuch ermöglichte. Das ging etwa zehn Jahre ganz gut. Doch dann verlor meine Mutter zunehmend ihre Alltagskompetenz. Ihr Gedächtnis verließ sie immer häufiger. Mein Vater vollzog einen erstaunlichen Rollenwechsel. Er, der für mich immer der Inbegriff eines verwöhnten Paschas war und der dafür auch immer noch hervorragende ideologische Erklärungen mit der Natur der Frau und der Natur des Mannes hatte, stieg zunehmend in die Niederungen der alltäglichen Lebens- und Küchenführung herunter. Doch unsere Bedenken wuchsen. Meine Geschwister und ich fragten uns voller Sorge, wie lange das noch gut gehen konnte. Wir lebten alle so, dass es unmöglich war, dass die Eltern bei einem von uns über längere Zeit und gar in einem pflegebedürftigen Zustand hätten leben können. Außerdem wollten sie es nicht, liebten ihre Freiheit und wollten von einem Altenheim überhaupt nichts hören. In unserer Generation und bei unserer Hilflosigkeit im Umgang mit dem Altwerden unserer Eltern wird fast durchgängig sichtbar, wie radikal sich unsere Lebensformen in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Wir sind fast alle auf öffentliche Hilfe angewiesen, für immer mehr Situationen. Seit ich mich selbst intensiver mit gerontopsychologischen Fragen beschäftige, wird mir auch zunehmend deutlich, dass mein Großvater und auch meine Mutter als psychisch alterskrank zu bezeichnen wären. Das erschreckt mich und zeigt mir auf, dass in einer Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden, auch alterspsychiatrische Störungen immer mehr zunehmen, ja, in gewissem Umfang auch 'normal' werden. Die Menschen mit den psychischen Störungen sind zumindest im hohen Alter immer weniger "die anderen", für die wir uns dann professionelle Lösungen ausdenken, das sind wir prospektiv auch selber. Und wir müssen uns einfach klarmachen, dass sie in unseren (post-)modernen Lebensformen nicht mehr so normalisiert und aufgefangen werden können, wie ich das am Beispiel meines Großvaters beschrieben habe.

Nach einem schweren Herzanfall musste dann mein Vater für eine Woche in eine Klinik und jetzt war ganz klar, dass meine Mutter ihr Leben überhaupt nicht mehr allein würde managen können. Für die eine Woche konnte sie zu meiner Schwester, die Lehrerin war und gerade Pfingstferien hatte. Vater kam aus der Klinik heim und wenige Tage danach stürzte meine Mutter und brach sich den Oberschenkelhals. Die Folge waren vier Wochen Krankenhaus und die schwere Entscheidung meines Vaters, die eigene Selbständigkeit aufzugeben und ein Appartement in einem neugebauten Altenheim zu beziehen. Eigene Möbel, das geliebte Klavier und ein Teil der manisch zusammengetragenen Briefmarkensammlung zogen mit. Es war der Ort, an dem mein Großvater Direktor eines Diakonissenmutterhauses war, die Schwestern des Altenheims kamen alle von dort, die älteren unter ihnen sprachen noch voller Hochachtung von ihm. Insofern hatten es die Eltern vergleichsweise gut. Die jüngste Schwester meines Vaters, ebenfalls Diakonisse, kam fast jeden Tag einmal vorbei. Trotzdem habe ich vor allem bei meinen Vater Merkmale von Hospitalismus, von Altersdepression und von Demoralisierung beobachtet. Ihm fehlte seine Lebenssouveränität, seine langen Waldspaziergänge, sein Garten etc. Meine Mutter war total auf ihn angewiesen, die Demenz schritt rapide voran. Sie hatten einen liebevollen Umgang miteinander. Aber hatte mein Vater genügend Chancen, ein Stückchen eigenes Leben zu leben? Seine Briefmarken packte er nicht aus. "Lass mir noch Zeit", war seine Antwort auf meine Fragen. Aber seine Zeit war abgelaufen. Er hinterließ eine Frau, die körperlich noch ganz gut beieinander war, aber immer wieder vergaß, dass ihr Mann nicht mehr lebt. Aber ohne ihn konnte und wollte sie nicht mehr leben. Psychisch verabschiedete sie sich immer mehr vom Leben. Es war erneut ein Umzug erforderlich: Sie wurde auf die hervorragend geführte Pflegestation verlegt. Zweieinhalb Jahre überlebte sie meinen Vater. Nach einem Gehirnschlag verlor sie fast vollständig ihre Sprachfähigkeit, das letzte Jahr war sie absoluter Pflegefall und wir konnten nur noch darauf hoffen, dass wir bei unseren Besuchen die große Distanz, die zwischen ihr und der realen Welt entstanden war, durch vertraute Wortmelodien und den Körperkontakt überwinden konnten.

Wenn man so will, repräsentieren meine Eltern ein Übergangsmodell. Die Vorstellung von ihrer letzten Lebensphase war noch von dem Modell geprägt, das sie meinen Großeltern ermöglicht haben, das aber für sie nicht mehr tragfähig war und sie hatten für sich kein Alternativmodell im Kopf oder gar Sorge dafür getragen, dass ein solches für sie auch verfügbar sein würde, wenn sie es benötigen würden. Der Übergang zur Reflexiven Moderne ist nicht vollzogen worden. Am ehesten noch zukunftsfähig war der unbändige Wunsch nach Autonomie, aber er war nicht verbunden mit einer Idee und vor allem einer Praxis der Selbstsorge. Ich denke das ist der zentrale Unterschied zu unserer und den nächsten Generationen. Anthony Giddens hat den Prozess der Modernisierung als einen des "disembedding" beschrieben, der uns aus Lebensmodellen ausquartiert, die für Generationen normalisiert waren. An die Stelle der traditionellen Konzepte treten aber nicht neue, die nach einem Prozess der Normalisierung und der sozialstaatlichen und wohnungspolitischen Absicherung wieder für einige Generationen tragfähige Modelle für die letzte Lebensphase garantieren. Es wird keine einfachen Antworten auf Fragen geben, wie ein bedürfnisgerechter Lebensstil aussehen kann, wenn der "Begleitschutz" der nicht mehr ortsansässigen nächsten Generationen fehlt und die psychischen und körperlichen Voraussetzungen für ein autonomes und souveränes "gutes Leben" nicht mehr gegeben sind.

Die aktuell transportierten Altersbilder setzen weitgehend auf das ungebrochen aktive und engagierte Seniorensubjekt. Dieser durchaus hoffnungsvoll klingende Diskurs ist nicht nur Ideologie, sondern ist begründet in verbesserten Lebensbedingungen und längeren Phasen gesunden Älterwerdens der Menschen heute, wenn man es mit den Vorläufergenerationen vergleicht. Aber er ist zugleich auch ideologieverdächtig, wenn von "downaging" oder von einer "Juvenilitäts-Tendenz" die Rede ist, die heute das ganze Leben bestimmen würden (so bei Horx (2011) als ein "Megatrend"). Wo bleiben dann die Fragen nach Altersarmut, dem Fehlen eines familiären Unterstützungswerkes oder der Pflegebedürftigkeit. Wie alle gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die die spätmoderne Gesellschaft strukturell verändern und die vor allem durch Individualisierungsprozesse (Berger & Hitzler, 2010) und einen Abbau traditioneller Ligaturen (Dahrendorf, 1979) bestimmt sind, ist die ambivalente Qualität dieser Veränderungsdynamik in den Blick zu nehmen. Eine einseitig auf die positiven Effekte des sich verändernden Älterwerdens zielende Kampagne ist auf jeden Fall ideologieverdächtig.

2. Zur gesellschaftlichen Dekonstruktion kontinuierlicher Entwicklungsmodelle

In einer traditional geordneten Welt, aber auch noch in der Ersten Moderne bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Lebensübergänge klar markiert, es gab normalbiographische Abläufe, die eine normative Erwartung von Übergängen erlaubten, man konnte sich auf sie einstellen und der sozialwissenschaftliche Fachjargon nennt das "antizipatorische Sozialisation". Für bestimmte Übergänge im Sinne von Statuspassagen, z.B. der Eintritt in den Kindergarten, vom Kindergarten in die Schule, von der Kindheit in das Jugendalter, zum Abschluss der Lehre oder den Start in die nachberufliche Phase etc. gab es organisierte "Übergangsriten". In Vorstellungen von "Normalbiographie" und "Karriere" ließen sich die unterschiedlichen Lebensübergänge als ein kohärentes und vorhersehbares Muster begreifen. Die Klarheit und Berechenbarkeit dieser traditionell geregelten Biographieverläufe wurde auch durch die lange Zeit prägende psychologische Identitätstheorie von Erik Erikson (1964, 1966) unterstützt. Sein "epigenetisches Schema" hat dies auch in eingängiger Weise graphisch dargestellt:

 

Abb. 1: Das epigenetische Schema der Identitätsentwicklung nach Erikson

Was bis in die Endphase des 20. Jahrhunderts noch die prägende Gestalt für die biographische Identität war, hatte schon in der Frühphase der Moderne populäre Vorläufer, die normative Vorlagen für Lebensverläufe, zumindest der bürgerlichen Schichten, zu bieten hatten. Großer Beliebtheit erfreuten sich seit dem 17. Jahrhundert sog. "Lebenstreppen", die anschaulich die einzelnen Lebensetappen darstellten und normierten. Es gab solche Lebenstreppen für Frauen, Männer oder Paare. Dabei wurde der menschliche Lebenslauf meist in zehn Stufen zu je zehn Jahren dargestellt. Der Höhepunkt des Lebens wurde auf die fünfte Dekade gesetzt, da man davon ausging, dass der Mensch in diesem Alter der Vollendung am nächsten komme. Diese Bilderbögen hingen in den Bürgerhäusern und vermittelten Menschen bildhaft das, was man als "Normalbiographie" bezeichnet, sie bildeten eine "Normalformtypisierung", die Kindern, Frauen und Männern vermittelten, was die Ordnung der Dinge in ihrem Alltag und in ihren Biographien garantieren sollte.

Abb. 2: Die Lebenstreppe des Menschen
(Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Lebenstreppe)

Solche Ordnungsmuster sind auch heute noch in Restbeständen vorhanden, aber - wie Richard Sennett (1998) aufgezeigt hat - sie bilden keinen selbstverständlichen Rahmen mehr. Einerseits werden die Übergänge immer mehr zu riskanten Schwellen, an denen ein gnadenloser Selektionsdruck herrscht und andererseits wird aus der Karriere immer mehr eine "Drift". Und Sennett erklärt uns nicht nur den Ursprung des Wortes Karriere, sondern auch den zentralen Grund für den Deutungsverlust dieser Metapher: "'Karriere' zum Beispiel bedeutete ursprünglich eine Straße für Kutschen, und als das Wort schließlich auf die Arbeit angewandt wurde, meinte es eine lebenslange Kanalisierung für die ökonomischen Anstrengungen des einzelnen. Der flexible Kapitalismus hat die gerade Straße der Karriere verlegt, er verschiebt Angestellte immer wieder abrupt von einem Arbeitsbereich in einen anderen. (...) Mit dem Angriff auf starre Bürokratien und mit der Betonung des Risikos beansprucht der flexible Kapitalismus, den Menschen, die kurzfristige Arbeitsverhältnisse eingehen, statt der geraden Linie einer Laufbahn im alten Sinne zu folgen, mehr Freiheit zu geben, ihr Leben zu gestalten" (S. 10f.). Was hier für die Arbeitswelt angesprochen wird, gilt auch für unsere Vorstellungen vom Aufwachsen, dem Erwachsensein und dem Alter und den Vorstellungen einer geordneten Ablaufstruktur. Unsere Vorstellungen von normalbiographischen Abläufen, die den Lebenslauf in einer erwartbare Abfolge von Phasen taktet und zugleich diesen Altersphasen normative Muster zuordnet, taugen für heutige Lebensabläufe immer weniger.

3. Konjunkturzyklen von Alterskonstruktionen

In den letzten Jahrzehnten haben die Diskurse zum Alter einen mehrfachen Bedeutungswandel erfahren. Lange Zeit wurde "Alter als Problem" thematisiert. Mit dem Diskurs zum "Ende der Arbeitsgesellschaft" wurde "Alter als Befreiung" gefeiert und wurde dann abgelöst vom aktuellen Diskurs, in dem "Alter als Ressource" entdeckt wird. Und das waren die prominentesten Alterskonstruktionen, die mit dem Anspruch ihrer seriösen wissenschaftlichen Begründung die Diskurse auch im politischen Raum geprägt haben:

a. Alter als Disengagement

Die Disengagementtheorie von Cumming und Henry (1961) geht von einem unvermeidlichen, durch biomedizinische Prozesse des Abbaus und Verfalls bedingten Rückzug älterer Menschen aus den Rollenfigurationen der Erwerbsphase aus. Damit schaffen sie für die "Anwärter" aus der nachfolgenden Generation freie Positionen. So entsteht eine gesellschaftliche Balance. Diese strukturfunktionalistisch inspirierte Theorie (Talcott Parsons schrieb das Vorwort) beschreibt diesen Rückzug als funktional für das Subjekt und die Gesellschaft.

b. Alter als Stigma

Die Stigmatheorie des Alters (vgl. Hohmeier & Pohl, 1978) untersucht stereotype Vorstellungen von alten Menschen, die Altenrolle und den Umgang von Institutionen mit alten Menschen. Im Stil einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung würden sich diesem Ansatz zufolge älter werdende Menschen an die gesellschaftlichen Zuschreibungen von Hilfsbedürftigkeit und Gebrechlichkeit anpassen. Ein Fremdbild wird zum Selbstbild und zur Alterspraxis. Das Subjekt wird als hilfloses Opfer gesellschaftlicher Einstellungen und ihrer Transformation in institutionelle Praxen konstruiert. Diese Theorie überträgt den in Kriminologie und Devianzsoziologie prominenten Labeling-Approach (vgl. Keupp, 1976) auf den gesellschaftlichen Umgang mit älter werdenden Menschen. Sie will nachweisen, dass vorherrschende Altersstereotype durch die Vollzugspraxis in Altenheimen bedient und durch sie "verifiziert" werden.

c. Alter als Befreiung

Mit dem Diskurs vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" wurde "Alter als Befreiung" von den "maschinenförmigen" Zwängen der modernen Arbeitswelten gefeiert. Sie wurden in ihrer Entfremdungsqualität beschrieben, die man so schnell und so gründlich hinter sich lassen sollte wie möglich, um die "späten Freiheiten" eines "eigensinnigen" und selbstbestimmten Lebens genießen zu können (vgl. Schachtner, 1988).

d. Das aktivierte Alter

Der demografische Wandel ist ein besonderer Motor, um zukunftsfähige Altersbilder zu erzeugen und das Alter entwertende oder stigmatisierende Bedeutungsakzente möglichst zu entsorgen. Und so werden wir seit einiger Zeit von der Weltgesundheitsorganisation, der Europäischen Union und vom zuständigen Bundesministerium mit Bild- und Textmaterial versorgt, das dem Alter jeden Schrecken nehmen soll.

In einem politisch und ökonomisch vorangetriebenen Aktivierungsregime wird mit dem Konstrukt der "jungen Alten" ein energetisch aufgeladenes Bild gesunder, gebildeter, innovativer, handlungsfähiger und -bereiter Subjekte konstruiert, denen ein hoher Stellenwert bei der gesellschaftlichen Wertschöpfung zugeschrieben wird. Diese "produktivistische Mobilmachung" (van Dyk & Lessenich, 2009) ist der Lösungsversuch für eine demographisch gewandelte Gesellschaft. In der attraktiven Sozialfigur der "jungen Alten" steckt die gerontologische Aneignung des "unternehmerischen Selbst". Dieses fasziniert durch seinen Zuwachs an Selbstbestimmung, die aber nicht bedingungslos ist. Sie muss gesellschaftlich nützlich sein. Konstruiert wird der "Alterskraftunternehmer".

4. Altern heute: Unvermeidlich ambivalent

Mit dieser letzten Entwicklung entsteht ein höchst ambivalentes Altersbild: Einerseits sehen wir die "jungen Alten", die als Konsumenten, bürgerschaftlich Engagierte und als berufserfahrene Arbeitnehmer eine hohe Wertschätzung erfahren und andererseits die Menschen im "vierten Lebensalter", die Gesundheits- und Pflegekosten in hohem Maße verursachen. Hier wird erneut "Alter als Problem" konstruiert.

In der Reflexiven Moderne wird das Alter zu einem individuellen Projekt, das in eine politisch-gesellschaftliche Situation eingebettet ist, die zwar Optionsspielräume eröffnet, aber auch Grenzen setzt. Diese Grenzen sind weniger durch normierte Vorstellungen gezogen, was altersgemäß ist, sondern sie werden durch Ressourcen bestimmt, auf die eine Person zurückgreifen kann.
Das zentrale gesundheitswissenschaftliche Konzept der "Selbstwirksamkeit" (Bandura, 1997) erfüllt durchaus Erwartungen des Aktivierungsregimes, geht aber in ihnen nicht auf, sondern beinhaltet die Idee des "Eigensinns", auch das Wissen um "Widerstandsressourcen", die die Bedingung für die Möglichkeit bilden, sich einer gesellschaftlichen Instrumentalisierung zu verweigern.

Auch im Alter ist Identitätsarbeit vor allem Passungsarbeit und nicht Affirmation. Es gilt das "Innere des Alterns" (Kenyon et al., 1999, S. 54) zu respektieren. Die alternden "Wutbürger", die ermüdeten Alten, die ein belastendes Arbeitsleben hinter sich haben und sich nicht mehr engagieren wollen oder die Alten, die sich ihre ganz eigenen späten Freiheiten nehmen, leben ihren Eigensinn. Das mag auch gesellschaftlichen Nutzen erzeugen, aber damit genügen sie nicht normativen Vorgaben.

5. Unabschließbare Identitätsarbeit auch im Älterwerden

a. Lebensformen und Identitäten im gesellschaftlichen Strukturwandel

Identitätspolitik hat gegenwärtig eine rechtspopulistische Konjunktur. Die sog. "Identitären" kämpfen für eine unveräußerliche, authentische und reine ethnokulturelle Identität2, die gegen kosmopolitische Entwicklungen, Multikulturalität und Hybridisierung verteidigt werden müsse. Es soll so etwas wie eine "purifizierte Identität" (Sennett, 1996) behauptet und erkämpft werden. In regressiver Absicht soll hier etwas aufgehalten werden, was die sozialwissenschaftliche Identitätsforschung seit Jahren untersucht hat. Sie hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen die gesellschaftlichen Lebensformen der Menschen heute prägen, welche Konsequenzen das für die Identitätsentwicklung hat und in unserem Zusammenhang interessiert, welche Auswirkungen sie auf das Älterwerden haben. Hier kann man wieder an den Gedanken vom "disembedding" anknüpfen. Dieser Prozess lässt sich einerseits als tiefgreifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits beschreiben, der in der Konsequenz als ein tiefreichender Enttraditionalisierungsprozess verstanden werden kann. Diese Trends hängen natürlich zusammen. In dem Maße, wie sich Menschen herauslösen aus vorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein Stück eigenes Leben gestalten können, aber auch müssen, wächst die Zahl möglicher Lebensformen und damit die möglichen Vorstellungen von Normalität und Identität. Peter Berger (1994, 83) spricht von einem "explosiven Pluralismus", ja von einem "Quantensprung". Seine Konsequenzen benennt er so: "Die Moderne bedeutet für das Leben des Menschen einen riesigen Schritt weg vom Schicksal hin zur freien Entscheidung. (...) Aufs Ganze gesehen gilt ..., dass das Individuum unter den Bedingungen des modernen Pluralismus nicht nur auswählen kann, sondern dass es auswählen muss. Da es immer weniger Selbstverständlichkeiten gibt, kann der Einzelne nicht mehr auf fest etablierte Verhaltens- und Denkmuster zurückgreifen, sondern muss sich nolens volens für die eine oder andere Möglichkeit entscheiden. (...) Sein Leben wird ebenso zu einem Projekt - genauer, zu einer Serie von Projekten - wie seine Weltanschauung und seine Identität" (1994, 95).

An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freude, der ja alles im Fließen sah. Heute wird uns ein "fluide Gesellschaft" oder die "liquid modernity" (Bauman, 2000) zur Kenntnis gebracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist.

 

Abb. 3: Grundzüge der spätmodernen Gesellschaft
(Quelle: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future Values (überarbeitet))

Im globalisierten Kapitalismus vollziehen sich dramatische Veränderungen auf allen denkbaren Ebenen und in besonderem Maße auch in unseren Lebens- und Innenwelten. Anthony Giddens (2001), einer der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostiker, hat folgende Diagnose gestellt: "Die wichtigste der gegenwärtigen globalen Veränderungen betrifft unser Privatleben - Sexualität, Beziehungen, Ehe und Familie. Unsere Einstellungen zu uns selbst und zu der Art und Weise, wie wir Bindungen und Beziehungen mit anderen gestalten, unterliegt überall auf der Welt einer revolutionären Umwälzung. (...) In mancher Hinsicht sind die Veränderungen in diesem Bereich komplizierter und beunruhigender als auf allen anderen Gebieten. (...) Doch dem Strudel der Veränderungen, die unser innerstes Gefühlsleben betreffen, können wir uns nicht entziehen" (S. 69). Globalisierung verändert also den Alltag der Menschen in nachhaltiger Form und damit auch ihre psychischen Befindlichkeiten (vgl. Hantel-Quitmann & Kastner, 2004).

Die Folgen von Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen lassen sich sehr gut an der Entwicklung privater Haushalte aufzeigen (näheres dazu bei Glatzer, 2001). Es gibt eine stetige Verkleinerung der Haushalte und eine ungebremste Zunahme von Einpersonenhaushalten zu beobachten und damit haben wir einen wichtigen Grund für den ständig steigenden Wohnungsbedarf. Von 12 Millionen Haushalten um 1900 sind wir 100 Jahre später bei 31 Millionen Haushalten angelangt. Die Verkleinerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße ist neben der Bevölkerungszunahme dafür vor allem verantwortlich, ein Prozess, der als Singularisierung der Lebensformen beschrieben werden kann. Um 1900 bestand ein Haushalt durchschnittlich aus 4,5 Personen, heute sind wir bei 2,2 Personen angelangt und die Fachleute halten diesen Trend für nicht gebremst. Vor allem die Anzahl der bewusst oder erzwungenermaßen allein lebenden Personen nimmt weiter zu. 38% aller Haushalte sind Einpersonenhaushalte.

Die Pluralisierung der Haushalte hat zu einer Überwindung des "Ehezentrismus" und hin zu einem "Netz von Lebensformen" (Hefft, 1997) geführt. In eine Minderheit ist längst die vierköpfige Familie geraten, es gibt die wachsende Anzahl von Stieffamilien oder "Patchworkfamilien", in denen sich nach Trennung und Scheidung unvollständig gewordene Familienbruchstücke zu neuen Einheiten verbinden, Kinder sich über die Zeit gelegentlich mit zwei, drei "Vätern und Müttern" arrangieren müssen. Es gibt die Ehen auf Zeit und ohne Trauschein, die bewusst auf Kinder verzichten. Es gibt die bewusst alleinerziehenden Frauen und Männer und es gibt die Wohngemeinschaften in vielfältigsten Konstellationen. Das alles sind Varianten von Familie. Die Pluralisierungsprozesse ergeben schon deshalb ein noch komplexeres Bild, weil es im Lebenslauf eines Individuums im häufiger zu einem Wechsel zwischen verschiedenen Haushalts- und Familienformen kommt. Auch in diesem Prozess ist die Fluidität der spätmodernen Gesellschaft begründet.

Als ein weiteres Merkmal der "fluiden Gesellschaft" wird die zunehmende Mobilität benannt, die sich u.a. in einem häufigeren Orts- und Wohnungswechsel ausdrückt, von dem natürlich vor allem die jüngeren Altersgruppen betroffen sind, die in ihrer Ausbildungs- und Berufseinstiegsphase immer häufiger im globalisierten Raum ihren Wohnort wechseln oder zwischen zwei Wohnungen pendeln. Aber auch die älter werdenden Menschen sind längst nicht so ortsstabil wie es der klassische Satz ausdrückt: "Einen alten Baum verpflanzt man nicht." Nach einer Modellrechnung der Schader-Stiftung zieht mehr als die Hälfte (52,23%) der 55jährigen Menschen in Ein- oder Zweipersonen-Haushalten in Mietwohnungen bis zum Alter von 75 Jahren mindestens noch einmal um; bei Eigentümerhaushalten sind es immerhin auch etwa ein Viertel (23,48%), die noch mindestens einmal die Wohnung wechseln (Heinze et al., 1997, S. 17). Insgesamt geht die Schader-Stiftung von 65% mobilen Haushalten bei der Altersgruppe der 55- bis 75jährigen Mieterhaushalte aus.

Die Folgen von Individualisierung, Pluralisierung und Mobilität gehören also zu den Normalerfahrungen in unserer Gesellschaft. Sie beschreiben strukturelle gesellschaftliche Dynamiken, die die objektiven Lebensformen von Menschen heute prägen. Doch wir müssen in der Analyse noch einen Schritt weitergehen, wenn wir begreifen wollen, auf welchem Lebensgefühl die unterschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben, Wohnen und Älterwerden basieren. Doch auch hier gibt es in der Werte-, Lebensstil- und Milieuforschung wichtige Hinweise.

b. Vorstellungen vom "guten Leben" im Wertewandel

Die Vorstellungen vom "guten Leben", also die zentralen normativen Bezugspunkte für die Lebensführung, haben sich in den letzten 50 Jahren grundlegend verändert. Es wird von einer "kopernikanischen Wende" grundlegender Werthaltungen gesprochen: "Dieser Wertewandel musste sich in Form der Abwertung des Wertekorsetts einer (von der Entwicklung längst ad acta gelegten) religiös gestützten, traditionellen Gehorsams- und Verzichtsgesellschaft vollziehen: Abgewertet und fast bedeutungslos geworden sind 'Tugenden' wie 'Gehorsam und Unterordnung', 'Bescheidenheit und Zurückhaltung', 'Einfühlung und Anpassung' und 'Fester Glauben an Gott'" (Gensicke, 1994, S. 47).

Gerade Menschen, die heute im Seniorenalter sind, haben die Dynamik des Wertewandels erlebt und überwiegend mitvollzogen. In der unmittelbaren Nachkriegsperiode war die Orientierung an traditionellen Pflichtwerten noch sehr dominant und mit einer großen Selbstverständlichkeit sind Rangordnungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern akzeptiert worden. Auch die Ausrichtung an materiellen Werten hatte in der Wiederaufbauphase eine nachvollziehbare Relevanz. Das änderte sich in einem weltweit registrierten Wertewandel, der zu oberflächlich nur der Studentenbewegung zugeschrieben wird, der vor allem immaterielle und posttraditionale Selbstverwirklichungswerte ins Zentrum rückte (vgl. Inglehart, 1995, 1997). Auch die Orientierung an utopischen Alternativen zur als entfremdet erlebten Gegenwartsgesellschaft war sehr ausgeprägt. Der Schritt ins neue Jahrtausend ließ utopische Alternativen hinter sich, war bestimmt von der Erfahrung ökonomischer Krisen und dem Bewusstsein, dass der Einzelne für sich und seine Biographie die Regie zu übernehmen hätte. Diesen Wertewandel kann man in einem Dreischritt schematisieren (vgl. Barz et al., 2001):

 

Abb. 4: Wertewandel nach dem 2. Weltkrieg
(Quelle: Barz et al. (2001) – überarbeitet)

Im Zuge dieses Wertewandels verändern sich die Vorstellungen von Familie, Geschlechterrollen oder Jugend und auch die Altersbilder und -normen sind davon betroffen:

 

Abb. 5: Folgen des Wertewandels für die Altersvorstellungen

Der beschriebene Wertewandel macht das Alter zu einem individuellen Projekt, das in eine politisch-gesellschaftliche Situation eingebettet ist, die zwar Optionsspielräume eröffnet, aber auch Grenzen setzt. Diese Grenzen sind weniger durch normierte Vorstellungen gezogen, was altersgemäß ist, sondern sie werden durch Ressourcen bestimmt, auf die eine Person zurückgreifen kann. Wenn man Alter unter Aspekten der alltäglichen Identitätsarbeit betrachtet, dann wird wichtig, dass Individuen für sich herausfinden müssen, was für sie authentisch und tragfähig ist. Bei dieser Passungsarbeit spielen die gesellschaftlichen Vorstellungen vom Älterwerden eine zentrale Rolle. Die Wertewelt ist jeweils auch ein zentraler Rahmen für meine Identitätskonstruktion: "Aufgrund meiner Identität weiß ich, worauf es mir mehr oder weniger ankommt, was mich tief greifend berührt und was eher nebensächlich ist" (Taylor, 2002, S. 271). Insofern kann es nicht überraschen, dass auch die Bezugspunkte für die Identitätsentwicklung vom Wertewandel zentral betroffen sind.

c. Identitätsarbeit heute

Die Erste Moderne hat normalbiographische Grundrisse geliefert, die als Vorgaben für individuelle Identitätsentwürfe gedient haben. Innerhalb dieser Grundrisse bildete die berufliche Teilidentität eine zentrale Rolle, die für die Identitätsarbeit der Subjekte Ordnungsvorgaben schuf. Aber auch lebensalterspezifische Rollen waren relativ klar definiert und im gesellschaftlichen Konsens abgesichert. In der Zweiten Moderne verlieren diese Ordnungsvorgaben an Verbindlichkeit und es stellt sich dann die Frage, wie Identitätskonstruktionen jetzt erfolgen. Wie fertigen die Subjekte ihre patchworkartigen Identitätsmuster? Wie entsteht der Entwurf für eine kreative Verknüpfung? Wie werden Alltagserfahrungen zu Identitätsfragmenten, die Subjekte in ihrem Identitätsmuster bewahren und sichtbar unterbringen wollen? Woher nehmen sie Nadel und Faden und wie haben sie das Geschick erworben, mit ihnen so umgehen zu können, dass sie ihre Gestaltungswünsche auch umsetzen können? Und schließlich: Woher kommen die Entwürfe für die jeweiligen Identitätsmuster? Gibt es gesellschaftlich vorgefertigte Schnittmuster, nach denen man sein eigenes Produkt fertigen kann? Gibt es Fertigpackungen mit allem erforderlichen Werkzeug und Material, das einem die Last der Selbstschöpfung ersparen kann?

Wie könnte man die Aufgabenstellung für unsere alltägliche Identitätsarbeit formulieren? Hier eine knappe Antwort: Im Zentrum der Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung stehen die Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und letztlich die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn. Das alles findet natürlich in einem mehr oder weniger förderlichen soziokulturellen Rahmen statt, der aber die individuelle Konstruktion dieser inneren Gestalt den Menschen nie ganz abnehmen kann. Es gibt gesellschaftliche Phasen, in denen der individuellen Lebensführung die bis dato stabilen kulturellen Rahmungen abhandenkommen und sich keine neuen verlässlichen Bezugspunkte der individuellen Lebensbewältigung herausbilden. Gegenwärtig befinden wir uns in einer solchen Phase.

Meine These bezieht sich genau darauf:


Ein zentrales Kriterium für Lebensbewältigung bildet die Chance, für sich eine innere Lebenskohärenz zu schaffen. In früheren gesellschaftlichen Epochen war die Bereitschaft zur Übernahme vorgefertigter Identitätspakete das zentrale Kriterium für Lebensbewältigung. Heute kommt es auf die individuelle Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum "Selbsttätigwerden" oder zur "Selbsteinbettung". Diese Aufgabe begleitet den gesamten Lebenslauf eines Menschen und sie ist nie abgeschlossen. Das Gelingen dieser Identitätsarbeit bemisst sich für das Subjekt von innen an dem Kriterium der Authentizität und von außen am Kriterium der Anerkennung.


In unserem eigenen Modell (Keupp et al., 2013) lässt sich der innere Zusammenhang der genannten Prozesse darstellen. Die Erfahrungen, die Menschen in unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens mit sich selbst machen, ergeben nicht von sich aus ein konsistentes Muster, sondern bilden Teilselbste, die Subjekte als zu ihnen gehörig zusammenfügen. Auch wenn sie durchaus im Konflikt oder Widerspruch zueinander stehen können, müssen sie als eigenes Erfahrungsassemble angeeignet werden. Das ist der Sinn der Rede von den "multiplen Identitäten", die nicht mit dem Krankheitsbild der "multiplen Persönlichkeit" verwechselt werden dürfen, das die Dissoziation von Teilidentitäten benennt, die nicht mehr gleichzeitig als Teileinheiten des eigenen Selbstbildes erlebt und akzeptiert werden können. Die Entstehung einer multiplen Persönlichkeit ist in aller Regel die Folge schwerer traumatischer Erfahrungen in der frühen Kindheit, die unerträgliche Erinnerungsspuren hinterlassen haben, die nicht als eigenes Sozialisationserbe angeeignet werden können.

Die postmodernen Identitätserzählungen und ihre theoretischen Modellbildungen (z.B. Gergen, 1996) haben diese Identitätsvielfalt als Befreiung aus den Identitätszwängen der modernen Arbeitsgesellschaft positiv gewertet. Die Verknüpfung der unterschiedlichen Selbsterfahrungen zu einem Gesamtbild der eigenen Selbstkonstruktion wurde eher als das Weiterwirken moderner Kohärenzzwänge kritisch kommentiert. Hier wurde unterstellt, dass die Frage nach der Kohärenz unweigerlich in die Identitätstradition von Erikson führen würde, der mit der Betonung von Kontinuität und Einheitlichkeit zentrale Konstruktionsprinzipien der personalen Identität formuliert hatte, die auf dem Weg in spätmoderne gesellschaftliche Verhältnisse aber zunehmend in Frage gestellt wurden. Vor allem die gesundheitswissenschaftliche Kohärenzforschung hat aufzeigen können, dass die Herstellung von inneren Verknüpfungen der vielfältigen und durchaus nicht einheitlichen Selbsterfahrungen nicht Stabilitätserwartungen entsprechen muss. Es geht vielmehr darum, diesen Herstellungsprozess als immer wieder zu leistende Identitätsarbeit zu thematisieren. Bei dieser leisten unterschiedliche Teilidentitäten, die durch spezifische Rollenvorgaben (z.B. Geschlecht oder Lebensalter) oder Lebensbereiche (wie Beruf, Konsum, Freizeit oder Politik) eine fokussierende Verknüpfung. Einige dieser Teilidentitäten können eine personenspezifische Dominanz erlangen und ordnen Erfahrungen in ein Relevanzschema. So könnte die Arbeits- und Berufswelt z.B. eine solche dominierende Lebenssphäre bilden, dass alle anderen möglichen Erfahrungswelten nachgeordnet sind. Aber auch zentrale Lebensepisoden können diese Dominanz erlangen. Sie werden dann zu biographischen Kernnarrationen, über die Menschen anderen aufzuzeigen versuchen, wer sie "wirklich" sind. Ebenso können Werte einen gewichtigen Teil in der Selbstkonstruktion einnehmen. Als zentrales Steuerungsprinzip ist aber vor allem das Identitätsgefühl zu nennen, das als Basis das Erlebnis von Authentizität ("das ist für mich so stimmig") und Kohärenz ("die unterschiedlichen Erfahrungsbezüge gehören zu mir") hat.

 

Abb. 6: Grundzüge der alltäglichen Identitätsarbeit
(Quelle: Keupp et al. (2013), S. 218 (erweitert))

Identitätsarbeit lässt sich als Passung zwischen den eigenen individuellen Wünschen, Erwartungen und Fähigkeiten und der gesellschaftlichen Realität fassen, die für Subjekte normierte Anforderungsprofile favorisiert. Passung ist nicht Anpassung, also die Rücknahme von eigenen Ideen und Handlungen, wenn sie nicht den Konformitätserwartungen der sozialen Welt entsprechen. Aber sie setzt voraus, dass eine Realitätsprüfung erfolgt, was eigene Handlungspläne in dem jeweiligen sozialen Umfeld für Konsequenzen hätten. Wenn die eigenen Handlungspläne nicht dem gesellschaftlichen Mainstream entsprechen, wird das unter Umständen Konflikte nach sich ziehen und es wird die Anerkennung für den eigenen Weg nur von einer Minderheit geben. Auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Szenen und Gruppen ist davon abhängig und damit letztlich auch die Basis für das Vertrauen in die für eine Person relevanten Alltagsabläufe. Der Passungsprozess, der immer wieder zu leisten ist, ist ein reflexiver Vorgang, der treffend als Balanceakt bezeichnet wurde (Krappmann ,1969), der die Verknüpfung von innerer und äußerer Welt so zu arrangieren hat, dass Subjekte ihren Eigensinn nicht aufgeben, aber auch nicht in eine eigensinnige Isolation geraten.

 

Abb. 7: Identitätsarbeit als Passung von innerer und äußerer Welt

d. Ressourcen für eine gelingende Altersidentität

Die bisherigen Überlegungen zum veränderten Alter kamen ja an den zentralen Punkt, dass gegenwärtig ein Diskurs vorherrschend ist, der dem Alter ein hohes Aktivitätspotential zuschreibt und zugleich eine Normierung vornimmt, was denn ein gelungenes sei. Dieses Aktivierungsschema und die entsprechende Mobilisierung von neuen Altersbildern besetzt innerhalb des Prozesses der Identitätsentwicklung vor allem die äußere Welt und unterstellt, dass das immer auch den Wünschen der Subjekte entspricht. Hier ist der Passungsprozess einseitig auf Anpassung gepolt, obwohl gleichzeitig die Entsprechung in der inneren Welt behauptet wird: Welcher ältere Mensch wollte denn nicht dieses aktive Subjekt sein? Es ist deshalb notwendig, Ressourcen zu benennen, die für eine selbstbestimmte Identitätsentwicklung im Alter unabdingbar sind.
Sicher keine vollständige Liste, aber doch besonders wichtige Ressourcen für gelingende Identitätsarbeit und Lebensbewältigung sollen abschließend dargestellt werden:

  • Herstellung eines kohärenten Sinnzusammenhangs
  • Fähigkeit zum "boundary management"
  • Notwendigkeit "einbettender Kulturen"
  • Notwendigkeit einer materiellen Basissicherung
  • Notwendigkeit der Zugehörigkeitserfahrung
  • Notwendigkeit eines Kontexts der Anerkennung
  • Notwendigkeit zivilgesellschaftlicher Basiskompetenzen

Lebenskohärenz

In einer hochpluralisierten und fluiden Gesellschaft ist die Ressource "Sinn" eine wichtige, aber auch prekäre Grundlage der Lebensführung. Sie kann nicht einfach aus dem traditionellen und jederzeit verfügbaren Reservoir allgemein geteilter Werte bezogen werden. Sie erfordert einen hohen Eigenanteil an Such-, Experimentier- und Veränderungsbereitschaft. Im Rahmen der salutogenetisch ausgerichteten Forschung hat sich das "Kohärenzgefühl" (sense of coherence) als ein erklärungsfähiges Konstrukt erwiesen (vgl. Antonovsky, 1997). Dieses Modell geht von der Prämisse aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb einer spezifischen soziokulturellen Welt als Potential gegeben sind. Sie hängen von dem kulturellen, materiellen und sozialen Entwicklungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit organismisch-konstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immunsystem einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellen ist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen sind "symbolisches Kapital", also Intelligenz, Wissen und Bildung. Eine zentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich-Identität, also eine emotionale Sicherheit in Bezug auf die eigene Person. Die Ressourcen einer Person schließen als zentralen Bereich seine zwischenmenschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von anderen Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen. Der israelische Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky hat diesen Gedanken in das Zentrum seines "salutogenetischen Modells" gestellt. Es stellt die Ressourcen in den Mittelpunkt der Analyse, die ein Subjekt mobilisieren kann, um mit belastenden, widrigen und widersprüchlichen Alltagserfahrungen produktiv umgehen zu können und nicht krank zu werden.

 

Abb. 8: Das Salutogenesekonzept von Aaron Antonovsky (1997)

Antonovsky zeigt auf, dass alle mobilisierbaren Ressourcen in ihrer Wirksamkeit letztlich von einer zentralen subjektiven Kompetenz abhängen: Dem "Gefühl von Kohärenz". Er definiert dieses Gefühl so: "Das Gefühl der Kohärenz, des inneren Zusammenhangs ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, inwieweit jemand ein sich auf alle Lebensbereiche erstreckendes, überdauerndes und doch dynamisches Vertrauen hat" (1997, S. 19), dass erstens die Anforderungen es wert sind, sich dafür anzustrengen und zu engagieren (Sinnebene), zweitens die Ressourcen verfügbar sind, die man dazu braucht, um den gestellten Anforderungen gerecht zu werden (Bewältigungsebene) und drittens die Ereignisse der inneren und äußeren Umwelt strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehensebene).

 

Abb. 9: Das Kohärenzgefühl im Modell der Salutogenese

Das Kohärenzgefühl ist stark bestimmt von der Sinndimension, also von Identitätsprojekten, deren Bedeutung Menschen wichtig ist, für die sie sich mit allen ihren Möglichkeiten engagieren wollen. Die Bedeutung des Kohärenzgefühls bzw. die Schwierigkeit, dieses aufzubauen, zeigt sich auch, wenn wir wieder den Blick auf das Älterwerden beziehen. Da sehen wir große Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen von älter werdenden Menschen. 1997 wurde von der Schader-Stiftung (Heinze et al., 1997) eine interessante Studie in Auftrag gegeben, die vier sehr unterschiedliche Gruppen aus der Alterskohorte der 55- bis 70-Jährigen ermittelt hatte:

 

Abb. 10: Typen von Senioren
(Quelle: Heinze et al., 1997)

Die Forschung hat sich weiter entwickelt und die aktuelle sozialwissenschaftliche Milieuforschung zeigt auch bezogen auf die Gruppe der älter werdenden Menschen eine hohe Pluralität:

 

Abb. 11: Sinus-Milieus der Generation 50plus
(Quelle: www.bkkmitte.de/uploads/media/_Lebenswelten_50plus_Handout.pdf)

Diese Sozialmilieus zeigen, wie unterschiedlich zentrale Wertvorstellungen bei Menschen ab dem 50. Lebensjahr in Deutschland vertreten sind. Zwar ist der Anteil der Menschen, der sich traditionsverwurzelt gibt, größer als bei jüngeren Generationen, aber es gibt auch ganz andere Wertekonstellationen, die für Veränderungen und deren aktive Gestaltung offen sind.

Diese Typologien zeigen unterschiedliche Segmente der älter werdenden Bevölkerung, die sich vor allem in Bezug auf ihre Selbstdeutungen und ihr Zutrauen zu ihrer eigenen Selbstwirksamkeit unterscheiden. Vermutlich unterscheiden sie sich auch erheblich in ihrem Kohärenzgefühl, was noch in einem künftigen Forschungsprojekt zu untersuchen wäre. In Bezug auf einige der im Weiteren zu explizierenden Ressourcen dürften sich klare Unterschiede ergeben.

Boundary management

In einem soziokulturellen Raum der Überschreitung fast aller Grenzen wird es immer mehr zu einer individuellen oder lebensweltspezifischen Leistung, die für das eigene "gute Leben" notwendigen Grenzmarkierungen zu setzen. Als nicht mehr verlässlich erweisen sich die Grenzpfähle traditioneller Moralvorstellungen, der nationalen Souveränitäten, der Generationsunterschiede, der Markierungen zwischen Natur und Kultur oder zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit. Der Optionsüberschuss erschwert die Entscheidung für die richtige eigene Alternative. Souverän alt werden, heißt, seine eigenen Grenzen zu finden und zu ziehen, auf der Ebene der Identität, der Werte, der sozialen Beziehungen und der kollektiven Einbettung.

Soziale Ressourcen

Neben familiären Netzwerken sind berufliche, freizeitbezogene oder Freundschaftsnetzwerke eine wichtige Ressource. Im Rahmen der Belastungs-Bewältigungs-Forschung stellen soziale Netzwerke vor allem einen Ressourcenfundus dar. Es geht um die Frage, welche Mittel in bestimmten Belastungssituationen im Netzwerk verfügbar sind oder von den Subjekten aktiviert werden können, um diese zu bewältigen. Das Konzept der "einbettenden Kulturen" (Kegan, 1986) zeigt die Bedeutung familiärer und außerfamiliärer Netzwerke für den Prozess einer gelingenden Identitätsarbeit. In solchen Netzwerken können Lebensalternativen angeregt und erprobt werden. In ihnen geht es um Ermutigung zu eigenwilligen Wegen, aber auch um Rückmeldung zu Plänen, Projekten, Entscheidungen, die nicht den eingefahrenen Normalitätsmodellen folgen. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Netzwerke bedürfen der aktiven Pflege und einem Bewusstsein dafür, dass sie nicht einfach selbstverständlich vorhanden sind. Für sie muss etwas getan werden, sie bedürfen der aktiven Beziehungsarbeit und diese wiederum setzt soziale Kompetenzen voraus. Sind diese Kompetenzen im eigenen Sozialisationsmilieu nicht aktiv gefördert worden, dann werden die "einbettenden Kulturen" auch nur ungenügend jene unterstützende Qualität für eine souveräne Lebensgestaltung erzeugen können, die ihnen zukommen sollte.

Materielle Ressourcen

Auch wenn uns die Armutsforschung zeigt, dass vor allem Kinder und Jugendliche überproportional hoch von Armut betroffen sind und Familien mit Kindern nicht selten mit dem "Armutsrisiko" zu leben haben, gibt es nach wie vor auch verdeckte oder offene Altersarmut. Hier holt uns immer wieder die klassische soziale Frage ein. Die Fähigkeit zu und die Erprobung von Projekten der Selbstorganisation sind ohne ausreichende materielle Absicherung nicht möglich. Die Folgen von Hartz IV können wir noch nicht exakt benennen, aber dieses sozialpolitische "Modernisierungsprogramm" wird neue Armutslage schaffen. Wenn wir von Henning Scherf, dem ehemaligen Oberbürgermeister Bremens, und seiner Ehefrau hören, was sie sich für ein tolles genossenschaftliches Wohnprojekt in der besten Bremer Innenstadtlage realisiert haben, dann wird sofort klar, dass hier neben einem wachen Kopf und Innovationsfreude auch die gegebene materielle Basis eine zentrale Voraussetzung war.

Zugehörigkeitserfahrungen

Die gesellschaftlichen "disembedding"-Erfahrungen gefährden die unbefragt selbstverständliche Zugehörigkeit von Menschen zu einer Gruppe oder einer Gemeinschaft. Die "Wir-Schicht" der Identität, wie sie Norbert Elias (1987) nennt, also die kollektive Identität, wird als bedroht wahrgenommen. Es wächst das Risiko, nicht zu dem gesellschaftlichen Kern, in dem sich dieses "Wir" konstituiert, zu gehören. Die Soziologie spricht von Inklusions- und Exklusionserfahrungen. Nicht zuletzt an der Zunahme der Migration wird der Konflikt um die symbolische Trennlinie von Zugehörigkeit und Ausschluss konflikthaft verhandelt. Rechtspopulistische Deutungen und rassistisch begründete Gewalt sind Teil dieses "Zugehörigkeitskampfes". Aber auch älter werdende Menschen, vor allem solche, die materiell schlecht gestellt sind und solche, die zunehmend vereinsamen, weil sie in der nachberuflichen Phase auf keine tragfähigen Netze zurückgreifen können bzw. diese nicht aufbauen konnten.

Anerkennungskulturen

Eng verbunden mit der Zugehörigkeitsfrage ist auch die Anerkennungserfahrung. Ohne Kontexte der Anerkennung ist Lebenssouveränität nicht zu gewinnen. Auch hier erweisen sich die gesellschaftlichen Strukturveränderungen als zentrale Ursache dafür, dass ein "Kampf um Anerkennung" entbrannt ist. In traditionellen Lebensformen ergab sich durch die individuelle Passung in spezifische vorgegebene Rollenmuster und normalbiographische Schnittmuster ein selbstverständlicher Anerkennungskontext. Diese Selbstverständlichkeit ist im Zuge der Individualisierungsprozesse, durch die die Moderne die Lebenswelten der Menschen veränderte und teilweise auflöste, in Frage gestellt worden. Anerkennung muss - wie es Charles Taylor (1993, S. 27) herausarbeitet - auf der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene erworben werden und insofern ist sie prekär geworden: "So ist uns der Diskurs der Anerkennung in doppelter Weise geläufig geworden: erstens in der Sphäre der persönlichen Beziehungen, wo wir die Ausbildung von Identität und Selbst als einen Prozess begreifen, der sich in einem fortdauernden Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen vollzieht; zweitens in der öffentlichen Sphäre, wo die Politik der gleichheitlichen Anerkennung eine zunehmend wichtigere Rolle spielt." Taylors zentrale These ist gerade für die Entwertung von Lebens- und Berufserfahrung bedeutsam, die bis vor kurzem die häufige Erfahrung von älter werdenden Arbeitnehmern war: Taylor geht davon aus, "dass unsere Identität teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt [werde], so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen" (S. 13f.).

Zivilgesellschaftliche Kompetenzen

Die Realisierung von Ideen der Selbstsorge im Hinblick auf das Alter erfordert zivilgesellschaftliche Kompetenzen. Zivilgesellschaft ist die Idee einer zukunftsfähigen demokratischen Alltagskultur, die von der identifizierten Beteiligung der Menschen an ihrem Gemeinwesen lebt und in der Subjekte durch ihr Engagement zugleich die notwendigen Bedingungen für gelingende Lebensbewältigung und Identitätsarbeit in einer offenen pluralistischen Gesellschaft schaffen und nutzen. Inzwischen liegen Daten aus drei Freiwilligensurveys (1999 - 2004 - 2009) vor, die eindrucksvoll zeigen, dass immer mehr älter werdende Menschen die Bedeutsamkeit zivilgesellschaftlicher Ressourcen entdecken und sich beginnen, in die Gestaltung unserer Gesellschaft einzumischen. Die Altersgruppen 60plus zeigen erstaunliche Zuwachsraten in den unterschiedlichsten Bereichen des bürgerschaftlichen Engagements:

 

"Bürgerschaftliches Engagement" wird aus dieser Quelle der vernünftigen Selbstsorge gespeist. Menschen suchen in diesem Engagement Lebenssinn, Lebensqualität und Lebensfreude und sie handeln aus einem Bewusstsein heraus, dass keine, aber auch wirklich keine externe Autorität das Recht für sich beanspruchen kann, die für das Subjekt stimmigen und befriedigenden Konzepte des richtigen und guten Lebens vorzugeben. Zugleich ist gelingende Selbstsorge von dem Bewusstsein durchdrungen, dass für die Schaffung autonomer Lebensprojekte soziale Anerkennung und Ermutigung gebraucht wird, sie steht also nicht im Widerspruch zu sozialer Empfindsamkeit, sondern sie setzen sich wechselseitig voraus. Und schließlich heißt eine "Politik der Lebensführung" auch: Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass meine Vorstellungen vom guten Leben im Delegationsverfahren zu verwirklichen sind. Ich muss mich einmischen. Eine solche Perspektive der Selbstsorge ist deshalb mit keiner Version "vormundschaftlicher" Politik und Verwaltung vereinbar. Ins Zentrum rückt mit Notwendigkeit die Idee der "Zivilgesellschaft". Eine Zivilgesellschaft lebt von dem Vertrauen der Menschen in ihre Fähigkeiten, im wohlverstandenen Eigeninteresse gemeinsam mit anderen die Lebensbedingungen für alle zu verbessern. Zivilgesellschaftliche Kompetenz entsteht dadurch, "dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allen ihren Bürgerinnen und Bürgern dies ermöglicht" (Ottawa Charta, 1986, in Trojan & Stumm, 1992).

Die Zuwachsraten beim Freiwilligenengagement der älteren Generationen lassen sich einerseits darüber erklären, dass Personen sich nach ihrem Eintritt in die nachberufliche Phase an Projekten beteiligen wollen, die sie für sinnvoll halten und in denen sie die Chance haben, selbstbestimmt und in Gemeinschaft mit anderen handeln zu können. Für viele bieten die "späten Freiheiten" aber auch die Möglichkeit, sich politisch und gesellschaftlich für oder auch gegen bestimmte Vorhaben zu engagieren, die sie ökologisch, kulturell oder ökonomisch für wichtig oder problematisch finden. Medial wird dann gerne von den "Wutbürgern" gesprochen (Schulak & Taghizadegan, 2011) und bebildert werden sie mit Seniorinnen und Senioren. Rekrutiert wird diese Protestgruppe in aller Regel von Personen, die seit ihrer Jugend- oder/und Studienzeit politisch engagiert sind und von dem Bewusstsein bestimmt sind, dass man die gesellschaftliche Entwicklung nicht den politischen und wirtschaftlichen Eliten überlassen darf. Der renommierte kanadische Gerontologe Stephen Katz (2009b) sieht hier ein wichtiges Potential des Alters und der "späten Freiheiten": "Möglicherweise ist zu erwarten, dass der stärkste Widerstand gegen die politischen und ökonomischen Kalküle, die die heutige 'Aktivgesellschaft' beherrschen, eher von älteren als von jüngeren Menschen ausgehen wird, denn sie sind es, die das professionelle, praktische und ethische System erfahren und kritisch reflektieren, das den gesellschaftlichen Erfolg heute an Aktivität knüpft" (Katz, 2009a, S. 181).

6. Selbstsorge im Alter als Gemeinschaftsaufgabe

An einem Thema, das durch den demografischen Wandel besonders relevant geworden ist, kann man die Entwicklungsrichtung, die durch SeniorInnen bestimmt werden wird, besonders gut ablesen. Es spricht alles dafür, dass auch die älter werdenden Menschen der vor uns liegenden Zukunft ihr Menschenrecht auf Selbstbestimmung gerade im Zusammenhang mit den eigenen "vier Wänden" nicht aufgeben werden. Sie werden - entsprechend ihren persönlicher, sozialen und materiellen Ressourcen - immer nach Wohnformen suchen, die ihren Vorstellungen vom "guten Leben" nahe kommen. Sie werden an der Gestaltung ihrer Wohnungen und ihres Wohnumfeldes mitwirken wollen. In kaum einem anderen Bereich wird so viel "Eigenarbeit" erbracht, wie im eigenen Wohnungsrevier. Gerade dieser handlungswirksam werdende "Eigensinn" führt zur offenen Pluralität auch von Wohnformen im Alter, die vielleicht von uns Wissenschaftlern typologisiert werden kann, aber die nicht planerisch standardisiert werden sollte.

  • In meiner Generation wurde viel mit gemeinschaftlichen Wohnformen experimentiert, aber gerade aus jahrelanger WG-Erfahrung kann der Wunsch nach mehr abgegrenzter Privatheit in Form des Alleinwohnens entstehen. Im Wissen darum, dass im höheren Alter dieses Alleinwohnen nicht mehr durch die Unterstützung aus dem eigenen Familiensystem gesichert werden kann, werden sich diese Personen mit der Idee des Service-Wohnens auseinandersetzen und sich solche Möglichkeiten suchen.
  • Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens in deutlich abgegrenzten Familienhaushalten gelebt haben, entscheiden sich im Alter für eine Alten-WG, die ihnen ganz neue Erfahrungen einer Gemeinschaftlichkeit ermöglichen, ohne dass ihr Wunsch nach Privatheit missachtet wäre, ja, die sogar in dieser Wohnform eine große Ermutigung zur Autonomie sehen.
  • Für wieder andere ist das Prinzip der Seniorengenossenschaften besonders attraktiv und authentisch, weil es ihnen die Möglichkeit verschafft, einen berechenbaren Beitrag für ihre eigene Zukunft, in der sie vielleicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein könnten, zu leisten. Die eigene Vorleistung schafft die Bedingung dafür, dass ich nicht auf die karitative Bereitschaft meiner Umwelt angewiesen bin.


Wie immer die konkrete Gestalt altersgerechter Wohnformen aussehen mag, eines zeichnet sich ab: Die Suche nach Alternativen zur klassischen Mehrgenerationenfamilie, in die auch die letzte Lebensphase eingebettet war, oder zu Heimunterbringungen, hat zu einer Reihe von Experimentierbaustellen geführt (Henckmann, 1999). Dabei orientieren sich viele Projekte, wie Wohngemeinschaften oder Genossenschaften, an traditionellen Modellen, wie nachbarschaftlichen Netzwerken oder Großfamilien. Allerdings nicht im Sinne romantischer Rückkehrsehnsüchte. Es sind eher "posttraditionale Ligaturen" (vgl. Keupp et al., 2001), denn sie sind eigeninitiiert, reflexiv in Bezug auf Regelungen für das Gemeinschaftsleben, die nicht von einer traditionellen Rollenverteilung bestimmt sind, sondern in denen die Arbeitsteilung, die individuellen Bedürfnisse und die Grenzen ausgehandelt werden. Hierbei sollten professionelle Hilfen angeboten werden, die sich aber im Wesentlichen um die Schaffung von Ermöglichungsbedingungen bemühen und nicht durch normative Vorgaben das klassische Modell "fürsorglicher Belagerung" fortführen sollten. Dies kommt auch in der Programmatik eines Projektes der Europäischen Kommission zum Ausdruck, das 1993 gestartet wurde und den Titel "Empowerment älterer Menschen" trägt. Dort heißt es: "Empowerment impliziert Selbstbestimmung, die Fähigkeit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, eigene Vorstellungen zu formulieren, Entscheidungen zu initiieren und Politik auf allen Ebenen aktiv mitzugestalten. Empowerment betrifft somit die ganze menschliche Existenz: die physische, geistige, spirituelle, kulturelle, soziale, ökonomische wie die politische Dimension" (Freie Altenarbeit Göttingen, 1997, S. 9). Empowerment meint eine professionelle Philosophie, die vor allem eine spezifische Einstellung für Professionelle fordert: "Empowerment ist eine Grundhaltung, die zugleich alte Menschen wie auch professionell Beschäftigte ermutigt, ihren Horizont zu erweitern und mehr als bislang von Pflegebeziehungen zu erwarten. Dass sich die 'Machtverhältnisse' dabei zugunsten der älteren Menschen verschieben, ist gleichzeitig notwendig und erwünscht: Wir sind davon überzeugt, dass beide Gruppen davon profitieren werden" (ebd.). Und weiter heißt es in diesem Programm: "Empowerment kann ein entscheidender Impuls zur Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen sein - und zwar unabhängig vom Ausmaß der Beeinträchtigungen. Natürlich: alten Menschen ist, auf weitest mögliche Weise, die Chance der Regie über all die Entscheidungen zu erhalten bzw. zurückzugeben, die ihr tägliches Leben betreffen. Ebenso sind die Chancen alter Menschen zu vergrößern, die Gesellschaft mit ihren Fähigkeiten und Erfahrungen bereichern zu können. Dies alles aber bedingt, dass diejenigen, die professionell mit alten Menschen arbeiten, ihre eigenen Einstellungen, Haltungen und ihre Praxis sorgfältig reflektieren. Entscheidend ist, dass konkrete Verfahren gefunden werden, die alte Menschen ermutigen und befähigen, an Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein" (ebd., S. 4).

Hier wird der Gedanke ins Zentrum gerückt, Menschen zur "Selbstsorge" zu ermutigen und zu befähigen. Diese Vorstellung ist nicht identisch mit einem Aktivierungs- und Mobilisierungsregime, das Alter auf eine subtile Art normativ einfängt. Vor allem Michel Foucault hat eine Utopie formuliert, die den Einzelnen als Selbstsorgeakteur ins Zentrum rückt und trotzdem ist sie bei ihm kein Ausdruck eines späten Individualismus. Er macht sich Gedanken über ein Gemeinwesen, in dem sich Subjekte zur Schöpfung ihrer eigenen Lebensgeschichte ermutigt fühlen, zu "einer permanenten Kreation unserer selbst in unserer Autonomie" (Foucault, 1990, S. 47) und sich nicht als Produkt oder Opfer der gesellschaftlichen Disziplinar- und Normalisierungsmächte erleben müssen. "Eine Polis, in der sich jeder auf die richtige Art um sich selbst kümmern würde, wäre eine Polis, die gut funktionierte; sie fände darin das ethische Prinzip ihrer Beständigkeit" (Foucault, 1985, S. 15). Selbstsorge ist also letztlich ein Gedanke, der das Subjekt mit seiner "Aufgabe der Ausarbeitung seiner selbst" (Foucault, 1990, S. 45) in einen engen Zusammenhang mit der politisch-sozialen Ordnung des Gemeinwesens bringt.

Endnoten

  1. So zum Beispiel DER SPIEGEL in seiner Ausgabe 21/2014 mit der Titelgeschichte "Ich bleib dann mal da!"
  2. Vgl. die Homepage der Identitären-Bewegung Deutschlands: http://identitaere-bewegung.de/index.php?id=23

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Autor

Prof. Dr. Heiner Keupp
Ringhofferstraße 34
85716 Unterschleißheim
heinerkeupp@bitte-keinen-spam-psy.lmu.de

Heiner Keupp, nach 40 Jahren als Hochschullehrer für Sozial- und Gemeindepsychologie, lehrt er jetzt als Gastprofessor an der Universität Bozen. Aktuell forscht er über traumatisierende Folgen von sexualisierter und physischer Gewalt in kirchlichen und pädagogischen Institutionen.



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