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Editorial

Edith Köhler und Mike Seckinger
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 24 (2019), Ausgabe 1]


Widersprüche und Paradoxien

In der psychosozialen Arbeit gibt es etliche Widersprüche und Paradoxien. Sie haben zu tun mit sich widersprechenden Handlungslogiken der die psychosoziale Arbeit bestimmenden Referenzsysteme und -disziplinen, wie z.B. Psychologie, soziale Arbeit, Politik, Ökonomie, und darin enthaltenen unterschiedlichen Vorstellungen von guter Hilfe bzw. Unterstützung. Eine weitere Quelle für permanente Widersprüche und Spannungsverhältnisse liegt in der Aufgabe, einerseits Adressatinnen und Adressaten zu helfen, zu mehr Lebenssouveränität zu gelangen, und andererseits gleichzeitig die gesellschaftlichen Erwartungen ihnen gegenüber durchzusetzen. Leistungsanforderungen an Fachkräfte scheinen zu steigen, sie werden einem Effizienzdiktat unterworfen, permanente Aktion wird gefordert, auch dann, wenn ein Abwarten möglicherweise wirksamer wäre. Darüber hinaus werden Anforderungen formuliert, die angesichts der realen Arbeitsbedingungen im psychosozialen Handlungsfeld (unzureichende Ausstattung mit Personal, Wirtschaftlichkeitskriterien, zunehmende Bürokratie und Standardisierungen von Abläufen, Strukturen, die institutionellen Logiken und nicht Bedarfen folgen) und den Brüchen in den sogenannten "Versorgungsketten" nicht erfüllt werden können. Entfremdungsprozesse bei den Fachkräften lassen sich beobachten, die so weit gehen, dass es zu "Ver-rückungen" kommt, die letztlich zu Sinnfragen bzgl. des beruflichen Handelns führen. Ungewissheit und Unsicherheiten werden autoritäre Verhaltensformen als scheinbare Lösungen gegenübergestellt. Die daraus resultierenden Spannungen müssen ausgehalten, individuell, im Team oder System bewältigt und bestenfalls abgebaut werden.

Diese Beobachtungen und Deutungen unserseits waren Anlass genug, um in dieser Ausgabe des Forums Gemeindepsychologie einmal systematischer der Frage nachzugehen, ob auch andere unsere Einschätzung teilen. Ob auch andere solche und weitere Widersprüche und Paradoxien auf den Ebenen von Fachkräften, Institutionen, Forschung, Lehre und gesellschaftlichen Bedingungen erkennen und aus ihren je spezifischen (disziplinären) Perspektiven bearbeiten wollen. Die Texte sollen Annäherungen an folgende Fragen wagen:

  • Wie sehen Spannungszustände oder Konfliktsituationen aus? Wie werden sie individuell wahrgenommen und erlebt? Welche Bewältigungsstrategien werden angewendet?
  • Wie wird institutionell damit umgegangen? Wie sieht der gesellschaftliche Diskurs diesbezüglich aus?
  • Wie wirken Widersprüche und Paradoxien auf diesen drei Ebenen - Subjekt, Organisation und Gesellschaft - in den verschiedenen Praxisfeldern zusammen?

Im Artikel von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterPeter Mosser "Flucht - Trauma - Abschiebung. Der Umgang mit geflüchteten Menschen als Manifestation verschränkter Disziplinlogiken" wird aufgezeigt, wie trotz des Ziels, strukturell geregelt Hilfe leisten zu wollen, genau das Gegenteil passieren kann. Wie die Gefahr zur Abschiebung, also in den meisten Fällen die Erhöhung der unmittelbaren Gefahr, größer geworden ist, insbesondere wenn Fachkräfte dazu beigetragen haben, menschliches Leid zu mildern. Der Autor eröffnet eine alternative Lesart administrativer Vorgaben, die angeblich unserem aller Schutze dienen. Konkrete Paragraphen des Aufenthaltsgesetzes erwecken aus dieser Perspektive den Eindruck, dass es sich hier um eine "Prosa der Feindseligkeit, des Misstrauens und der unbedingten Kontrolle handelt". Des Weiteren zeigen sich Widersprüche und Paradoxien beim Umgang mit Menschen, die an posttraumatischen Belastungssituationen leiden. Auch die Komplexität von Problemlagen und Lösungsstrategien zeigt deutlich, dass zum Beispiel administrative Regelungen bei den Betroffenen zusätzliches Leid auslösen können. Obendrein werden humanitäre Notlagen produziert, was implizit bedeutet: Die Selektion setzt sich fort.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterOlaf Neumann und Gabriele Besser formulieren und begründen in ihrem Beitrag "DIN EN ISO 9001:2015 - Segen oder Fluch für Organisationen der psychosozialen Praxis?" die auf den ersten Blick überraschende These, dass eine Orientierung von Qualitätsmanagement an der überarbeiteten ISO-Norm ein Gegengewicht zu den Negativfolgen einer Ökonomisierung psychosozialer Arbeit schaffen kann und gemeindepsychologischen Perspektiven entgegenkommt. Ausgehend von der Annahme, dass bisher Systeme des Qualitätsmanagements auch dazu da waren, Konflikte zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern auf der Ebene zwischen Leistungserbringern und Adressaten zu individualisieren anstatt sie ernsthaft zu bearbeiten. Neumann und Besser setzen mit ihrer Kritik an den Qualitätsmanagementsystemen aus gemeindepsychologischer Perspektive deshalb bei der Frage an: Welche Folgen haben solche Entwicklungen bei denjenigen, die eigentlich Unterstützung und Hilfe suchen? Welche Folgen hat es für die Gesellschaft insgesamt, wenn aus Rechten ökonomische Güter werden?. In ihrer Suche nach Antworten verweisen sie auf die notwendigerweise aus der Ökonomisierung des Feldes entstehenden Widersprüche in den Klient-Profi-Beziehungen. Ihre Schlussfolgerung ist, dass sich professionelles Handeln durch ein Verständnis von Interdependenzen und den Erhalt der eigenen Handlungsfähigkeit trotz unauflösbarer Spannungsfelder von Widersprüchen und Paradoxien auszeichnet. Dies ist, so Neumann und Besser, das Gegenteil der scheinbar erfolgreich reduktionistischen Lösungsangebote bisheriger Qualitätsmanagementstrategien. Die Überarbeitung der ISO Norm 9001 eröffnet für sie - und das ist die überraschende Wendung - Möglichkeiten, negative Folgen der Ökonomisierung sozialer Arbeit zu überwinden. Ein wichtiges Argument hierfür ist die Betonung der Notwendigkeit, Risiken eingehen zu müssen, um erfolgreich interdependente Prozesse gestalten zu können, ganz nach dem Motto: No risk, no success!

Einen anderen, wenn auch ebenfalls organisationsorientierten gemeindepsychologischen Zugang zur Beschreibung und Bearbeitung von Widersprüchen und Paradoxien liefert Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterJarg Bergold. In seinem Essay "Entwicklungschancen in psychosozialen/psychiatrischen Einrichtungen - Gemeindepsychologische Überlegungen" lässt er uns an seinen Gedanken und Erwägungen teilhaben, "wie psychosoziale Einrichtungen gestaltet werden können, um die Entwicklung aller Beteiligten, also von 'Betreuten', 'Betreuer/Innen' und 'Verwaltungspersonal', zu ermöglichen". Ausgehend von seinen vielfältigen Forschungserfahrungen und konkreten Begegnungen in Institutionen der psychosozialen Versorgung werden konzeptionelle und grundsätzliche Überlegungen zur Gestaltung von Entwicklungsräumen formuliert. Er zeigt auf, wie notwendig hierfür ein Verständnis von Empowerment ist, das sich nicht auf eine Optimierung des Individuums reduzieren lässt. Damit Organisationen, und nicht nur solche der psychosozialen Arbeit, zu entwicklungsfördernden oder zumindest entwicklungszulassenden Organisationen werden, sollten sie - so auch Bergold - mehr Wert auf prozedurale und interaktionale Gerechtigkeit (Jacobs & Dalbert, 2008) legen. Er identifiziert folgende Faktoren als notwendige Bedingungen dafür, das psychosoziale und psychiatrische Einrichtungen zu entwicklungsfördernden Einrichtungen werden können: Herstellung sicherer Räume, gelebte Beteiligung, Kommunikation, die Möglichkeitsräume eröffnet, Herstellung von Öffentlichkeit und Identitätsbildung durch die Generierung neuer Erzählungen. Darüber hinaus verweist er auf die Notwendigkeit, dass Träger von Einrichtungen sowie Kostenträger solche Entwicklungen nicht nur zulassen, sondern fordern und unterstützen sollten.

Wir - als Herausgeber dieser Ausgabe - hoffen, Neugier zum Lesen geweckt zu haben, und freuen uns auf Rückmeldungen und eine spannende Diskussion.

Edith Köhler und Mike Seckinger
Herausgeber für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie

Literatur

Bergold, J. (2019). Entwicklungschancen in psychosozialen/Psychiatrischen Einrichtungen. Gemeindepsychologische Überlegungen. Forum Gemeindepsychologie, Ausgabe 01/2019.

Jacobs, G. & Dalbert, C. (2008). Gerechtigkeit in Organisationen. Zeitschrift für Wirtschaftspsychologie, 10 (2), 3-13.

Mosser, P. (2019). Flucht - Trauma - Abschiebung. Der Umgang mit geflüchteten Menschen als Manifestation verschränkter Disziplinlogiken. Forum Gemeindepsychologie, Ausgabe 01/2019.

Neumann, O. & Besser, G. (2019). DIN EN ISO 9001:2015 - Segen oder Fluch für Organisationen der psychosozialen Praxis? Forum Gemeindepsychologie, Ausgabe 01/2019.



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