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Erzählen als Quelle von Kohärenz, Kontinuität und Anerkennung. Zur Bedeutung von Erzählen als Bewältigungsstrategie

Luise Behringer

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 27 (2022), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Die Wirkung von Erzählen ist mittlerweile in vielen Bereichen dokumentiert. Die menschliche Fähigkeit, seine Erfahrungen erzählend einzuordnen, um sich selbst und die Welt verstehen und einen Sinn für sein Leben zu finden, ist für die Lebensbewältigung und Entwicklung einer Identität unerlässlich. Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, welche Rolle Erzählen in der Bewältigung traumatischer Erfahrungen einnehmen kann. Aus unterschiedlichen Forschungs- und Praxiserfahrungen werden Aspekte des Erzählens herausgearbeitet und in Bezug zum Konzept der Handlungsbefähigung diskutiert. Dabei wird deutlich, dass Handlungsbefähigung ein Rahmenkonzept für die Einordnung von Erzählen im Kontext der Bewältigung bieten kann.

 

Schüsselwörter: Erzählen, Trauma, Bewältigung, Handlungsbefähigung

 

Summary

Narrative as a source of coherence, continuity, and recognition
On the importance of narrative as coping strategy

 

The impact of narratives is documented in many fields. The human capacity to classify one's experiences narratively in order to understand oneself and the world and to find a meaning for one's life is essential for coping and the development of an identity. This paper addresses the question of how narratives contribute to coping with traumatic experiences. Aspects of narratives are elaborated from different research and practical experiences. They are discussed in relation to the concept of Handlungsbefähigung. In the process, it becomes clear that Handlungsbefähigung can offer a framework for classifying narratives in the context of coping.


Keywords: narrative, trauma, coping, Handlungsbefähigung

 

 

Erzählen erscheint auf den ersten Blick als eher banales Geschehen, das tagtäglich stattfindet: am Küchentisch, auf dem Weg im Auto oder bei einem Treffen im Café. Wir alle erzählen gern und hören gern Erzählungen zu. Das ist schon bei kleinen Kindern beobachtbar. Kinder sind fasziniert von Geschichten und möchten sie oft mit genau gleichem Inhalt immer wieder hören. Ebenso erwarten sie, auch mit ihren Geschichten gehört zu werden. Erzählen und aufmerksames Zuhören ist dabei eng verwoben, aber nicht zwingend aufeinander verwiesen. Erzählungen können auch in Büchern oder heutzutage in Blogs oder anderen Medien festgehalten werden. Wir alle erzählen, weil es der menschlichen Natur entspricht, so sieht es Sarbin (1986), der Menschen als „storytellers by nature“ bezeichnet. Wir können anscheinend gar nicht anders als unsere Erfahrungen in Geschichten zu verarbeiten, um sie uns und anderen zugänglich zu machen. Dieses Bedürfnis ist zu allen Zeiten und in allen Kulturen zu finden. Lehmann geht von einem menschlichen Grundbedürfnis aus „die Welt erzählend in allen ihren Dimensionen zu verstehen, zu interpretieren und darüber zu erzählen“ (Lehmann, 2011, S. 28).

Doch was ist, wenn die Welt nur schwer verstanden werden kann, wenn sie Gefahren, Bedrohungen oder Verletzungen bereithält? Welchen Beitrag kann Erzählen in der Bewältigung belastender oder gar traumatischer Erfahrungen leisten? Wie lässt sich dieser Beitrag konzeptuell im Kontext der Handlungsbefähigung als Ressource einordnen und was ist darüber hinaus für Betroffene von institutionalisiertem Unrecht erforderlich, damit sie ihre Geschichten überhaupt erzählen können? Das sind die Ausgangsfragen eines Vortrags auf einer Tagung zur Arbeit mit Erfahrungen des Überlebens, den Florian Straus und ich gemeinsam erarbeitet haben.1 An diese Fragen schließt sich eine weitere, für unsere Argumentation zentrale Frage an. Hat das Erzählen auch in unserer eigenen Forschungs- und Beratungsarbeit eine wichtige Rolle gespielt und wenn ja, welche? Der erste Teil der Frage ist schnell beantwortet, natürlich ja! Ohne Erzählen von Sequenzen aus dem Leben oder der Lebensgeschichte ist weder qualitative Forschung noch Beratung denkbar. Von daher ist es naheliegend zunächst von unseren eigenen beruflichen Erfahrungen auszugehen, sie kurz zu erzählen und daran die vielfältigen individuellen und sozialen Aspekte des Erzählens zu verdeutlichen. In einem zweiten Schritt werden diese Aspekte in ihrer Bedeutung für Bewältigung untersucht. Dabei orientieren wir uns zunächst am Konzept des Kohärenzgefühls von Aaron Antonovsky (1997) als zentrale Komponente von Bewältigung, bevor wir sie in den Kontext der von Straus u.a. entwickelten Handlungsbefähigung stellen (vgl. Straus & Höfer, 2017). Abschließend gehen wir auf die Anforderungen an Aufarbeitung erlittenen Unrechts und Anerkennungskultur ein.

 

1. Bedeutung von Erzählen – einführende Gedanken

Erzählungen und Geschichten werden als einzigartig menschliche Möglichkeit betrachtet, „das eigene Erleben zu ordnen, zu bearbeiten und zu begreifen“ (Ernst, 1996, S. 202). Dies wird uns in der heutigen Zeit, in der wir einer Vielzahl von mitunter chaotischen, v.a. auch widersprüchlichen Eindrücken und Erfahrungen ausgesetzt sind, nur allzu deutlich. „Erst in einer Geschichte, in einer geordneten Sequenz von Ereignissen und deren Interpretation gewinnt dieses Chaos von Eindrücken und Erfahrungen eine gewisse Struktur, vielleicht sogar einen Sinn“ (Ernst, 1996, S. 202).

Menschen berichten nicht nur Fakten aus ihrem Leben, sondern bauen diese ein in eine Geschichte. Diese kann nur in narrativer Form erzählt werden, denn in der Art und Weise, was wir erzählen und wie wir es erzählen, verleihen wir der Geschichte eine bestimmte Bedeutung. Beim Erzählen überführen wir autobiographische Erfahrungen in ein Narrativ. Das „narrative Kodieren“ von Erfahrungen beginnen Kinder schon sehr früh im dialogischen Austausch mit Erwachsenen als „narrative Co-Konstruktion von Erfahrung“ (Nelson, 1993, zit. n. Waller &Scheidt, 2010). Dabei lernen sie auch emotional schwierige Erfahrungen zu verbalisieren.

Insbesondere mündlich erzählte Narrative orientieren sich an kulturellen Standards und folgen einer bestimmten „Erzählgrammatik“ mit einer Linearisierung und geordneten Sequenz von Erfahrungen (Waller &Scheidt, 2010, S. 58). Kohärente Narrative sind gekennzeichnet durch Information und deren Organisation in einem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang – was, wann, wo, wie und wer beteiligt war – und bieten damit Orientierung. Im Erzählen gewinnen Subjekte einen reflexiven Abstand zum Erlebten, der für Orientierung sowie Bedeutungsgebung relevant ist. Dadurch gehen Narrative über das reine Nacherzählen der Vergangenheit hinaus, sie repräsentieren, welche Bedeutung den Erfahrungen beigemessen wird (vgl. ebd.). Die Ordnung von Erfahrungen auf einer Zeitachse und Bedeutungsgebung scheint für die Subjekte besonders dann wichtig zu sein, „wenn die Dinge komplex und verworren werden“ (Brockmeier, 2015, S. 3).

Erzählungen orientieren sich nicht nur an kulturellen Standards, Menschen werden auch in eine Welt der Geschichten hineingeboren, die erzählt werden und die Orientierung geben sollen. In einer pluralisierten und fragmentierten Welt sind die großen Erzählungen zunehmend abgelöst von konkurrierenden Geschichten mit widersprüchlichen Narrationen. Unsere eigenen Geschichten sind immer mit diesen Erzählungen verwoben, ohne dass wir diesen einfach ausgeliefert wären. Wir stellen uns vielmehr in ein Verhältnis zu den Erzählungen. Als Subjekte mit reflexiven Fähigkeiten können Menschen sich selbst zum Objekt ihrer Erzählungen machen. Das Erzählte gibt ihnen Gelegenheit, Selbstverständnis zu entwickeln, sich selbst darzustellen, sich wahrnehmbar für andere zu machen, Brücken zu ihrer sozialen Umgebung zu schlagen und dadurch am Aufbau und an der Aufrechterhaltung einer gemeinsamen soziokulturellen Lebenswelt mitzuwirken (vgl. Schachtner, 2016). Nach Wulff (2012, S. 4) sind Geschichten „der Kitt, der Familien, Nachbarschaften und Freundeskreise zusammenhält“.

Sieht man sich die Literatur und den Forschungsstand zu Erzählen bzw. Erzählungen und Narrativen an, so scheint sich das menschliche Grundbedürfnis nach Erzählen auch hier abzubilden. In den letzten 20 Jahren, seit der sogenannten „narrativen Wende“, nehmen die Veröffentlichungen dazu sprunghaft zu und der Begriff „Narrativ“ hat einen nahezu inflationären Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch gefunden.

In Zeiten gesellschaftlich-kultureller Umbrüche und einer Fragmentierung des Alltags scheint sich die Herausforderung zu verstärken, die vielfältigen und oft widersprüchlichen Beobachtungen, Ereignisse und Informationen erzählend zu bearbeiten und zu verarbeiten. Die ausgeprägte narrative Suche nach Orientierung zählt zu den wichtigsten, dem Menschen eigenen Möglichkeiten der Selbst- und Weltvergewisserung (vgl. Schachtner, 2016), gerade in einer Zeit, in der die großen gesellschaftlichen Erzählungen nicht mehr tragen.

Narrative von uns selbst und von anderen über uns spielen eine wichtige Rolle für die Konstituierung des Selbstkonzepts und die Identität. McAdams (2018) beschreibt narrative Identität als eine spezifische Art Geschichte – die Geschichte wie ich die Person wurde, die ich bin, was sowohl Gegenwart, Vergangenheit als auch zukünftige Entwürfe umfasst.

Narration kann dazu beitragen die vielfältigen, oft widersprüchlichen Anforderungen und Erfahrungen in Verbindung zu bringen. In Narrativen kommt nach Wolfgang Kraus (2000) nicht nur die Bedeutung von Erfahrungen, sondern auch die Sinnstiftung zum Ausdruck. Sinn wird dadurch geschaffen, dass im Prozess des Erzählens nicht nur Erlebtes verstehbar wird, sondern auch gleichzeitig Perspektiven für die Zukunft entwickelt und aktuelle Handlungsoptionen dadurch ermöglicht verdeutlicht werden (vgl. Kraus, 2000). Menschen haben ein Bedürfnis nach Kohärenz, das eine treibende Kraft bei der Integration von Erfahrungen ist, um einen Sinn zu schaffen und Kontinuität herzustellen (Whittemore, 2005, zit. n. Abernathy, 2008). Kohärenz bedeutet dabei jedoch nicht, eine stimmige harmonische Einheit herzustellen, sondern das Heterogene zusammenzubringen, d.h. sie kann auch Widersprüchliches und Vielfältiges umfassen (vgl. Keupp et al., 1999).

Es gibt auch Geschichten, die nicht erzählt werden können, z.B. wenn traumatische Erlebnisse zugrunde liegen, die nicht in das Selbstsystem integriert und in erzählbare Erinnerungen eingegliedert werden können. Als Erfahrungsbruchstücke bleiben sie jedoch virulent, d.h., dass sich dies in Erzählungen als mäßige Kohärenz oder Inkohärenz abbildet (vgl. Waller & Scheidt, 2010). Darin spiegelt sich das zentrale Dilemma für viele Überlebende von Traumata, dass ihre Geschichten danach drängen, erzählt zu werden, aber nicht erzählt werden können. Manche Aspekte unserer menschlichen Erfahrung lassen sich eben nicht in die Grenzen einer konventionellen kohärenten Struktur einordnen (vgl. Andrews, 2010).

Zeugnisse der Überlebenden können von dem geprägt sein, was nicht da ist, sie haben in diesem Sinne keine Kohärenz, keine Struktur, keinen erkennbaren Sinn und sind nicht verständlich. Es muss nicht zwangsläufig zu einer Besserung führen, wenn Betroffene davon erzählen. Das ganze Ausmaß der Verletzungen und des Grauens kann auch überfordern und das Leid verstärken. Durch Erzählen kann jedoch auch eine Brücke gebaut werden oder wie Molly Andrews (2010, S. 164) schreibt: „There may be no promise that telling leads to healing, but very act of speech – no matter how garbled or seemingly nonsensical – can begin the process of reconnecting one to the world of the living.” Hier sieht Andrews das potenzielle Geschenk des Erzählens: das Wissen, dass wir nicht alleine sind. Sie bezieht sich dabei auf Lacan: “What I seek in speech is the response of the Other. There is no speech without a reply, even it is only met with silence” (Lacan, 1995, p. 40, 86 zit. n. Andrews, 2010).

 

2. Unser Zugang – Erzählen in beruflichen Kontexten

„Erzählen ist mehr als Erzählen“2

In der Evaluation mehrerer Projekte des „Storytelling“ bei Kindergarten- und Grundschulkindern überraschte die Wirkung der magischen Kraft des Erzählens alle Beteiligten (vgl. Straus & Höfer, 2011). Ausgebildete Erzähler:innen erzählten Kindern über einen längeren Zeitraum immer wieder freie Geschichten oder/und Märchen und bildeten die Kinder zu Erzähler:innen aus. Das Interesse am Erzählen löste zunächst Verwunderung aus, denn es ist ja nichts Besonderes, wir alle tun das ja ständig. Dass diese „simple“ Form des Erzählens bei den Kindern dann „Kleine Wunder“ bewirkte, verblüffte häufig noch mehr. In der Evaluation wurde berichtet, dass Erzählen alle Kinder nahezu gleichermaßen erreicht, was sich daran zeigte, dass sie alle gebannt zuhörten, unabhängig von ihrem Alter sowie ihrem sozialen oder kulturellen Hintergrund. In vielen Schilderungen der befragten Fachkräfte kam zum Ausdruck, wie „überraschend schnell“ die Kinder lernen, gut zuzuhören und komplizierte Wörter und Sachverhalte beherrschen, die davor nur mühsam erlernt wurden. Es fanden sich beeindruckende Befunde, die die Bedeutung für individuelle Entwicklungsprozesse der Kinder sowie die gesamte Klasse belegen. Nach Aussagen der befragten Fachkräfte konnte bei den Kindern beobachtet werden, dass das Erzählen das Selbstbewusstsein stärkt und die soziale Kompetenz, die Konzentrationsfähigkeit sowie die Sprachkompetenz fördert. Zudem konnte eine deutliche Auswirkung auf die Gemeinschaftsbildung in der Klasse bzw. Gruppe beobachtet werden. Die Kinder sind zusammengewachsen, trauten sich ihre Emotionen zu zeigen und schwierige Themen anzusprechen. In der Klasse ist eine „kulturelle Identität“ entstanden (Straus & Höfer, 2011).

Das Faszinierende des Erzählens ist, dass diese Effekte in und über einer Atmosphäre erreicht werden, die von Schüler:innen, Kindergartenkindern sowie Lehrer:innen und KiTa-Fachkräften gleichermaßen als positiv, spielerisch und anregend beschrieben werden und bei der es gelingt auch sogenannte „unruhige Kinder“ und „Störer“ zu faszinieren. Sie wurden oft schnell zu ruhigen Zuhörer:innen bzw. Erzähler:innen. Die integrierende Kraft des Erzählens zeigte sich auch daran, dass Brücken zwischen verschiedenen Generationen, Kulturen und öffentlichen Orten gebaut werden konnten (vgl. ebd.).

 

Identitätskonstruktionen

In einem Längsschnittprojekt im Rahmen des Sonderforschungsbereich 333 an der LMU München suchte Florian Straus in einer Forschungsgruppe um Heiner Keupp Antworten auf die Fragen „Wer bin ich? Wer war ich? Wer will ich sein?“ Diese können letztlich nur in Erzählungen bzw. Narrationen über sich selbst gefunden werden. Ein Individuum stellt in seinen (Selbst-)Erzählungen Verbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft her. Diese stehen jedoch nicht für sich allein, sie werden ständig mit Erzählungen anderer über die Person und soziale Konventionen abgeglichen und vermittelt. Die beständige Vermittlungsleistung von Selbstnarrationen, Erzählungen anderer und kulturellen Erzählungen als komplexes Wechselspiel von Erinnerung und Erzählung als kontinuierliches Geschehen kommt im Modell der alltäglichen Identitätsarbeit zum Ausdruck. In der alltäglichen Passungs- und Synthesearbeit konstruieren Subjekte einen Zusammenhang aus aktuellen und biografischen Erfahrungen sowie Zukunftsentwürfen, der als Metaidentität bezeichnet werden kann. In ihr werden Teilidentitäten ausbalanciert und ein Identitätsgefühl entwickelt. Kernnarrationen können als jene Teile der Identität verstanden werden, mit denen ein Subjekt zum einen versucht, die Dinge auf den Punkt zu bringen und zum anderen jene Narrationen, mit denen es versucht, dies anderen mitzuteilen. Es handelt sich schließlich „um die Ideologie von sich selbst, um den Versuch des Subjekts sich und seinem Leben einen, anderen Personen auch kommunizierbaren Sinn zu geben“ (Straus, 2008, o. S.). Damit tragen Narrationen wesentlich zu einem Gefühl von Kohärenz und Kontinuität bei.3 Kohärenz meint dabei einen für das Subjekt stimmigen Zusammenhang zwischen z. T. heterogenen, ambivalenten Erzählungen über sich, die sowohl gegenwärtige als auch biographische und in die Zukunft gerichtete Aspekte enthalten können. Die Metapher der „Patchwork-Identität“ soll diese Verknüpfungsarbeit zum Ausdruck bringen (vgl. Keupp et al., 1999).

 

Alltägliche Lebensführung

Im Projekt „Alltägliche Lebensführung von Personen“ im Rahmen des Sonderforschungsbereich 333 an der LMU München untersuchten wir vereinfacht gesagt das, was Menschen tagaus, tagein tun, wie sie es tun und wie sie das alles auf die Reihe bzw. unter einen Hut bekommen. Eine Methode, um dies zu erfassen, wäre sie in ihrem Alltag zu begleiten und zu beobachten. Nicht nur aus ökonomischen Gründen war es für uns interessanter, die narrativen Konstruktionen ihres Alltags und dessen Bewältigung/Gestaltung in erzählungsgenerierenden Interviews zu hören.

„Erzählen Sie doch bitte, wie ein normaler Tag bei Ihnen aussieht!“ „Jeder Tag sieht anders aus“ hörten wir oft, es gibt keine Regelmäßigkeiten, viel Unvorhergesehenes und teilweise wenig Struktur. Im Erzählen wurden dann oftmals Zusammenhänge erst deutlich, der „chaotische“ Alltag, die diffuse Dichte des Alltagslebens erhielt eine Struktur, wurde narrativ geordnet. Die Ordnung konnte dabei unterschiedlichen Logiken folgen – von strenger Planung bis zu vertrauensvollem Auf-sich-zukommen-Lassen, abhängig auch von den Orientierungen und Wertmaßstäben für ein gutes Leben (vgl. Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“, 1995).

Eine Erfahrung, die wir darüber hinaus machten, war die Rolle, die wir bei den „banalen Geschichten“ des Alltagslebens spielten. Dass sich zwei Personen Zeit nehmen, um die Geschichte anzuhören und sie anzuerkennen, brachte eine befragte Psychotherapeutin am Ende des Interviews zum Ausdruck:

 

„… ja, dass das eine ganz angenehme Situation ist, ich habe mir das vorher überlegt, also einfach jemanden oder zwei Frauen jetzt zu haben, die sich dafür interessieren, also das ist irgendwie ganz ganz toll, und dass das fast therapeutischen Stellenwert haben kann (...) auf so offene Ohren zu stoßen ist toll, also merke ich selber jetzt, dass das einfach wohltuend ist und irgendwie meine Aufregung ganz verschwunden ist.“

  

Erzählen in der Kultur der Maori

In einem Forschungssemester in Aotearoa/Neuseeland konnte ich die Bedeutung von Geschichten und Geschichtenerzählen alltäglich sowohl im privaten als auch beruflichen Kontext erfahren. Davon möchte ich zwei Aspekte hier kurz benennen: „Storytelling“ als Zugang zu Menschen und Herstellung von Beziehung und „Storytelling“ als Methode der „Heilung“.

In der Kultur der Maori ist (wie auch bei anderen indigenen Völkern) eine relationale Weltsicht vorherrschend, in der sie sich selbst als Teil des Ökosystems sowie der Geschichte und Zukunft ihrer Whanau (erweiterte Familie), Hapu (Substamm) und Iwi (Stamm) sehen. D.h. die eigene Geschichte ist immer verwoben mit der Geschichte des Stammes, der landschaftlichen Besonderheiten und einer spirituellen Sicht auf die Verbundenheit von Erde und Kosmos. Für Wohlbefinden zentral ist, dass diese Aspekte in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.

Die Verwobenheit äußert sich bereits, wenn zwei Menschen sich zum ersten Mal begegnen – privat oder beruflich stellen sie sich in diesen Zusammenhang, binden sich geografisch, historisch, sozial und familial ein, bevor sie zu sich selbst als letztes Element in diesem Geflecht kommen. Es geht dabei nicht um sie als einzelne Person, sondern um ihr Whakapapa, ihre Abstammung im weiteren Sinn. Diese geht über ein Rezitieren von Genealogie im Sinne von Abstammung hinaus, sondern bedeutet vielmehr so etwas wie „in Schichten platzieren“ oder „eine Basis erstellen“. Diese Einbindung ist Kernelement ihrer Identität. “You can't know your identity if you don't know your whakapapa” (Diana Kopua, zit. n. Duff, 2018, o. S.).

Das „Geschichtenerzählen“, verbunden mit aufmerksamem Zuhören und dem Austausch über andere und/oder ähnliche Geschichten, stellt eine gemeinsame Basis her und ist in hohem Maß Gemeinschaft (Relationalität) generierend (vgl. Starks et al., 2010).

Die Kultur der Maori ist eine orale Kultur, sie wird durch Erzählen weitergegeben. Viele misstrauen dem geschriebenen Wort, denn der Vertrag mit der britischen Krone hatte eine Kolonialisierung und Marginalisierung der Maori zur Folge mit einer Zersplitterung der Stämme und Familien. Sie verloren ihr Land, ihre kulturellen Praktiken, ihre Sprache und auch ihre Kinder (Fremdunterbringung, westliche Erziehung). Diese Erfahrung, die als historisches Trauma konzeptualisiert wurde, wirkt bis heute in ihnen fort, sie ist in die „Psyche und Seele“ der Maori integriert (Turia, 2000, S. 28, zit. n. Wirihana & Smith, 2014).

Folgen sind Alkoholismus, Drogen, psychische Probleme, familiäre Gewalt, Bandenkriminalität. Die Maßnahmen, mit denen der neuseeländische Staat darauf antwortete, waren ausnahmslos einer westlichen individualisierten Perspektive entsprungen.

Ende der 80er Jahre wurden soziale Hilfen, wie z. B. die Jugendhilfe, radikal verändert, um der Kultur der Maori besser gerecht zu werden. In einer an die Rituale der Maori angelehnten Konferenz (family group conference) erarbeiten sie in ihrem Familienverband selbst Vorschläge zur Lösung der Probleme (Kinderschutz, Jugendgewalt, -kriminalität). Die Problemlösung beginnt mit Geschichtenerzählen, nicht einer Problemfokussierung. Diese Geschichten repräsentieren das Whakapapa-Wissen, eine grenzenlose Sammlung von Theorien, Beobachtungen und Erfahrungen, die mit den Augen der Maori gesehen werden. In ihrer Auseinandersetzung mit historischen kollektiven und individuellen Traumata kommen Wirihana und Smith (2014) zu dem Schluss, dass traditionelle Erzählungen das Potenzial haben, das Wohlbefinden zu verbessern. „That‘s where the healing starts, with an exchange of words“ (Puketapu, zit. n. Duff, 2018, o. S.).

 

Beratung junger Familien

Ein weiterer beruflicher Kontext, in dem das Erzählen der eigenen Beziehungsgeschichte eine Rolle spielt, ist die Beratungsarbeit mit jungen Familien. Die Bindungsforschung weist auf den Zusammenhang eigener Bindungserfahrungen und feinfühligem Verhalten im Umgang mit dem Kind hin. Sie können förderlich oder hemmend sein. Das von Main, George und Kaplan (1985) entwickelte Adult Attachment Interview, bei dem frühe Erfahrungen mit Bezugspersonen erfragt und aus heutiger Sicht eingeschätzt und bewertet werden, bietet dafür einen Leitfaden. In den Geschichten, die berichtet werden, kann u. a. die Kohärenz anhand der Konversationsmaximen nach Grice (1975) erhoben werden (vgl. Gloger-Tippelt, 2012). Dabei lassen sich Schilderungen mit hoher Kohärenz, die ein zusammenhängendes Bild positiver wie negativer Erfahrungen beinhalten, rekonstruieren sowie Erzählungen mit geringerer Kohärenz, die nur wenige und vage Erinnerungen oder verwickelte Erzählungen beinhalten. Als inkohärent werden Erzählungen eingestuft, wenn manche Erfahrungen gar nicht oder nur bruchstückhaft erzählt werden. Diese Erzählungen machen darauf aufmerksam, dass traumatische Erfahrungen darunterliegen können (vgl. ebd.).

In den Interviews werden die jungen Eltern häufig das erste Mal auf ihre Geschichte gestoßen, die Art der Fragen „überrascht das Unbewusste“ sagt Mary Main. Das Adult Attachment Interview ist ein Instrument für Forschung und Diagnostik, kann aber auch einen ersten Schritt in der Verarbeitung unsicherer und unverarbeiteter desorientierter/desorganisierter Repräsentationen darstellen. Nicht unbedingt, dass neue Sichtweisen eröffnet werden, aber dass „eine Person dadurch das erste Mal die Erfahrung macht, dass sich jemand Zeit für sie nimmt, ihr zuhört und Raum lässt, in aller Ausführlichkeit und Ungereimtheit über das zu sprechen, was sie am meisten beschäftigt, aber auch gefangen hält“ (König, 2020, S. 387). Und es liefert nicht nur sehr viele wichtige Informationen, sondern bietet die Chance, auch bei schwierigen Erfahrungen Ressourcen zu entdecken (vgl. ebd.).

 

Ehemalige Heimkinder

In der Evaluation der Beratungs- und Unterstützungsarbeit der bayerischen Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder (im Rahmen des Fonds Heimerziehung) zeigte sich die Wirkung des Erzählens besonders eindrücklich v. a. dann, wenn Menschen sehr lange geschwiegen hatten. Ehemalige Heimkinder aus den Jahren 1949-1975, die in ihrer Zeit im Heim Opfer von körperlicher, seelischer, sexueller Gewalt und von Zwangsarbeit wurden, konnten sich an die Anlaufstelle wenden, um eine Entschädigung zu erhalten. Die Berater:innen der Anlaufstelle hörten Geschichten des Überlebens, die gleichermaßen schockierten und großen Respekt hervorriefen. Ein Berater einer Anlaufstelle erzählt im Interview:

 

„Und die Themen, die in meinen früheren Arbeitsbereichen aufkamen, die waren natürlich bei weitem nicht so schwer und nicht so weitreichend und nicht so existenziell bedrohlich wie die Themen, die mir hier, an der Anlaufstelle begegnet sind. Also der erste Eindruck war schon heftig. Und andererseits eben auch unglaublich spannend, weil diese Menschen einfach so viel zu erzählen haben und so auch wahnsinnige Bewältigungsstrategien entwickelt haben und teilweise wirklich, ja, unglaubliche Dinge überlebt haben.“ (Caspari et al. 2021, S. 116)

 

Nach Jahren des Schweigens, in denen ehemalige Heimkinder keine gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfuhren und niemand ihre Geschichten hören wollte, konnten und wollten Betroffene trotz des Aufrufs der Anlaufstelle oftmals nicht erzählen, einige können es bis heute nicht. Diejenigen, die sich an die Anlaufstelle gewandt hatten, zeigten jedoch eine ungewöhnlich hohe Bereitschaft, sich dann auch im Rahmen der Evaluationsstudie interviewen zu lassen und ausführlich über ihr Leben und die darin gemachten Erfahrungen zu berichten. Sie kamen in den Gesprächen häufig in einen Erzählfluss und erlebten es als Befreiung endlich erzählen zu können, jemandem gegenüber zu sitzen, der zuhört und Interesse an ihrer Geschichte hat. Erzählen zu können, ist eine Chance, traumatische Erfahrungen für sich bearbeitbar zu machen, vor allem bei sexualisierter Gewalt.

Erzählen im Kontext des Projekts wird zudem als nachholende Gerechtigkeit erlebt: Sie ist nicht nur individuelle Reflexion, sondern auch Anerkennung des Leids, das diesen ehemaligen Heimkindern in dieser Zeit zugefügt wurde und das jahrzehntelang von der Gesellschaft negiert wurde. Bilanzierend kommen Caspari et al. (2021) zu der Erkenntnis: „Es gibt in Bezug auf alle ehemaligen Heimkinder, die uns gegenübersitzen und uns von zum Teil unerträglich schrecklichen Begebenheiten erzählen, eine unanfechtbare und bedeutungsschwere Gewissheit, die darin besteht, dass sie alles, von dem sie berichten, überlebt haben. Nach allem, was wir über Gewalt und Vernachlässigung erfahren haben, ist diese Feststellung alles andere als trivial. Und sie ist, wenn sie bewusst wahrgenommen und emotional erfasst wird, ein wichtiger Aspekt der Bewältigung“ (ebd., S. 354).

 

3. Bedeutung von Erzählen – Zusammenfassung zentraler Aspekte

Wenn wir die zentralen Aspekte des Erzählens und der Erzählungen in den geschilderten Vignetten zusammenfassen, lässt sich festhalten:

 

  • Die Erfahrung wird durch die Erzählung ausgedrückt und repräsentiert.
  • Die Erfahrung wird durch die Erzählung geordnet und Zusammenhänge werden hergestellt. Der „chaotische“ Alltag, die diffuse Dichte des Alltagslebens erhält eine Struktur, wird im Erzählen geordnet.
  • Erzählungen beinhalten nicht immer glatte, geradlinige Geschichten, sie sind auch ambivalent, widersprüchlich, sperrig und mäandrierend.
  • Im Erzählen werden subjektiver Sinn und Bedeutungszusammenhänge konstruiert, Erzählungen vermitteln damit Kohärenz und Kontinuität.
  • Narrative von uns selbst und von anderen über uns spielen eine wichtige Rolle für die Konstituierung des Selbstkonzepts und die Identität.
  • Erzählen ist ein Mittel der Beziehungsgestaltung, Erzählen konstituiert Gemeinschaft.
  • Erzählungen bieten Identifikationsmöglichkeiten und vermitteln Stärke. Die Erfahrung oder zumindest bestimmte Arten von Erfahrung werden in der Erzählung erst hervorgerufen.
  • Nicht alle Erlebnisse/Erfahrungen sind der Erinnerung zugänglich, es gibt auch Geschichten, die nicht erzählt werden können. Dieser Widerspruch zwischen einem Drang zu erzählen und nicht erzählen können, kann sich in fehlender Kohärenz, Struktur und Verständlichkeit äußern.
  • Erzählen ist ein interaktiver Prozess, der auf Anerkennung durch das Gegenüber verwiesen ist. Die Schaffung und Bereitstellung von Räumen zum Erzählen der Lebensgeschichte ist deshalb eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe.

 

Wir präsentieren uns mit unserer Geschichte und orientieren uns dabei auch am Gegenüber. Die Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte ist beeinflusst von der aktuellen Situation bzw. der aktuellen Lebensphase. Geschichten können, je nachdem wann, wem und warum sie erzählt werden, sehr unterschiedlich ausfallen und sich auch widersprechen.

Ebenso können Geschichten, die wieder und wieder erzählt werden, auch zu Veränderungen in der Einordnung und Bewertung von Erfahrungen führen, d.h. aber nicht, dass Ambivalenzen und Widersprüche schnell aufgelöst werden, es können viele Zwischenstufen erforderlich sein oder die Widersprüche bleiben bestehen.

Für unsere Frage nach der Rolle von Erzählen als Bewältigungsstrategie fragen wir – wie bereits eingangs erwähnt – nach der Funktion, die Erzählen in der Bewältigung belastender oder gar traumatischer Erfahrungen hat. Dabei orientieren wir uns am Modell des „Sense of Coherence“ (Kohärenzgefühl) von Aaron Antonovsky (1997) sowie am Modell der Handlungsbefähigung von Straus und Höfer (2017).

Das Kohärenzgefühl definiert Antonovsky als „globale Orientierung“ und „dynamisches Vertrauen“ einer Person, dass Anforderungen aus der Umwelt strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind, dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Engagement lohnen und dass sie über die Ressourcen verfügt, um den Anforderungen auch gerecht zu werden (vgl. Antonovsky, 1997). Es geht darum, über ein Grundgefühl und eine Wahrnehmungsweise der Welt zu verfügen, dass wir das, was um uns herum geschieht, ausreichend verstehen und beeinflussen können. Also nicht hilflos zu sein, sondern über innere und äußere Ressourcen zu verfügen, um Probleme meistern zu können. Zu diesen beiden Dimensionen der Verstehbarkeit und Handhabbarkeit kommt eine dritte hinzu, die Sinnhaftigkeit. Damit ist gemeint, sein Leben als emotional sinnvoll zu erachten und Belastungen als Herausforderungen zu begreifen, die in das eigene Leben eingeordnet werden können (vgl. ebd.).

Dieses Konzept, das heute in den Sozial- und Gesundheitswissenschaften breite Anwendung findet, wurde von Antonovsky im Rahmen einer Untersuchung zur Adaptation von Frauen verschiedener ethnischer Gruppen in Israel an das Klimakterium entwickelt, in der er die Frauen aus ihrem Leben erzählen ließ. In dieser Untersuchung wurde einer nicht unerheblichen Gruppe von Frauen, die das Konzentrationslager überlebt hatten, eine „insgesamt recht gute emotionale Gesundheit“ attestiert (Antonovsky, 1997, S. 15).

Zur Erklärung dieses Phänomens arbeitete er das Konzept des Kohärenzgefühls heraus, das Menschen ermöglichen kann, den zahllosen Stressoren im Laufe eines Lebens einen Sinn zu geben. Nach Antonovsky wird das Kohärenzgefühl in den ersten 30 Lebensjahren aufgebaut. Nachfolgende Untersuchungen zeigen jedoch, dass es sich durch weitergehende Erfahrungen bestärken oder abschwächen kann. Dazu muss es immer wieder vor dem Hintergrund der konkreten Lebenserfahrungen, die ein Mensch macht, hergestellt werden (Retzlaff, 2016). Es ist kein Bewältigungsstil, sondern beeinflusst die Wahrnehmung und Einschätzung einer Situation. Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl nehmen schwierige Situationen eher als weniger stresshaft oder belastend wahr und vertrauen darauf, dass sie diese bewältigen können (vgl. Antonovsky, 1997).

In mehreren Untersuchungen konnte mittlerweile herausgearbeitet werden, dass durch Narration nicht nur Kohärenz hergestellt, sondern auch das Kohärenzgefühl gesteigert werden kann. „Erinnern als Akt des Erzählens, als Rekonstruktion der eigenen Geschichte in einem anderen affektiven Kontext, mit Zuhörern, die bedeutsam sind, kann heilsam wirken“ (Retzlaff, 2016, S. 145). Diese Erkenntnis bezieht sich auf die Wirkung von Therapie. Aus dem Erzählen der eigenen Geschichte (Krankheit, Behinderung, traumatische Erfahrung) können langsam Veränderungen hervorgehen, in der diese Erfahrungen mehr in die eigene Lebensgeschichte eingebunden werden (vgl. ebd.). Die Frage ist, ob es immer therapeutische Situationen sein müssen, ob sich nicht auch in Erzählwerkstätten ähnliche Effekte entwickeln können (vgl. Ortlieb, 2022). Entscheidend scheint ein Gegenüber zu sein, das bereit ist, die Geschichte zu hören, das aufmerksam zuhört und die Geschichte, auch mit all dem erfahrenen Leid anerkennt. Und gerade hier zeigt sich das Dilemma bei traumatischen Ereignissen – insbesondere Gewalt, die durch andere Menschen verursacht wurde; diese sind meist mit einer Sprachlosigkeit der Betroffenen verbunden. Und diese Sprachlosigkeit trifft häufig auf Nicht-hören-Wollen von Angehörigen und Gesellschaft. Selbst nahe Bezugspersonen sind nicht daran interessiert, sich die oftmals grauenhaften Geschichten anzuhören und anzuerkennen (vgl. Andrews, 2010).

Anerkennung im Kontext eines sozialen Beziehungsnetzes, denen Subjekte sich zugehörig fühlen, kommt im Konzept der Handlungsbefähigung als Metakompetenz zur Einschätzung von Situationen und deren Bewältigung ein zentraler Stellenwert zu (vgl. Straus & Höfer, 2017). Handlungsbefähigung bezeichnet „ein andauerndes und zugleich dynamisches Gefühl der Zuversicht“, dass alltägliche Anforderungen verstanden werden können und bewältigbar sind und man über die Ressourcen verfügt, diese zu beeinflussen und aus eigener Kraft zu meistern. Diese aus dem Modell der Salutogenese bekannten Faktoren werden um drei Faktoren erweitert: 1) Ein Gefühl der Zuversicht, dass solche Anforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden können, 2) sich selbst akzeptieren und nach vorne blicken zu können und dabei 3) in ein Netzwerk eingebunden zu sein, das Unterstützung, Zugehörigkeit und Anerkennung vermittelt.

Betrachten wir die Aspekte des Erzählens in unseren Vignetten unter der Perspektive des Modells der Handlungsbefähigung, können wir einen Bezug zu den einzelnen Faktoren herstellen:

 

  • In Erzählungen wird Orientierung und Sinn konstruiert. Sie beschreiben die Sinnhaftigkeit von bestimmten Anforderungen und Ereignissen und warum sich Anstrengungen lohnen können.
  • In Erzählungen werden Erfahrungen geordnet, Zusammenhänge hergestellt und eine Struktur entwickelt. Sie ermöglichen es zu verstehen, warum bestimmte Dinge im Leben so geschehen sind, warum Geschichten so geschehen (Verstehbarkeit).
  • Erzählungen enthalten viele Beispiele dafür, wie es gelungen ist, sich als selbstwirksam zu erleben, dass man Ressourcen hat, die es einem ermöglichen, viele Dinge im Leben aktiv zu beeinflussen (Selbstwirksamkeit).
  • Erzählungen bieten Identifikationsmöglichkeiten und vermitteln Stärke. Sie machen neugierig und zeigen Situationen immer wieder aus verschiedenen Perspektiven der Beteiligten (Perspektivenvielfalt).
  • Narrative von uns selbst und von anderen über uns spielen eine wichtige Rolle für die Konstituierung des Selbstkonzepts, sie sind die Grundlage für Identität und optimistische Selbstzuschreibung dessen, was man kann und an sich selbst mag.
  • Erzählen ist ein Mittel der Beziehungsgestaltung, Erzählen konstituiert Gemeinschaft und schafft ein Gefühl von Zugehörigkeit, dass man Teil eines tragfähigen sozialen Netzwerks ist mit Menschen, die einen nicht enttäuscht haben, die einen anerkennen (Zugehörigkeit).

 

Diese sechs Dimensionen (Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit, Selbstwirksamkeit, Perspektivenvielfalt, optimistische Selbstzuschreibungen und Zugehörigkeit) scheinen nach Caspari et al. (2021) auch ein vielversprechendes Spektrum zum Verständnis der Bewältigung von Gewalterfahrungen zur Verfügung zu stellen. Das Konzept der Handlungsbefähigung ermöglicht es, Bedingungen für eine Aufarbeitungs- und Anerkennungskultur abzuleiten, um betroffene Menschen in ihrer Erzählfähigkeit und Handlungsfähigkeit zu stärken.

 

4. Aufarbeitung der Vergangenheit und Anerkennungskultur

Erzählen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Als soziale Wesen suchen Menschen ein Gegenüber, das Interesse an ihrer Geschichte hat und sie damit anerkennt, auch wenn sie von Gewalterfahrungen handelt und belastend ist. Geschichten werden häufig im privaten Raum erzählt und mit anderen geteilt. Erzählen findet jedoch auch und gerade im therapeutischen Kontext statt. Doch was braucht es, damit von institutionalisierter Gewalt betroffene Menschen ihre Lebensgeschichten nicht nur im privaten oder therapeutischen Raum erzählen können, sondern auch in der Öffentlichkeit Gehör finden, damit das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, anerkannt wird?

Aus ihrer Studie zur Arbeit der Anlaufstelle haben Caspari et al. (2021) Eckpunkte für Aufarbeitungsprozesse und die damit verknüpfte Anerkennungskultur entwickelt, aus denen zwei Aspekte für unsere Fragestellung interessant sind - Anerkennung und Betroffenenbeteiligung. „Weil es ist doch ein Stück Anerkennung des Leids, was wir mitgemacht haben, und dass uns überhaupt ..., dass jemand die Heimkinder hört.“, sagt eine Frau im Interview dazu (Caspari et al., 2021, S. 400).

Anerkennung ist ein menschliches Grundbedürfnis, das nur im kommunikativen Dialog mit anderen eingelöst werden kann. Dieses Grundbedürfnis wurde in der Heimerziehung systematisch verletzt. Was beinhaltet diese Anerkennung heute?

Zunächst geht es auf der individuellen Ebene um Aufmerksamkeit für die einzelne Geschichte, die Zeit, die sich Mitarbeiter:innen dafür nehmen, um zuzuhören. Hinzu kommt die externe Wertschätzung des Leids, der individuellen Folgen für die Personen und schließlich die Anerkennung des erlittenen Unrechts. Für die Betroffenen bedeutet dies auch eine Rehabilitation (privat und öffentlich), die beginnen kann, „wenn die Verantwortlichen auch beginnen einzugestehen, dass die Taten damals mit Folgen bis heute verknüpft sind“ (Caspari et al., 2021, S. 349).

Mit der staatlichen Anerkennung kann dann auch eine private Anerkennung, z. B. durch Partner:innen sowie die Betroffenen selbst, einhergehen. Erst mit der Anerkennung von außen und innen kann es zu einer kollektiven Identitätsbildung im Zusammenschluss ehemaliger Heimkinder kommen. Anerkennung beinhaltet darüber hinaus die Beteiligung der Betroffenen in der Entwicklung einer gelingenden Anerkennungskultur. Nur mit Betroffenen zusammen können stimmige Verfahrensabläufe für Anerkennungsprozesse und Entschädigung und damit eine Entstigmatisierung der Opfer verwirklicht werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Organisation der Entschädigungsleistungen zu einer weiteren Demütigung beiträgt.

Und nur mit Betroffenen zusammen kann eine Erinnerungskultur entwickelt werden, in der neue Erzählungen aus den alten Erzählungen hervorgehen können.

 

Fazit

Ausgehend von der Annahme, dass Erzählen ein menschliches Grundbedürfnis ist, über das Menschen das eigene Erleben ordnen, sich über sich selbst und andere vergewissern und Anerkennung erfahren, gingen wir der Frage nach, was ist, wenn die Welt nur schwer verstanden werden kann, wenn sie Gefahren, Bedrohungen oder Verletzungen bereithält? Kann Erzählen dann einen Beitrag in der Bewältigung belastender oder gar traumatischer Erfahrungen leisten? Aus unseren beruflichen Tätigkeiten haben wir versucht diesen Fragen erzählend auf die Spur zu kommen und Aspekte des Erzählens als Quelle von Kohärenz, Kontinuität und Anerkennung herauszuarbeiten. Im Modell der Handlungsbefähigung werden diese Aspekte neben anderen konzeptualisiert. Handlungsbefähigung als „Gefühl der Zuversicht und des Vertrauens, dass alltägliche Anforderungen verstanden werden können und bewältigbar sind und man über die Ressourcen verfügt, diese zu beeinflussen und aus eigener Kraft zu meistern“ bietet uns eine anregende Hintergrundfolie, auf der wir die Bedeutung des Erzählens in der Bewältigung belastender oder traumatischer Erfahrungen untersuchen können. Die Bedeutung des Erzählens für das Kohärenzgefühl ist bereits in mehreren Studien belegt. Handlungsbefähigung geht über diesen Aspekt hinaus und betont das Gefühl der Zugehörigkeit und die Anerkennung in einem sozialen Beziehungsnetz als einen weiteren Faktor. Um überhaupt erzählen zu können, muss Raum geschaffen werden, in dem Betroffene Anerkennung erfahren und sich zugehörig fühlen können. Dies gilt im privaten ebenso wie im therapeutischen oder pädagogischen Kontext. Bei institutionalisiertem Unrecht kommt die staatliche und öffentliche Anerkennung entscheidend hinzu.

Zur Bedeutung des Erzählens als Quelle für Handlungsbefähigung würde ich gerne mit Florian Straus und den Kolleg:innen im IPP weiter denken und arbeiten.

 

Endnoten

  1. Die Tagung „Arbeit mit Erfahrungen des Überlebens in einer generationenübergreifenden Perspektive. Eine interdisziplinäre Annäherung“ fand vom 12.-14. Juni 2019 in Tutzing und Benediktbeuern statt. Ausgangspunkt unserer Überlegungen war, dass wir der Relevanz von Erzählen als Quelle von Kohärenz, Kontinuität und Anerkennung am besten über Erzählungen und Reflexionen unserer eigenen beruflichen Praxis auf die Spur kommen. Die Ausführungen in der vorliegenden Textfassung gehen dementsprechend auf unsere gemeinsamen Diskussionen und Erzählungen aus unserer Berufspraxis zurück, auch wenn sie jetzt aus meiner Feder kommen. Eigentlich hätten wir den Text gemeinsam schreiben müssen, dazu sind wir bis jetzt leider nicht gekommen. Deshalb beginne ich hier mit der Verschriftlichung unserer Erfahrungen, Überlegungen und Hypothesen zum Erzählen als Quelle von Kohärenz, Kontinuität und Anerkennung. Die Bausteine aus meiner Praxis sind etwas ausführlicher, die Erzählungen von Florian Straus kann ich nur in einer knappen Form, aus den mir vorliegenden Folien wiedergeben. Auch wenn sich in den Veröffentlichungen zu den jeweiligen Themen viel Material dazu recherchieren ließe, weiß ich doch nicht, ob es seine Erzählung gewesen wäre. Deshalb soll der vorliegende Text nicht als fertiger Text gelten, sondern als erster Schritt der Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Erzählens, die ich gerne mit Florian Straus weiterführen würde.
  2. Die Vignetten „Erzählen ist mehr als Erzählen“, „Identitätskonstruktionen“ und „Ehemalige Heimkinder“ wurden von mir aus den vorliegenden Folien verfasst. Sie geben in Bezug auf die Bedeutung von Erzählen einen kurzen Einblick in die langjährigen Forschungsarbeiten von Florian Straus. Die Publikationen von Straus & Höfer (2011), Straus (2008), Keupp et al. (1999) sowie Caspari et al. (2021) bieten eine umfassende Auseinandersetzung.
  3. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Narrationen in der Identitätsarbeit im Projekt „Patchworkidentität“ (Sonderforschungsbereich 333 der LMU München) findet sich bei Wolfgang Kraus (1996, 2000).

 

 

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Autorin

Luise Behringer
luise.behringer@bitte-keinen-spam-ksh-m.de
Dr. phil., Dipl. Psych., Professorin für Psychologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München, Campus Benediktbeuern.

 

 



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