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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 17 (2012), Ausgabe 1]

Gemeindepsychologische Perspektiven in der Erziehungsberatung

Die Ausgabe 1/2012 des Forum Gemeindepsychologie sammelt Beiträge, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen gemeindepsychologischer Konzepte in der Erziehungsberatung auseinandersetzen. Die Erziehungsberatung stand jahrelang im Ruf, ein Angebot zu sein, das vor allem Familien aus der Mittelschicht für sich nutzen können. Diese Beschreibung war durchaus auch als Vorwurf gemeint, denn schließlich gäbe es Familien in sozial prekären Lebenslagen, die keinen Zugang zum Hilfesystem finden. Die darin anklingende Konkurrenz darum, wer denn die Hilfe eher verdient hätte, ist absurd, auch wenn sie auf ein wichtiges Problem hinweist: Diejenigen, die am unteren Rande der Gesellschaft leben, müssen nicht nur eine höhere Problembelastung bewältigen, sondern haben auch einen schlechteren Zugang zu Unterstützungsressourcen.

Der Vorwurf des Mittelschichtbias lässt sich heute gegenüber den Erziehungsberatungsstellen nicht mehr aufrechterhalten. Bundesweite Repräsentativbefragungen von Familien zeigen den hohen Stellenwert, den Erziehungsberatung in allen sozialen Schichten hat (vgl. van Santen & Seckinger, 2008). Aus gemeindepsychologischer Perspektive inzwischen viel drängender zu diskutieren ist die Frage, ob die individualistische und einzeltherapeutische Ausrichtung vieler Erziehungsbratungsstellen tatsächlich dem Bedarf von Familien in Armutslagen bzw. in prekären Konstellationen gerecht wird.

Verunsicherung auf Seiten der Eltern, was ihre Kinder von ihnen brauchen, die Schwierigkeit, sich in einer hochdynamischen Umwelt zurechtzufinden, fordern geradezu auf, Formen der sozialen Einbettung zu fördern und Hilfen anzubieten, die nicht individuum- und problemzentriert sind. Erforderlich sind Konzepte, die auf der Ebene von Gruppen, Communities und Lebenswelten ansetzen. Diese sollen beraterisch-therapeutische Angebote, dort wo diese erforderlich sind, nicht ablösen, sondern das Angebotsspektrum von Erziehungsberatung erweitern.

Damit solche erweiterten Arbeitsformen zu alltäglichen Arbeitsformen werden und nicht nur sporadisch im Rahmen von zusätzlichen Angeboten eingesetzt werden, bedarf es unter anderem einer ausreichenden pauschalen, also einzelfallunabhängigen Förderung von Erziehungsberatungsstellen. Die auch im internationalen Vergleich erschreckend hohe Armut bei Kindern in Deutschland, müsste Anlass genug sein, auch in der Erziehungsberatung Angebotsformen weiterzuentwickeln, die auf Armutsfolgen angemessen reagieren. Auch Einmischungen in die öffentliche Diskussion zu Armut, deren Ursachen und Folgen - gemeinsam mit ihren Nutzer/innen - sollte zu den Aufgaben der Erziehungsberatung zählen.

Parallel zur wachsenden Armut und Ausgrenzung entwickeln sich tatsächlich neue, gemeindepsychologisch inspirierte Formen der systemüberschreitenden Zusammenarbeit. Diese speziellen gemeindepsychologisch orientierten Handlungsperspektiven, so zeigen die folgenden Beiträge, zeichnen sich durch die Berücksichtigung des sozialen Kontextes (anstelle von Individualisierung von Problemen), eine Haltung des Empowerment und der Partizipation (anstelle von Expertendominanz) sowie einen Blick auf salutogenetische Aspekte (anstelle von Pathologisierung) aus.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterOttmar Stöhr skandalisiert für das Arbeitsfeld "Erziehungsberatung und Psychotherapie"  wie wenig bisher für die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Kindern aus armen Familien getan wurde. Nach einem Überblick  zur Lebenssituation in Armut und zur Epidemiologie psychischer Auffälligkeiten bei Kindern zeigt er qualitative Lücken in der psychosozialen Versorgung auf, um schließlich auf verschiedenen Ebenen Alternativen für bessere Zugänge vorzuschlagen.

Aufsuchende familienbezogene Vorgehensweisen werden in dem Beitrag von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterHans-Peter Heekerens in der Tradition der Sozialen Arbeit verortet, im Kontext der deutschen Familientherapie betrachtet und in ihrer Bedeutung für die Erziehungsberatung beleuchtet. Er plädiert für eine systematische Implementierung  aufsuchender familienbezogener Vorgehensweisen in Erziehungsberatungsstellen, damit systemisch-familientherapeutische mit gemeindepsychologischer Expertise verbunden wird und auch mehrfach belasteten Familien zugute kommen kann.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterMarkus Fellner befasst sich in seinem Beitrag mit der Diagnose "ADHS". Er verdeutlicht die institutionellen und ideologischen Bedeutungen des Begriffs "ADHS", indem er die paradoxen Effekte der Diagnose im bundesdeutschen Schulsystem analysiert. Für die Praxis der Erziehungsberatung skizziert er eine Position im Sinne des Empowermentansatzes und plädiert für einen strategischen Umgang mit der Diagnose "ADHS" im Sinne der Ermächtigung der betroffenen Schlüler/innen.

Verantwortlich für diese Ausgabe: Ralf Quindel & Mike Seckinger

Literatur

van Santen, E. & Seckinger, M. (2008). Von der Schwierigkeit, Hilfe zu bekommen. Zeitschrift für Sozialreform, 54 (4), 343-362.



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