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Editorial

Cornelia Caspari

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 26 (2021), Ausgabe 1]

 

Psychotherapie – quo vadis?

 

Eine Reform der Psychotherapieausbildung war dringend notwendig und lange überfällig. Doch wie schon im Jahr 1998, als die Psychotherapie als Richtlinienverfahren in die Regelversorgung übernommen wurde, gibt es auch in der aktuellen Reform viele Punkte, die kontrovers diskutiert werden können.

Vor 20 Jahren gab es zunächst eine große Erleichterung darüber, dass durch das neue Psychotherapiegesetz auch Psycholog*innen ohne Delegationsverfahren Psychotherapie durchführen konnten. Doch dieses Gesetz brachte auch eine Reihe von Einschränkungen und Auflagen mit sich. So wurden nur mehr drei Verfahren im Rahmen der Regelversorgung zugelassen, deren Wirksamkeit als wissenschaftlich nachgewiesen angesehen wurde: Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse. Systemische Therapie (mittlerweile anerkannt), Gesprächspsychotherapie oder körperorientierte Verfahren wurden in der Versorgungslandschaft marginalisiert. Neben der damit verbundenen Einschränkung der Methodenvielfalt in der Psychotherapie kam es auch aufgrund der kosten- und zeitintensiven Ausbildung und den geforderten unbezahlten Pflichtpraktika im Prinzip zu einem Ausschluss ökonomisch weniger gut gestellter Ausbildungskandidat*innen. Die inhaltlich nicht gerechtfertigte Privilegierung von Ärzt*innen bei der Psychotherapieausbildung blieb weiterhin bestehen.

Dieses Ungleichgewicht erforderte eine Reform. Doch wie in der Stellungnahme der GGFP (https://www.ggfp.de/index.php/stellungnahmen-kopie.html) zum Entwurf der Psychotherapieausbildung im Januar 2019 aufgezeigt wird, gibt es auch zur Neuregelung der Ausbildung Kritikpunkte, deren wichtigste im Folgenden kurz wiedergegeben werden:

  • Eine zu enge Orientierung an einem biomedizinischen Krankheitsbild. Somit keine Integration und Erweiterung eines Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriffs im Sinne einer biopsychosozialen Ausrichtung, die einen Einschluss von Beratung, Prävention und Rehabilitation in die Regelversorgung erfordert.
  • Weiterhin ein individuumszentriertes und pathologisches Verständnis von Gesundheitsversorgung.
  • Eine Verengung des Zugangs zum Gesundheitssystem für schwer und/oder chronisch erkrankte Menschen. Aufgrund vieler Kritiken wurde dieser Punkt mittlerweile berücksichtigt und in die Reform mit aufgenommen. Näheres dazu im Artikel von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAchim Dochat.
  • Eine weitere Vereinheitlichung des psychotherapeutischen Methodenkanons und Verengung der Zugangswege zur Weiterbildung, indem die Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*in für Sozialpädagog*innen nach der Umsetzung nun nicht mehr möglich ist.
  • Unverändert dominiert weiterhin ein sehr technizistisches Bild von Symptomatik, Therapie und Heilung, obwohl Psychotherapiestudien zeigen, dass vor allem die Patient*innen-Therapeut*innen-Beziehung (und nicht so sehr die exakte Anwendung von Therapietechniken) wirkmächtig im Sinne der Heilung ist.
  • Gefährdung des grundständigen Fachs der Psychologie, das an Attraktivität verlieren kann, weil die Studiengänge auf die Psychotherapieausbildung verengt werden. Damit geht die Gefahr einher, dass eine umfassende psychologische Perspektive in der Psychotherapieausbildung unterrepräsentiert bleibt.

 

Mit dem Themenheft: „Psychotherapie – quo vadis?“ möchten wir eine Diskussion über die Vor- und Nachteile der Reform der Psychotherapieausbildung sowie zum Verhältnis von Gemeindepsychologie und Psychotherapie anstoßen.

Im Wintersemester 2020 ist der neue Studiengang Psychotherapie gestartet. Auch wenn diese Reform für das Fach der Psychologie und die Berufsausübung wesentliche Veränderungen mit sich bringt, ist die Umstellung entsprechender Strukturen bislang eher ruhig verlaufen. Es ist davon auszugehen, dass die Auswirkungen erst im Laufe der nächsten Jahre deutlicher zutage treten werden. Trotzdem haben wir als Gemeindepsycholog*innen diese Veränderung im vorliegenden Heft kritisch beleuchtet.

Der erste Artikel von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterIngeborg Schürmann gibt einen Überblick über die Reform und den neuen Studiengang „Psychotherapie“. Dabei beschäftigt sie als ehemalige Verantwortliche für die Betreuung psychologischer Praktikant*innen vor allem die Umsetzung der Studienausrichtung an den Universitäten. Die Reform stellt hohe Anforderungen an die Wissensvermittler im Fach Psychotherapie und an die Bereitstellung entsprechender Praktikumsstellen. Können Studierende von den bestehenden Systemen der Praktikumsvergabe profitieren oder braucht es neue Modelle? Zudem fragt sich die Autorin, ob bestimmte Bereiche der psychosozialen Versorgung, die gemäß den gesetzlichen Vorgaben keine Psychotherapie sind, für die Absolvent*innen nicht mehr ausbildungsrelevant sein werden und es somit zu einer langfristigen Benachteiligung dieser Bereiche kommt.

„Die Alternative zu einem fachlich eigenständigen Weg zu einer sozialwissenschaftlich geprägten Klinischen Psychologie war bereits […] aufgegeben und hat mit dem jetzt beschlossenen grundständigen Studium der Psychotherapie seine endgültige Beerdigung erfahren.“ Dies ist eine These von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterHeiner Keupp, der aus der kritischen Position einer reflexiven Sozialpsychologie die Entwicklungen des Fachs Psychologie in seinem Artikel geschichtlich aufzeigt. Er sieht die ureigenste Kernaufgabe der Psychologie, „sich selbst zu hinterfragen“, durch die neue Reform in Gefahr, da sich ihr Selbstverständnis immer stärker in Richtung einer reinen „Versorgungsleistung“ verengt.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterSilke Gahleitner und Adrian Golatka beleuchten die aktuelle Gesetzesnovelle aus Sicht der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und kritisieren dabei die strengere Grenzziehung zwischen Psychotherapie und einem sozialpädagogischen Zugang. Eine Vernetzung und die Diversität unterschiedlicher Sicht- und Arbeitsweisen sind vor allem im Bereich der Therapie von Kindern und Jugendlichen sinnvoll und notwendig. Die Autor*innen zeigen die Möglichkeiten einer system- und strukturorientierten Herangehensweise auf und konkretisieren dies an einer Fallvorstellung.

Chancen zur Öffnung und Integration der Gemeindepsychiatrie im neuen Fach Psychotherapie beleuchtet Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAchim Dochat in seinem Artikel über die Versorgung schwer psychisch Erkrankter, die bislang kaum Zugang zu einer regulären Psychotherapie fanden. Im gemeinsamen Bundesausschuss wurde dieses Problem zwar in die aktuelle Gesetzesreform aufgenommen. Ob die gestellten Weichen jedoch ausreichen, diskutiert der Autor kenntnisreich, wobei er die gegenseitigen Berührungsängste von Psychotherapie und Gemeindepsychiatrie aufzeigt.

Im letzten Text wird von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterCornelia Caspari exemplarisch und pointiert die Verschränkung von Psychotherapie- und Ausbildungsreform mit der Berufsbiographie einer Psychologin dargestellt. Diese zeigt auf, dass Gesetzesvorgaben unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeit und das Leben von Psycholog*innen haben und als (politisch motiviertes) Stellwerk Tatsachen für die psychosoziale Versorgungslandschaft schaffen. Im Text werden gemeindepsychologische Perspektiven auf Psychotherapie und Modelle einer psychosozialen Integration diskutiert. Die Autorin konstatiert, dass die aktuelle Reform zwar eine Tür für eine professionalisierte Psychotherapieausbildung aufstößt, zugleich aber auch Türen zu einer diversifizierteren Umsetzung schließt.

 

Cornelia Caspari
Herausgeberin für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie

 



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