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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 27 (2022), Ausgabe 1]

Handlungsbefähigung – Beiträge zu einem wegweisenden gemeindepsychologischen Konzept anlässlich des 70. Geburtstages von Florian Straus

 

Im Zentrum der vorliegenden Ausgabe steht – auf den ersten Blick – kein „brennendes“ Thema, sondern ein gemeindepsychologisch fundiertes Konzept, dessen vielfältige Anschlusspotenziale in den hier versammelten Beiträgen exemplarisch beschrieben werden. Die Anwendung des Konzepts der Handlungsbefähigung in den unterschiedlichen Praxisfeldern ermöglicht nicht nur ein vertieftes Verstehen sozialer und psychologischer Phänomene, sondern eröffnet auch Wege zu Unterstützungsformen für gefährdete, marginalisierte oder benachteiligte Bevölkerungsgruppen, die defizitorientierte „Fürsorgekonzepte“ deutlich konterkarieren. Insofern führt die Umsetzung der Idee der Handlungsbefähigung in der Praxis, so wie sie in den Beiträgen dieser Ausgabe beschrieben wird, doch zu sehr „brennenden“ Themen.

Diese Ausgabe des Forum Gemeindepsychologie ist Florian Straus anlässlich seines 70. Geburtstags gewidmet. Er hat das Konzept der Handlungsbefähigung gemeinsam mit seiner Frau Renate Höfer unter Bezugnahme auf zentrale gemeindepsychologische Überlegungen und Konzepte immer weiterentwickelt, sich insbesondere um dessen Anwendung in der Praxis bemüht und die empirische Fundierung und Operationalisierung des Konzepts stetig vorangetrieben. Diese Prozesse sind weiterhin „on the way“. Als Paradebeispiel einer zukunftsweisenden Integration von Theorie, Empirie und Praxis stellen die Arbeiten von Florian Straus und Renate Höfer unverzichtbare Referenzpunkte zumindest im deutschen gemeindepsychologischen Diskurs dar.

Im einleitenden Artikel verbindet Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterHeiner Keupp vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit Florian Straus und Renate Höfer die vielfältigen Fäden, aus denen das Konzept der Handlungsbefähigung „gestrickt“ ist, zu einem ideengeschichtlichen Gesamtkunstwerk, in dem nicht nur zentrale Entwicklungslinien der Gemeindepsychologie deutlich werden, sondern auch der Theorierahmen der Handlungsbefähigung erkennbar wird. In seiner Skizzierung wesentlicher Meilensteine seiner Zusammenarbeit mit Straus und Höfer (z.B. im Bereich der Gesundheits- oder Identitätsforschung) lässt Keupp erkennen, dass das Konzept der Handlungsbefähigung den Anspruch auf jene theoretische und empirische „Subjekt-Struktur-Koppelung“ erfüllt, „die das Markenzeichen der reflexiven Sozialpsychologie und der Gemeindepsychologie ausmacht“.

Der Beitrag von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterUlrike Mraß, Melike Pusti, Wolfgang Sierwald und Kathrin Weinhandl befasst sich mit dem Verlauf der Handlungsbefähigung über einen längeren Zeitraum im Rahmen einer Längsschnittstudie im Jugendhilfekontext. Anhand quantitativer und qualitativer Befunde zum Leben von stationär betreuten Jugendlichen und Care Leaver:innen wird die Entwicklung der Handlungsbefähigung gezeigt und Wirkfaktoren auf die Bewältigung der herausfordernden Lebensumstände der jungen Menschen ausgemacht. Eine vertiefende Fallanalyse gibt zudem Einblick in das sechsdimensionale Konzept der Handlungsbefähigung.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterLuise Behringer zeigt anhand von Forschungsbeispielen den Zusammenhang von Erzählen, Identitätskonstruktionen und Kohärenz auf. Dabei spannt sie den Bogen von verschiedenen beruflichen Kontexten über Folgen von Gewalterfahrungen und traumatischen Erlebnissen bis hin zu gesellschaftlichen Traumata durch koloniale Herrschaft. Narrationen erscheinen als individuelle und kulturelle Selbstvergewisserung und können, wie Behringer zeigt, auch heilend wirken.

Im Verlaufe der seit über zehn Jahren realisierten Forschungen zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in pädagogischen Institutionen wurden im IPP bislang mehrere hundert Interviews mit Betroffenen geführt, die über Folgen der ihnen zugefügten Gewalt und entsprechende Bewältigungsversuche Auskunft gaben. In den Analysen dieser Interviews zeigte sich, dass die Komplexität von Gewaltfolgen nicht allein mit klinischen Konzepten beschreibbar sind, sondern als biografische Belastungs-Bewältigungs-Dialektiken gefasst werden müssen. Bezugnehmend auf aktuelle empirische Arbeiten zeigt Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterPeter Caspari, dass das Konzept der Handlungsbefähigung eine sehr praxisrelevante Heuristik zum Verständnis von Risikofaktoren und Bewältigungsverläufen nach sexualisierter Gewalt darzustellen scheint.

Ausgehend von der Erschütterung der Normalitätskonstruktionen in einer krisenhaften gesellschaftlichen Realität fragt Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterHelga Dill in ihrem Beitrag nach den Folgen für die Altersbilder und das Leben im Alter. Altern wird zu einem individuellen und gesellschaftlichen Risiko, nicht zuletzt auch durch demografische Veränderungsprozesse. Der „wohlverdiente Ruhestand“ wird abgelöst von verlängerter Lebensarbeitszeit und flexiblen Arbeitsformen bis ins höhere Alter. Der Erhalt von personalen Ressourcen erhält einen Stellenwert bis ins hohe Alter, kann aber nicht ohne die sozialen und materiellen Ressourcen gedacht werden.

 

Peter Caspari, Helga Dill & Kathrin Weinhandl

Herausgeber:innen für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie

 



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