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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 28 (2023), Ausgabe 1]

Gemeinschaftliche Resilienz in Zeiten der Pandemie

Themenheft Forum Gemeindepsychologie zu den Konsequenzen der COVID-19 Pandemie aus dem Blickwinkel der Gemeindepsychologie

 

Einführung und Übersicht über das Heft

Die COVID-19-Pandemie ist eine historische Krise für die Menschheit, die alle Gesellschaftsformen und soziale Gemeinschaften unseres gesamten Planeten betrifft. In unserer westeuropäisch geprägten Gesellschaft wirkt sie sich – wie in anderen Regionen – auf verschiedene vulnerable Gruppen aus; verdeutlicht aber besonders Schwächen unserer sozialen Systeme, die vorher nicht so deutlich hervortraten oder gerne übersehen wurden.

Diese Pandemie ist kein isoliertes Ereignis – sie ist verbunden mit einer Reihe von verwandten globalen Krisen und ihren Konsequenzen: dem Klimawandel, den Auswirkungen ungebremsten wirtschaftlichen Wachstums und industrieller Landwirtschaft sowie der zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit und – daraus direkt und indirekt resultierend – Armut, Rassismus und geschlechtsspezifische Gewalt. Seit Februar 2022 – einem brutalen Krieg in Europa! Obwohl auf den ersten Blick mit unterschiedlichen Themen und Ursachen, haben die genannten Krisen eines gemeinsam: Sie sind alle menschengemacht und haben regionale und globale Auswirkungen.

Insofern war und ist die COVID-19-Pandemie ein erster Augenöffner, der uns die Stärken und Schwächen unserer sozialen Gemeinschaften und gesellschaftlichen Institutionen (Kinderbetreuung, Bildung, soziale Einrichtungen) vor Augen führt. Trotz des vielfältigen individuellen und sozialen Leids können wir, auch wenn die Analysen der Schwächen und Stärken unserer Gesellschaft noch nicht abgeschlossen sind, auch jetzt bereits einiges aus dieser Erfahrung lernen.

Gemeinschaften auf der ganzen Welt leiden unter den Folgen dieser Krisen, (re)agieren aber auch vielfältig kreativ und solidarisch, um diese Krisen zu bewältigen. Jenseits politischer und administrativer Strategien und Pläne sind die Resilienz von Gemeinschaften und die kreativen Wege, wie Gemeinschaften mit Krisen umgehen, Teil einer gesellschaftlichen und psychosozialen DNA, die benötigt wird, um auch zukünftig globale Krisen als soziale Gemeinschaft und als Gesellschaft zu lösen. Einige besondere Initiativen werden international in der New Bank for Community Ideas als Gedächtnis unseres ‚sense of community‘ gesammelt.

Mit diesem Themenheft beleuchten wir die durch die COVID-19-Pandemie in der gesellschaftlichen Praxis deutlich gewordenen Schwächen und Stärken gemeinschaftlicher Resilienz genauer. Wir wollen analysieren und verstehen, wie unterschiedliche psychosoziale Bereiche unserer Gesellschaft von der Pandemie – als Beispiel für andere gesellschaftliche Krisen (siehe oben) – betroffen werden, und wie sie mit einer alle Lebensbereiche umfassenden gesundheitlichen und sozialen Krise umgehen. Was können wir aus den Erfahrungen lernen für weitere globale Krisen mit gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen (Klimawandel, Energiekrise, bewaffnete Konflikte und Krieg, soziale Ungleichheit, Rassismus)?

Wir baten um Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven, seien es Berichte über Ideen und Lösungen von Gemeinschaften, aus der beruflichen Praxis, akademische Forschungsstudien oder konzeptionelle Arbeiten.

Eingereicht wurden Beiträge und Studien zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie hinsichtlich sozialer Ungleichheit (Alf Trojan; Suzanne Wilson et al.) und aus verschiedenen Lebensbereichen von Gruppen, die besonders von infektionsbezogenen politischen Maßnahmen und ihren sozialen Auswirkungen betroffen waren: Alleinerziehende (Miriam Knörnschild et al.), Kindertagesstätten (Klaus Bremen), stationäre Jugendarbeit (Florian Straus et al.) und Hochschulbildung (Laurette Rasch et al.). Eingerahmt werden diese sechs Berichte und Studien durch die einleitende wissenschaftliche Ortsbestimmung gemeinschaftlicher Resilienz von Bernd Röhrle, und den abschließenden und ausblickenden Beitrag von Wolfgang Stark, der – in Ergänzung zu den bisherigen Analysen – eine konzeptionell neue Rahmensetzung für den Ansatz gemeinschaftlicher Resilienz anbietet.

Der Beitrag von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterBernd Röhrle eröffnet die Debatte zu der Frage, wie Gemeinschaften mit (globalen) Krisen umgehen, und ist ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung der psychologischen Sicht auf gemeinschaftliche Resilienz. Bisherige Studien zu ‚Resilienz‘ hatten sich weitgehend auf die individuellen Fähigkeiten, aus widrigen Lebensereignissen und Rahmenbedingungen unbeschadet oder gestärkt hervorzugehen (= Resilienz), fokussiert. Bernd Röhrles Metaanalyse ist die erste ihrer Art im deutschsprachigen Raum, die systematisch bekannte empirische Studien zum Thema erschließt und deren Ergebnisse für eine konzeptionelle Bestimmung gemeinschaftlicher Resilienz bewertet. Seine Meta-Analyse schließt direkt an die wichtigen Studien des von ihm mit herausgegeben Sonderhefts des ‚European Psychologist‘ (Gale & Röhrle, 2021) an.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAlf Trojan betrachtet anhand einer beachtenswerten methodischen Herangehensweise die Auswirkungen und Folgen der globalen Pandemie unter dem Brennglas sozialer Ungleichheit. Er nutzt die in Deutschland in manchen Städten recht gut ausgebaute öffentliche Gesundheitsberichterstattung (GBE), um deutlich zu machen, dass die infektionspolitischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und die Folgen der Pandemie sich stärker in sozial schwächeren Milieus und Nachbarschaften auswirken. Seine Analyse der Strategien in sieben bundesdeutschen Städten folgt der Frage: `Welches sind die wichtigsten Bausteine für eine Resilienz-Strategie und von welchen Städten können wir etwas lernen?‘

Die Gruppe um Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterSuzanne Wilson aus dem Norden des Vereinigten Königreichs beschäftigt sich ebenfalls mit der Frage, wie sich COVID-19 und die entsprechenden Maßnahmen auf sozial schwächere Milieus auswirken. Gespräche und Fallstudien aus lokalen gemeinschaftlichen Initiativen und Selbsthilfegruppen sind die Grundlage für die Untersuchungsfrage, wie sich gegenseitige Hilfe als soziales Kapital in Krisen dieser Art auswirkt. Die Autor:innengruppe verdeutlicht die Bedeutung des Gefühls der Zusammengehörigkeit durch gegenseitige Hilfe und gemeinsame Aktivitäten, die in gemeinschaftlichen Krisen wie die Grundlage eines sozialen Kapitals wirkt und der Ausgrenzung gerade sozial schwächerer Gruppen und Milieus vorbeugen kann.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterFlorian Straus, Kathrin Weinhandl, Ulrike Mraß und Melike Pusti zeigen in ihrer Studie über stationäre Jugendhilfeeinrichtungen in der Pandemie in ähnlicher Weise wie Wilson et al, dass die negativen Auswirkungen und Einschränkungen durch ein verstärktes Gemeinschaftsgefühl in den untersuchten Einrichtungen abgepuffert werden können. Gleichzeitig zeigen die hier referierten Studien deutlich, welche wichtigen Entwicklungsschritte für Jugendlichen in stationären Einrichtungen verloren gehen, und welcher Unterstützungsbedarf daraus abzuleiten ist.  Dieser Beitrag – mit seinen differenzierten und ambivalenten Befunden - zeigt eindrücklich, wie wichtig es ist, jenseits öffentlichkeitswirksamer verallgemeinernder Schlagzeilen – genauer und längerfristig zu analysieren, um die Chancen und Gefahren globaler Krisen für Gruppen in besonderen Situationen einschätzen und daraus für die Zukunft lernen zu können.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterMiriam Knörnschild, Sabine Rickensdorf und Raimund Geene analysieren, wie die im Rahmen der COVID-19-Pandemie ausgeführten gesundheits- und sozialpolitischen Maßnahmen (insbesondere die Schließung und Einschränkung öffentlicher Kinderbetreuung für Alleinerziehende – in Deutschland eine sehr diverse, sozialpolitisch meist vergessene und sozial oft benachteiligte Gruppe) eine ohnehin schon prekäre familiäre und ökonomische Lage verschärfen. Die Auswertung qualitativer Interviews aus einem Berliner Stadtbezirk zeigt, wie sehr sich die ohnehin schon fragile soziale und ökonomische Alltagsorganisation für Alleinerziehende verschärft hat und welcher Unterstützungsbedarf (etwa durch familiäre Gesundheitsförderung) benötigt wird, um sich für weitere gesundheitliche, soziale und gesellschaftliche Krisen zu wappnen.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterKlaus Bremen zeigt anhand der COVID-19-Pandemie die Schwachstellen unseres Systems der Kleinkinderbetreuung auf: In einer marktkapitalistischen Gesellschaft, die wie selbstverständlich davon ausgeht, dass Familienarbeit und -leben und Kindererziehung wirtschaftlichen Anforderungen der Berufsarbeit untergeordnet ist, aber die Infrastruktur für die notwendige Kinderbetreuung – eine der Voraussetzungen zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen – nur ‚en passant‘ eher für krisenfreie Zeiten entwickelt ist, treffen die Folgen hygiene-politischer Maßnahmen die Aufrechterhaltung einer qualitätsvollen Kinderbetreuung besonders hart, weil vorher bereits bekannte, aber immer gut kaschierbare Schwachstellen wieder – und diesmal unwiderruflich – ans Licht treten. Klaus Bremen nennt diese Erfahrungen aus der Sicht der Trägerstrukturen ‚ein Vorbeben‘, dessen Auswirkungen bereits erahnen lassen, welche Herausforderungen auf die Systeme der Kinderbetreuung zukommen, und wie diese im Sinne der nachhaltigen Förderung von Kindern, Familien und Beschäftigten grundlegend reformiert werden müssten.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterLaurette Rasch, Raimund Geene und Olaf Neumann von der Alice-Salomon-Hochschule Berlin (ASH) beschreiben, wie die ASH – ausgelöst durch die COVID-19 bedingten Notfallpläne und damit einhergehenden Einschränkungen – sich auf den Weg zur Entwicklung einer Hochschule als ‚resiliente Gemeinschaft‘ macht. Sie beziehen sich dabei – auch für eine SAGE-Hochschule eher ungewöhnlich und beeindruckend – explizit auf gemeindepsychologische und systemtheoretische Konzepte gemeinschaftlicher Resilienz und verlassen den sonst in Deutschland so selbstverständlich eingeübten verwaltungstechnischen Weg. Die resilienten Organisationsstrukturen sind dabei auf drei Prinzipien (praktischer Infektionsschutz – Sozialer Zusammenhalt und Kommunikation – Digitalität) aufgebaut.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterWolfgang Stark greift in seinem abschließenden Beitrag einige der Schlussfolgerungen zu gemeinschaftlicher Resilienz aus den hier vorliegenden Beiträgen auf. Er plädiert dafür, dass eine Stärkung gemeinschaftlicher Resilienz in einer zu erwartenden Phase der Ungewissheit und Ambiguität, die durch multiple global wirkende Krisen verstärkt werden wird, mehr als professionelle Konzepte und Maßnahmen oder gesundheits- und sozialpolitische Ansätze benötigt. Ausgehend von seiner Analyse, dass rationale Planung und ein administrativ-professionelles „weiter so, aber mehr…!“ für Zeiten erwartbarer und unerwartbarer Krisen nicht ausreichen, plädiert er dafür, die vielfach zu beobachtende kreative Nutzung gemeinschaftlichen impliziten Wissens neben professionellen sozialstaatlichen Reaktionen stärker zu beachten und zu nutzen. Die Fähigkeit, in der Zivilgesellschaft Erfolgsmuster zum Umgang mit Krisen zu erkennen und das oft schon vorhandene improvisatorische Können zu perfektionieren, ist eine wichtige Grundlage, um aktuellen und kommenden Krisen aktiv zu begegnen.

Wir freuen uns sehr, dass – als Beispiel für eine besonders gelungene praktische Initiative zur Stärkung gemeinschaftlicher Resilienz – Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterMiriam Freudenberger und Nils Renkes von der Allianz für Beteiligung e.V. bereit waren, die Quintessenz und Schätze aus der von ihnen herausgegeben Broschüre ‚Krisen gemeinsam gestalten: Erfahrungen, Vorschläge und Praxisbeispiele aus der Zivilgesellschaft‘ (https://allianz-fuer-beteiligung.de/beteiligung-aktuell/forum-zivilgesellschaft/) für unser Themenheft herauszuheben. Diese Broschüre soll als Inspiration dafür dienen, wie zivilgesellschaftliche Ideen und Ansätze für aktuelle und zukünftige Krisenbewältigungen genutzt werden können und welcher Reichtum in gemeinschaftlicher Resilienz liegt.

Die in diesem Heft dankenswerterweise versammelten Beiträge sind sehr wichtig dafür, den Standort gemeindepsychologischer Forschung und Praxis in globalen Krisen neu zu bestimmen, und Stärken und Schwachstellen unserer Zivilgesellschaft und unserer sozialstaatlichen Maßnahmen unter die Lupe zu nehmen, um aus der globalen Pandemie zu lernen und für weitere globale Krisen gerüstet zu sein. Die eigentlich bedeutsame Arbeit jedoch besteht darin, die Lehren aus dieser unerwarteten Krise zu bündeln und in konkrete Schritte umzusetzen, und dabei auch bislang gut wirkende und alt-eingeübte Strategien zu hinterfragen und neu zu orientieren. Die Pandemie hat sowohl Schwachstellen und Lücken gezeigt, aber auch neue und unerwartete Potentiale gehoben. Die Verantwortung für eine ‚neue gesellschaftliche Normalität‘ gebietet es uns, diese neuen Potentiale gezielt zu nutzen und damit auch bestehende Strukturen zu transformieren. Schwer genug!

 

Wolfgang Stark
Herausgeber für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie

  

Literatur

 

Gale, N. & Röhrle, B. (eds.) (2021). Special Issue: Psychology, Global Threats, Social Challenge, and the COVID-19 Pandemic: European Perspectives; European Psychologist, 26 (4).

 



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